Damals war's! Ein Rückblick zum 20. von NAILBOMB - "Point Blank"

02.04.2014 | 13:37

Kaum wurde die Band richtig wahrgenommen, da war sie auch schon wieder von der Bildfläche verschwunden. Und doch haben Max Cavalera und Alex Newport mit ihren Mitstreitern ein Monument der harten, wütenden Gitarrenmusik hinterlassen, das auch nach 20 Jahren nullkommanichts von seiner faszinierend intensiven Wirkung verloren hat und das textlich auch ein Abbild der heutigen Zeit sein könnte. Am 8. März 1994 erschien die Scheibe "Point Blank" von NAILBOMB. Zeit für eine persönliche Rückschau zweier POWERMETAL.de-Redakteure, in deren musikalischer Sozialisation dieses Album eine nicht unbedeutende Rolle gespielt hat.

Es war 1995 – der Erstkontakt mit NAILBOMB. Auf MTV lief im "Headbangers Ball" ein Special zum Dynamo Open Air in Eindhoven (mit unglaublichen 120.000 Besuchern) - mit der kultigen Idee, die zwischen den Konzertausschnitten eingestreuten Interviews nicht in ewig gleichem Stil von den Moderatoren, sondern von einer Band selbst - in dem Fall den äußerst unterhaltsamen Jungs von BIOHAZARD - führen zu lassen. Das war manchmal etwas holprig, aber vor allem ziemlich lustig. Diese Sendung war eine Offenbarung und wurde - auf Kassette mitgeschnitten - noch unzählige Male angehört, bis selbst die Interviews bis auf das letzte Wort mitgesprochen werden konnten. Kein Wunder, bei solch einem großartigen Billing mit MACHINE HEAD, PARADISE LOST, FEAR FACTORY, GRIP INC.,TYPE O NEGATIVE, TIAMAT, KORN, WARRIOR SOUL u.v.m.

Jedenfalls war eine der auftretenden Bands auf diesem Dynamo Open Air NAILBOMB - damals schon allein dadurch interessant, dass bei denen ein gewisser Max Cavalera den Shouter gab. SEPULTURA war Anfang der Neunziger zu einer großen Nummer mutiert und die beiden Scheiben aus dieser Ära - "Arise" und "Chaos A.D." - schlugen nicht nur bei mir ein wie eine Bombe. Glücklicherweise brauchte Max Cavalera offenbar zu der Zeit nach SEPULTURA-Werken etwas Abwechslung, und so kam nach der "Chaos A.D." das NAILBOMB-Ding (der Umbruch nach "Roots" ist ja hinlänglich bekannt). Doch auch ein Teil der restlichen SEPULTURA-Mannschaft (Andreas Kisser, Igor Cavalera) war auf "Point Blank" an einigen Songs beteiligt, dazu kam bei einem Stück Dino Cazares von FEAR FACTORY. Und eben Alex Newport. Er war neben Seppl-Maxe der zweite Mastermind bei NAILBOMB, teilte sich mit ihm Gesang und Klampfenarbeit sowie die Produktion der Scheibe. Seine Hauptband waren die tollen und unterbewerteten Sludger von FUDGE TUNNEL (den Song 'Grey' habe ich damals geliebt), deren rohes und intensives Midtempo-Gebratze er auch gut bei NAILBOMB einbringen konnte.

Doch zurück zum Dynamo Open Air 1995. Der NAILBOMB-Song von diesem Gig, der beim "Headbangers Ball" zum Besten gegeben wurde, war 'World Of Shit'. Ganz großes Kino. Aggressiv und mit einer schön griffigen Aussage. Das Mainriff haute mich damals um. Auch heute noch, natürlich bedingt durch die Prägung in dieser Zeit, wäre 'World Of Shit' in einer Liste der 20 besten Headbang- oder Mosh-Riffs aller Zeiten wohl gesetzt (neben ewig jungen Granaten wie 'Inner Self', 'Davidian' oder auch 'Suffer The Children'). Allerdings muss ich durchaus zugeben, dass die Liveversion aus Eindhoven deutlich mehr Punch hat als die Studioversion auf "Point Blank".

Das Dynamo Open Air bildete dann auch schon den Abschluss der "Karriere" von NAILBOMB. Von diesem Gig wurde das Livealbum/-video "Proud To Commit Commercial Suicide" veröffentlicht, damit war der Zweck dieses Projekts offenbar erreicht, nämlich lediglich eine Studio- und anschließend eine Livescheibe rauszuhauen. Einerseits schade, andererseits konsequent, da mit diesem Vorhaben von Vornherein an die Sache rangegangen wurde. Keine Gefahr also, mit späteren lauen Aufgüssen das Werk zu "entwerten".

Das Album ist ein Ritt durch Thrash Metal, Industrial und Hardcore - also Crossover im besten Sinne. Es wurden Samples und Keybordklänge in den Sound eingebaut, was zwar seitens der Kritiker nicht uneingeschränkt auf Gegenliebe stieß, aber zu der Zeit durchaus noch als originell gelten durfte. Rhys Fulber bearbeitete dazu bei den Livegigs in amüsanter Weise mit gekrümmter Körperhaltung und leichtem Tänzelschritt sein Keyboard - was man sich auf der Live-DVD vom Dynamo-Gig oder auf Youtube-Videos heute noch zu Gemüte führen kann. Mir persönlich gefällt diese Melange aus Industrial, Hardcore und Thrash Metal außerordentlich gut, da mir insbesondere Hardcore- und Industrial-Scheiben häufig zu eintönig rüberkommen und dadurch schnell langweilen. Zwar können beispielsweise auch Truppen wie HATEBREED, MINISTRY, FEAR FACTORY, CROWBAR und PRO-PAIN meine Geschmacksnerven kitzeln, aber solch ein Bastard wie NAILBOMB ist noch mal eine Kategorie für sich. Da strahlt jedes Midtemporiff und sogar ein einfacher, überbrückender Drumbeat diese unbändige Aggressivität und "Piss off"-Attitüde aus. Simpel, aber ungemein wirkungsvoll. Und natürlich trieft neben dem kalten Industrial-Touch und der hardcorigen Ruppigkeit SEPULTURA aus vielen Poren der "Point Blank" - und das während der Phase, als diese Band sich auf dem Zenit ihres Schaffens befand. Dies liegt auch nicht nur an Max' Vocals, auch im Gitarrenbereich werden Parallelen mehr als deutlich. Zuletzt passt auch das Cover mit dem verstörenden Motiv aus dem Vietnamkrieg wortwörtlich ins Bild eines durchaus politischen Albums, denn eine kritische, in sehr deutliche Worte gepackte Message bekommt man hier frei Haus geliefert.

"Point Blank" ist sicherlich keine Aneinanderreihung großartigster Gassenhauer, aber in dieser Konstellation und zu dieser Zeit war das eine sehr feine Sache. Und wenn das Album dann noch als Dosenöffner zu den verschiedenen Spielarten harter Musik fungiert, wie es bei mir, der eigentlich nur Thrash zwischen METALLICA, MEGADETH und eben SEPULTURA näher kannte, der Fall war, dann verbietet sich auch nach 20 Jahren jegliche Relevanzdiskussion. I like. Punkt.

[Stephan Voigtländer]

 

Ich habe mit meinem Sohn eine Vereinbarung. Alle meine CDs sind frei verfügbar für ihn. Sie stehen und liegen, gammeln und stauben überall im Heim herum. Er hat freie Verfügungsgewalt. Soll fragen, wenn er was komisch findet oder nicht von selbst ableiten kann. Ich habe bisher nichts zu verbergen und möchte ihn sehr schnell in die "richtige" Richtung Musik und Einstellung drängen. Äh, leiten. Äh... äh... begleiten. Mit MONSTER MAGNET und den BEATSTEAKS hat das schon mal geklappt. Dauerrotation und Mitsingen. Angefangen habe ich mit Krautrock zum Einschlafen, da saß der noch nicht einmal. Gut, der perfide Druck des 'Gangnam Style' ist einfach zu groß, LYKKE LI's 'I Follow Rivers' zu perfekt und eingängig entworfen. WILL PHARELL's "Get Lucky" kann ich auch nicht ausschließen. Will ich auch gar nicht.

Aber eines ist mir auch heute wieder aufgefallen: Das Cover zu "Point Blank" tue ich ihm auch heute noch nicht an. Das drückende Sturmgewehr, das den leersten Blick der Musikgeschichte auf einem Plattencover hervorgerufen hat. Vielleicht später einmal, wenn er meine archaischen CDs durchwühlt, wird das Album ihm in die Hände fallen. Dann hoffe ich, dass ihn das verstören wird. Für mich mit 17 Lebensjahren waren ja die schwarzweißen Bildgeschichten, Mittelfinger, Studiofotos ganz normal: auffällig anders, schnellstens entschlüsselbar und aufregend. Mitten im Erwachsenwerden: Volle Zustimmung zum Angepisstsein, das aus jedem Ton dieses Albums krächzt. Orientierung suchen und finden bei den aufregendsten Muckern dieser westlichen Welt 1994. Die Cavaleras gehörten dazu und auch die Figuren, die den Industrial Metal gerade perfektionierten: MINISTRY, TREPONEM PAL, FEAR FACTORY oder eben FUDGE TUNNEL.

Heute schütze ich Kinder vor diesen Bildern. So gut es geht. Vor der Musik aber nicht. Weil sie von innen kommt und persönlich ist. Wenn die Nachgeborenen dann mal irgendwann das Vermögen und das Interesse an den Inhalten haben - bitteschön. Aber ich schütze schon jetzt niemanden vor diesem hervorragenden Geriffe in 'For Fuck's Sake', 'World Of Shit', 'Religious Cancer' oder dem für mich stärksten Song der Platte 'Cockroaches'.

Auch heute noch ist meine Vorfreude auf die "Sieben", eben diesen übersteuerten Mitteltempo-Sludge, unübertroffen. Auch heute gebe ich mir die Platte von Anfang bis zum Ende. Diese Lust auf den halbfertig klingenden, knapp entworfenen, perspektivlosen Sound, der trotzdem so aktuell globalisierungskritisch und hardcorig klingt. Schon 1994 wird dort in den Danksagungen nämlich das MARS - das Netzwerk "Musicians Against Racism and Sexism" - explizit genannt. Solche konkreten Aussagen und Normalitäten vermisse ich heute in so manchen der so genannten Credits.

Eine Konsequenz à la NAILBOMB haben in meinen Ohren bisher nur wenige Musiker oder Projekte so ehrlich und drückend hinbekommen. Ein Album, ein Auftritt, eine Botschaft - fertig.

Um es kurz zusammenzufassen: "Point Blank" ist für mich immer das perfekte Stück Hartgitarrenmusik geblieben: auf den Punkt gespielt, wütend und unangepasst. In der Umsetzung genau so, wie es der Zusammenfluss sämtlicher Stile des Metals oder Core hergibt. Sperrig, melodisch und voller gekeifter kurzer Botschaften. Keine Show, keine Schminke, keine konstruierte Geschichte drumherum. Und immer noch aktueller denn je: Denn gefühlt hat die Kriegstreiberscheiße sogar noch zugenommen, ist perfider geworden. Heute kommt sie noch perfekter getarnt und beredet daher und es scheint, dass Gewalt - ob politisch, als "alternativlos" dargestellt oder gegen Kinder und Andersdenkende - noch "normaler" geworden ist. Die "Gemeinschaft" hat es ja nicht mal geschafft, Nagelbomben international weitflächig zu verbieten. So bleibt NAILBOMB mehrdeutig und ist traurige Aktualität geblieben.

[Mathias Freiesleben]

Redakteur:
Stephan Voigtländer

Login

Neu registrieren