HÄMATOM: Interview mit Ost

31.03.2021 | 12:40

Mit "Berlin" hat HÄMATOM ein durch und durch besonderes Album im Gepäck, für dessen zügellose Ausrichtung nicht nur gänzlich neue Songs geschrieben wurden, sondern dieses reine Akustikalbum auch recht authentisch den verruchten Geist der 1920er Jahre ins Hier und Jetzt transportiert. Darum sprachen wir mit Ost, dem Gitarristen der Band, über die Idee, Umsetzung, jetzige Lage und das Besondere an "Berlin".

Hallo Ost! Wie geht es dir? Wie ist die Stimmung bei HÄMATOM?

Grundsätzlich ist die Stimmung ähnlich wie im Rest des Landes, im Rest der Welt. Wir sind alle tierisch genervt von der Krise. Von den Einschränkungen, die uns umgeben, von der Langeweile, die am Wochenende herrscht und insbesondere von der Perspektivlosigkeit, in der sich vor allem die Kunst und die Live-Branche gerade befinden. Ganz zu schweigen von dem Krisenmanagement der politischen Klasse, die gerade auf ganzer Linie versagt und nicht stabile Wähler in die Hände extremer Parteien treibt. Da sind wir gerade sehr froh, dass wir mit unseren Gedanken und Taten gerade tief im Release eines für uns ganz besonderen Albums stecken.

Auf jeden Fall. Seit "Maskenball" Ende August 2019 herauskam, hat sich für Musiker und Bands viel verändert. Fernab von Corona: Was ist in den letzten anderthalb Jahren bei HÄMATOM passiert? Könnt ihr mir ein kleines Update geben?

Mir fällt es schwer, die Frage fernab von Corona zu beantworten. Zu dominant wirken sich die letzten zwölf Monate auf die Kunst aus. Die Live-Shows, Haupteinnahme-Quelle für die meisten Künstler, sind nahezu komplett weggebrochen. Die CD-Verkäufe sind durch die Krise komplett im Keller. Was uns angeht, so hat uns Corona mit voller Breitseite erwischt. Gerade als wir am 29.02.2020 unsere erfolgreichste Tour starteten, wurden nach drei gespielten Shows alle Konzerte abgesagt. Nach einer kurzen Sinnkrise stürzten wir uns ins Netz, machten sofort ein Streaming-Konzert, brachten ein #FCKCRN Shirt raus, das weltweit Anklang fand. Wir haben auch mal ein Autokino-Konzert probiert und gehofft, dass man irgendwann wieder auf die Bühne gehen kann. Nichts da. Also haben wir wieder die Tour verschoben, zwei weitere Online-Konzerte gemacht und uns schließlich spontan dafür entschieden, unseren langersehnten Akustik-Album-Traum zu verwirklichen. In der Zwischenzeit mussten wir sogar die Tour absagen und fokussieren uns nun komplett auf "Berlin".

Karfreitag erscheint damit euer erstes Akustikalbum, für eine Rock- und Metalband etwas recht Außergewöhnliches. Könnt ihr mir verraten, wer die Idee zu diesem Unplugged-Abenteuer hatte und wie sie geboren wurde? Wie lange schwirrte sie schon in euren Köpfen?

Eine gefühlte Ewigkeit. Wir sind eine sehr experimentierfreudige Band, also stand ein Akustik-Album selbstredend schon seit Jahren auf der Agenda. Nur gab es dafür bisher weder den richtigen Zeitpunkt noch eine konkrete Idee für eine passende Umsetzung. Als wir schließlich Ende 2020 eine grobe Planung für dieses Jahr machten, war uns klar, dass man mindestens die erste Hälfte 2021 überbrücken muss und ein normales Album gerade einfach keinen Sinn macht. Also stürzten wir uns ins Brainstorming und schmiedeten ziemlich schnell das passende Korsett für ein HÄMATOM-Akustik-Album.

Nun habt ihr euch für "Berlin" als Titel dieser durch und durch besonderen Veröffentlichung entschieden. Worin genau liegen für euch der Reiz und das Interessante an unserer Hauptstadt? Welche Geschichte erzählt "Berlin" oder anders: Welcher konzeptionell rote Faden schlängelt sich durch das Album?

Unser Interesse gilt den 1920er Jahren Berlins, dieser goldenen Zeit, dem Aufbruch in eine neue Ära. Diesem dreckigen, verruchten Sündenpfuhl, in dem gefühlt alles erlaubt war. In dem du eine Woche lang durchtanzen konntest, Kokain in der Apotheke erhältlich war, dich die Menge mit Absinth ins Nirvana beförderte und die Hinterzimmer ihren Reiz entwickelten. Eine Zeit, die wie Arsch auf Eimer zu HÄMATOM passt und in der wir liebend gerne auf den Bühnen gestanden hätten.

Worin liegen für euch persönlich genau die Reize an den Goldenen Zwanzigern, an dieser Zeit? Was ist das Besondere, Elegante und Eindrucksvolle an dieser Zeit, an der ihr diesen Soundtrack angelehnt habt?

Wie gesagt, es ist zum einen der Reiz dieser kurz andauernden und verruchten Zeit, aber zum anderen auch die Parallelen, die es zu heute gibt. Ein Weltkrieg bleibt uns hoffentlich erstmal erspart, aber auch damals mussten die Menschen eine Pandemie mit Ausgangssperren und Quarantänen überstehen, die fast ein Viertel der europäischen Bevölkerung dahingerafft hat. Als dieses Grauen endlich vorbei war, war die Bevölkerung nicht zu bremsen. Sie stürzte sich ins Vergnügen. Ins Nachtleben. Maßlos, zügellos und hungrig nach Exzess. Ich will doch schwer hoffen, dass wir das in ein paar Monaten so ähnlich erleben werden.

Zehn neue Stücke sind es geworden. Wie und mit welcher Intention sind sie entstanden? Was war zuerst da? Huhn oder Ei? Songs oder Albumtitel?

Ganz klar der Albumtitel "Berlin". Der hat alles verändert bzw. ins Rollen gebracht. Vorher waren wir unsicher, fast planlos, wie wir HÄMATOM in einem akustischen Gewand gut klingen lassen sollen. Wir wollten ursprünglich nur einen neuen Song schreiben und den Rest der CD mit bekannten HÄMATOM-Liedern, verpackt in einen neuen Sound, füllen. Doch als wir in den Spirit der 20er eintauchten, aus Nord den imaginären Mafia-Boss Don Nordeone machten, der aus seinem kaputten Leben erzählt, kam ein Flow auf, den die Band so noch nicht erlebt hat. Wir schrieben den ersten Song und waren so begeistert davon, wie anders und doch spannend er klang, dass wir am nächsten Tag gleich einen zweiten schrieben. Und uns schon am dritten Tag dafür entschieden haben, keine Bearbeitungen, sondern nur neue Nummern auf das Album zu packen. Wohl gemerkt war das Mitte Januar und wir hatten das Studio für genau zehn Tage gebucht. Also mussten wir in dieser Zeit jeden Tag einen neuen Song schreiben und ihn gleichzeitig aufnehmen. Hätte uns jemand vorher gesagt, dass wir das schaffen, hätte ich ihn ausgelacht. Aber am Ende hat alles funktioniert und wir mussten keinen einzigen künstlerischen Kompromiss eingehen, was mich am meisten glücklich macht. Ich wiederhole mich da gerne, so einen Lauf und gleichzeitig so viel Spaß beim Produzieren eines Albums hatten wir noch nie!

Wie ich es verstanden habe, habt ihr auch das erste Mal mit Bläser- und Streicherformationen gearbeitet. Worin lagen hier die Herausforderungen einerseits, aber auch das Interessante andererseits?

Ja, leider. Ich wollte schon lange Bläser in HÄMATOM-Songs einbauen, stieß damit aber immer auf Gegenwehr der Band. Meistens fanden sie es zu langweilig und unpassend. Bei diesem Projekt war das natürlich anders. Eigentlich war sofort klar, dass wir Streicher, Bläser, Piano und Akkordeon brauchen. Aber echte Mucker, keine Dosensounds. Also schrieben wir die Songs und unser Produzent Vincent Sorg programmierte Just-in-time die nötigen und gewünschten Instrumente mit Synths. Sobald am Abend der Song fertig war, schickte er ihn an einen Arrangeur, der unsere Wünsche in Partituren-Form übersetzte. Für jemanden, der immer nur Metal in seinem Leben gemacht hat, war das irre. Nachdem alle Songs geschrieben waren, kamen die jeweiligen Instrumentalisten ins Studio und spielten ihre Parts ein, was in Corona-Zeiten alles andere als leicht ist. Stichwort Schnelltest usw. Akkordeon ließen wir z.B. in einem Studio in Wien aufnehmen, während wir per Zoom mit dem Techniker verbunden waren und unseren Senf dazu gaben. Ähnlich lief es mit dem Piano ab, dieses wurde allerdings in Mexiko aufgenommen. Nochmal: irre!

Das stimmt! HÄMATOM war und ist genau darum für mich eine Band, die sich stets neu definiert, sich nicht auf den Lorbeeren ausruht und den Fans immer was Neues bieten möchte. War jedoch auch die Corona-Situation ein Auslöser für dieses Unterfangen?

So ist es. Ich glaube, für uns gibt es nichts Schlimmeres als die Vorstellung, dass wir uns wiederholen könnten. Also diskutieren und tüfteln wir vor jedem Album: Wir pinnen Ideen, verwerfen wieder, streiten und einigen uns am Ende doch auf einen gemeinsamen Nenner. Da ist es uns auch egal, ob Konsequenz besser für unsere Karriere wäre, wir wollen irgendwann zufrieden auf unser künstlerisches Werk zurückblicken, das ist uns wichtiger. In diesem Fall muss man aber ganz klar zugeben, dass ohne Corona dieses Album so nicht entstanden wäre. Die Pandemie hat uns gezwungen zu improvisieren. Unkonventionelle Wege zu gehen. Sich etwas zu trauen und das Risiko einzugehen, dass eine Idee auch mal in die Hose gehen kann. Um es auf den Punkt zu bringen: Die Idee zu diesem Album wurde das erste Mal Mitte Dezember geäußert. Eine Woche später stand BERLIN als Konzept fest und wir bestellten die ersten Items für die Fan-Box, ohne einen einzigen Song zu haben. Nach einer Weihnachtsauszeit ging es schließlich Mitte Januar ins Studio und erst da wurde der erste Song geschrieben. Nach den ersten fünf Tagen drehten wir zwei Videos und gingen in den Vorverkauf und erst dann kam die zweite fünftägige Studio-Session. Und am letzten Tag der möglichen Presswerk-Abgabe wurde die Scheibe fertig gemischt und das Master abgegeben. Ohne den Druck einer Pandemie hätten wir das niemals gewagt.

Und wie kam die Idee zum DOLLY-PARTON-Cover auf?

Die Idee entstand nach einer halben Flasche Jim Beam und einem gewaltigen Corona-Frust. Und es ist mir wichtig, dass das kein Cover ist. Wir haben uns hier an den Hip-Hoppern orientiert, die sehr gerne Samples aus bekannten Hits benutzen. Also nahmen wir den Refrain von 'Jolene' als eine Art Album-Track-Sample, packten unseren 'Berlin'-Text drauf und schrieben den Rest des Songs selbst. Feddich.

Fragt man mich nach einer Art Motto für "Berlin", würde ich mich für "Feiert, lebt und tanzet!" entscheiden. Welches Motto würdet ihr wählen und warum?

Für uns ist "Berlin" der Soundtrack für die Zeit nach dieser scheiß Pandemie. Der Soundtrack für all die Nächte und Wochenenden, in denen wir all das nachholen werden, was wir gerade alle so schmerzlich vermissen.

Mit der "Berlin"-Veröffentlichung einhergehend, darf man sich als Fan auch auf das – diesmal – leise Abendmahl einstellen, nicht wahr? Auf was können sich Fans freuen? Könnt ihr uns einen kleinen Ausblick geben?

Das stimmt. Was wäre eine Album-VÖ ohne die dazugehörige Release-Show? Nichts! Und wenn wir schon unser geliebtes "Das laute Abendmahl" in Bremen nicht feiern dürfen, dann machen wir eben "Das leise Abendmahl" draus und bringen den Lärm und den Tanz in die Wohnzimmer der Leute. Es wird eine Show, die man von HÄMATOM so hundertprozentig noch nie gesehen hat. Mit Bläsern, Background-Sängerinnen, weiteren Musikern und vielen Gästen befreundeter Bands. Alles stilecht im 20er Jahre Look. Momentan sieht es auch nicht danach aus, dass wir in dieser Form nochmal auftreten werden, also sollte man sich das definitiv reinziehen. Die Show ist vom 02. bis zum 04. April unter www.haematom.de online und die Tickets dafür kann man sich auf www.antialles.net holen, genauso wie das Album übrigens.

Was ist generell für 2021 bei HÄMATOM in Planung? Könnt ihr mir einen kleinen Ausblick geben?

Wenn ich irgendwas in den letzten Monaten gelernt habe, dann das, dass es immer anders kommt, als man denkt. Also fällt ein Ausblick schwer. Wir sind aber parallel fleißig am Songwriting für ein reguläres Studio-Album und möchten vor allem so schnell wie möglich wieder auf die Bühne zurück. Die Pläne dafür sind in der Schublade. Es wird also alles andere als ruhig um uns, aber wie sollte es denn auch anders sein, wenn wir uns in den Sündenpfuhl von "Berlin" gestürzt haben?

Ost, vielen Dank für Zeit und Antwort – "Berlin" ist ein tolles Album mit enormem Mehrwert geworden. Was möchtest du unseren Lesern noch mit auf den Weg geben?

Ich möchte sie einfach einladen, sich dieses Album mal anzuhören. Es macht tierisch Laune, Bock auf eine geile Zeit und hat vor allem nichts mit dem üblichen akustischen Gewinsel zu tun, was man als Metal-Fan vielleicht befürchtet, wenn man das böse Wort mit A hört.

Redakteur:
Marcel Rapp

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