Gruppentherapie: SÓLSTAFIR - "Ótta"

07.09.2014 | 21:47

Eine der Bands der Stunde wird auch bei uns Soundchecksieger. Die Therapeuten ergründen, was an SÓLSTAFIR so faszinierend ist.

Eine frische Brise weht durch das unberührte Land, alles ist so friedlich, so vollkommen frisch. Es ist die Ruhe vor dem Sturm, bevor also einzelne Regenwolken aufziehen und dieses Fleckchen Erde kraftvoll bewässern. Und dennoch bleibst du stehen, du horchst, du schaust und obwohl du pitschnass wirst, genießt du die friedvolle Einsamkeit, wie sie dir nur eine Insel wie Island schenken kann. Hier findet alles seinen Ursprung, eine leichte Magie liegt in der Luft und kitzelt acht größtenteils gelungene Hörproben hervor, die abwechslungsreicher wohl nicht sein können. Und nachdem die letzten Töne von sich gegeben wurden, stehst du wie zu Beginn angewurzelt an deinem Platz. Doch irgendetwas hat sich verändert. Du bist mit dir und der Welt im Reinen, hast deinen inneren Frieden gefunden. Die Zeit spielt dabei paradoxerweise keine Rolle, denn sie scheint sich in den vergangenen Minuten eine kleine Pause gegönnt zu haben. Mit einem kleinen Lächeln auf den Lippen verlässt du nun deinen Platz, kehrst ins Dorf zurück und berichtest über die Geschehnisse. Über Musik, die fasziniert, etwas Besonderes in sich trägt und mitreißt, obwohl sie dir ansatzweise sogar nicht zusagt, du wenig mit ihr anfangen kannst, sie dennoch etwas in dir auslöst. Über Songs, die dich zumindest stellenweise vor Ehrfurcht beinahe erstarren lassen und eine neue Fusion aus Artrock, Natur und isländischem Charme bilden. Über eine Band, die so mysteriös und spannend ist wie die Insel, von der sie stammt. Und über ein Album, das wie das Paradebeispiel eines Rohdiamanten wirkt, obgleich es unheimlich viel Zeit und Geduld braucht. Freunde, was soll ich euch denn großartig über "Ótta" berichten? Habe ich nicht schon alles gesagt?

Note: 8,0/10
[Marcel Rapp]

SÓLSTAFIR zählt neben ULVER, CULT OF LUNA und weiteren illustren Künstlerkollektiven Skandinaviens zu den ganz Großen in meinem persönlichen "Paralleluniversum Musik". Ein hinkender Vergleich, wenn man denn einen anstellen möchte - aber nur auf den ersten Blick. Tatsächlich haben besagte Bands wenig miteinander zu tun. Rückt man aber von der stilistischen Ausrichtung und Darbietung ab, so treten Gemeinsamkeiten ans Licht, die sonst weit unter der Oberfläche zu finden sind. Das entscheidende Stichwort dabei ist: Sounddesign. Die Isländer werden niemals geniale Instrumentalisten - wollen sie sicherlich auch nicht. Genauso wenig wird man auf "Ótta" und künftigen Veröffentlichungen verschachtelte, verwinkelte und polyrhythmische Songstrukturen vorfinden. Das muss auch nicht sein. Denn die Qualitäten auf Album Nummer fünf liegen ganz klar in den Klanglandschaften, die das Quartett mit viel Liebe zum Detail ausgetüftelt und aufgenommen hat. Schichten von Gitarrenspuren, teils stark verhallt, teils nahezu effektfrei, ein paar Streicherarrangements weit aus der Ferne und - mittlerweile ein Markenzeichen der Band - das E-Bow, welches meines Erachtens viel zu wenige Bands nutzen oder verstehen, es richtig einzusetzen. Sänger/Gitarrist Aði aber vermag es, damit immer wieder Akzente zu setzen und für Gänsehautmomente zu sorgen. Um nicht zu weit auszuufern, komme ich schließlich noch zu dem einen Punkt, den ich in meiner Bewertung abziehen muss: Mir fehlt der Rotz, der auf "Svartir Sandar" noch peripher vorhanden war, aber Alben wie "Köld" und "Masterpiece Of Bitterness" zu Meisterwerken gemacht hat. Etwas mehr Rock'n'Roll, dann wäre die Zehn voll!

Note: 9,0/10
[Haris Durakovic]

Es ist eine mühsame Lovestory mit SÓLSTAFIR und mir. Oft habe ich mich bemüht, selbst der jüngste Verkuppelungsversuch meiner Redaktionskollegen auf dem Rock Hard Festival schlug fehl und ich hatte die Band bereits abgeschrieben. Doch dann kam "Ótta" und in mir wuchs die Sehnsucht nach einem Gefühl, das an sich nur skandinavische Bands extremer Gattung auszulösen vermögen: Fernweh. Der Wunsch, sich auch der brausenden Gischt am kalten Strand hinzugeben, der das Cover dieses Albums ziert. Genau das passierte mit mir im ersten Durchlauf von "Ótta", genauer gesagt in den ersten fünf Minuten des Openers 'Lagnaetti'. Klang die Band schon immer so gut? Waren die Gitarrenwände immer schon so sensationell erdrückend und die Musik unglaublich treibend? Wenn ja, dann habe ich SÓLSTAFIR jahrelang unrecht getan und sollte in naher Zukunft den älteren Teil der Diskographie an meine Lauscher lassen. Ermüdungserscheinungen haben sich nämlich mit "Ótta" noch nicht abgezeichnet, was bei dieser Art von Musik schnell geschehen kann. Eigenständigkeit und ein großartiges Gespür für Tempi- und Stimmungswechsel sind bei mir die neuen Sympathiegrundpfeiler, auf denen die Isländer und ich unsere Liebelei vorerst austragen werden. Wo früher "es ist kompliziert" stand, müsste jetzt "ist verliebt" stehen. Und wer weiß, vielleicht wird noch etwas Ernstes draus.

Note: 8,5/10
[Nils Macher]

Ich muss ja gar nicht lange um den heißen Brei herum reden: Ich habe ein grundsätzliches Problem mit Musik, wenn ich den dazu gehörigen Text nicht verstehe. Dass ich mir damit manchmal selbst im Weg stehe, ist mir durchaus bewusst und dass ich oftmals auch bei englischsprachigen Titeln nicht immer den genauen Inhalt beim Anhören aufnehme, ist ebenfalls korrekt, aber so ticke ich eben. Nun kommt das isländische Trüppchen SÓLSTAFIR
daher und will mich mit in der Muttersprache vorgetragenen Texten in eine weite Klangwelt entführen, die bei vielen aufgeschlossenen Menschen aktuell für kleine Begeisterungsstürme sorgt. Nach etlichen Durchläufen des Albums - sowohl unter'm Kopfhörer zuhause, als auch in freier Wildbahn - ist es der Band noch immer nicht gelungen, mich zu begeistern. Natürlich ist die Sprache ein Hindernis, aber auch die musikalische Umsetzung will bei mir weder träumerische Schwelgereien, noch euphorische Schmetterlingsgefühle auslösen. Die Gründe liegen unter anderem an einer gewissen Kratzbürstigkeit der Musik, einem teilweise zu hohen Schrammelfaktor, diversen langatmigen Passagen und einer Gesangstimme, die manchmal mehr zu einer angepissten Punkband passen würde als zu dieser Musik hier. Das ist schade, denn immer wieder merke ich, wie die Band sich langsam steigert, einzelne Musikschichten übereinander legt, nur um dann oftmals leider nicht in der erhofften Notenexplosion zu enden. Manchmal denke ich an CRIPPLED BLACK PHOENIX, die ich auch erst nach meinem ersten Live-Erlebnis so richtig toll fand, aber wo diese Band für mich, trotz der teils sehr ruhigen Musik, immer auf einem sehr hohen Spannungsniveau agiert, purzeln die Songs der Isländer schlussendlich gern mal in ein kleines Löchlein. Dass ich trotzdem eine verhältnismäßig hohe Note abgebe, ist darin begründet, dass der Umstand, wie oft ich das Album in den letzten Wochen immer wieder aufgelegt habe, beweist, dass es doch irgendeine Magie zu geben scheint, die sich mir bislang nur noch nicht offenbart hat.

Note: 7,0/10
[Holger Andrae]

Da jammert der Kerl immer über langatmige, ruhige Fahrstuhlmucke, wenn andere den neuesten Post-Rock-Hype bejubeln, und dann kommt er bei SÓLSTAFIR mit achteinhalb Zählern um die Ecke? Ja, die Kollegen haben schon ein schweres Los mit mir. Was macht das Album der Isländer denn nun so viel besser als all die anderen angesagten Scheiben, die mit instrumentalen Mäandern, an- und abschwellender Dynamik und mantrischer Rhythmik um die Ecke kommen und mich damit fast zu Tode langweilen? Nun, ganz einfach: Zum einen ist Aðalbjörn Tryggvason einer der entrücktesten, eigenständigsten und lässigsten Sänger, die ich mir vorstellen kann, und zum anderen finde ich, dass man bei SÓLSTAFIR nach wie vor hören und spüren kann, wo die Band herkommt. Sowohl musikalisch ist für mich noch genug von den stählernen Wurzeln zu spüren, die mir vorzeiten die Band so ans Herz wachsen ließen, und zum anderen spürt man auch die geographische Herkunft. Das Album ist durchzogen von einer stoischen Melancholie, die Marcel schon sehr schön in graubunte Bilder gefasst hat, und die ich in dieser Weise fast nur von isländischen Künstlern kenne. Die Musik spricht bei mir trotz des beachtlichen stilistischen Wandels noch immer die selben Sensoren an wie "Í Blóði og Anda" oder "Köld", ja, sogar die selben Punkte in der Seele wie die episch-schwarzmetallische EP "Til Valhallar", auch wenn das nur wenige nachvollziehen mögen, da "Ótta" ein sehr ruhiges, sehr mystisches, aber auch sehr schönes Album ist. Langer Rede, kurzer Sinn: Die Scheibe klingt für mich einfach genau so, wie Musik aus Island klingen muss, damit ich mir wünsche, mich an Bord eines Segelschiffs auf die lange Reise nach dorten zu begeben.

Note: 8,5/10
[Rüdiger Stehle]

Ja, den werten Kollegen kann ich hier nur Recht geben. Die Musik von SÓLSTAFIR ist eine, die Bildhaftigkeiten, Metaphern, Stimmungen, ganze Kosmen produziert. So weit, so fern, so innig und auch so verstörend. Ob es nun gleich ein arktische Wogen schneidendes Schiff voller Nordmänner ist, ein Flug zur Sonne oder dabei einfach ein sprudelnder Bach betrachtet wird - auch mit "Ótta" ist all das möglich. Den Einsatz dieser seltsam klingenden isländischen Sprache empfinde ich als unbedingt notwendiges Element der Entwürfe, das weite Ausholen, das Laufenlassen, das Schrägen, Wiegen, Fließen ist, was den vier Herren kaum jemand wegkopieren kann. Ich danke aber auch Holger, wenn er sagt, dass neben dieser schwer fassbaren Faszination der Gesang die Stücke teilweise zerschneidet, sie phasenweise gar beschädigt. Seine Beschreibung passt ganz genau, sie spricht mir aus der Seele. Ich würde es den hervorragenden Musikern nicht übel nehmen, wenn sie da hin und wieder eine Spur herunterfahren und es genügsamer und leiser angehen lassen. Schreibands haben wir doch genug im globalen Portfolio. Deshalb sagen mir die Passagen, in denen hier "gesungen" wird, am meisten zu. Davor sogar können sich die durchweg meisterlich atmosphärisch entworfenen Instrumentalpassagen postieren. Das Album ist wieder so ein Monolith, so ein Riese, nichts für nebenbei, nichts für Strand und Bahn. Mir persönlich sind auch die Piano-Stellen zu fordernd, zu vordergründig. Doch das alles ist Jammern auf hohem Niveau. Dieses Album ist eines des Jahres - aber so richtig kann ich auch nicht sagen, warum. Da gibt es keine marktschreierische Großoffensive, die Bescheidenheit der Band ist eine Wohltat. Daher klar, "Ótta" ist großartig. Und zugleich sehr anstrengend.

Note: 7,0/10
[Mathias Freiesleben]


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Review von Thomas Becker

Redakteur:
Thomas Becker

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