LINGUA MORTIS ORCHESTRA: Interview mit Peavey Wagner und André Hilgers

22.08.2013 | 07:33

Das Metal-Urgestein RAGE hat sich getrennt. Nein, bevor jetzt Gerüchte aufkommen, es gibt sie weiterhin, nur eben zweimal. Denn der symphonische Teil heißt jetzt LINGUA MORTIS ORCHESTRA. Ein paar Worte dazu von Peavey Wagner und André Hilgers.

Nuclear Blast hatte zur Listening Session gerufen und danach auch die Gelegenheit gegeben, mit der Band ein paar warme Worte zu wechseln. Es entspann sich ein angeregtes Gespräch über Sound, Hexen und das Business, denn eines ist "LMO" gewiss nicht: alltäglich.

So starte ich das Ganze mit der Frage nach dem Sound, denn während der Listening Session war mir gerade der sehr raue Gitarrensound aufgefallen, der allerdings in diesem Rough Mix noch etwas heftiger herausstach, als es auf dem großartigen Album tatsächlich der Fall ist.

"Das ist Victors ureigener Sound, er hat ja ein eigenes Amp-Model mit der Firma Engl entwickelt. Er hat sich den Gitarrensound genau so zurechtgedengelt, wie er ihn haben will. Und wir wollten in auch rau haben, eben RAGE, und nicht weichgespült" sagt Peavey Wagner, Bassist und Sänger beider Bands. "Anonsten ist der Sound noch nicht ganz fertig, Victor will noch an Nuancen herumschrauben, aber im Großen und Ganzen bleibt das so. Das sind Feinheiten, die hört nur Victor." Allgemeines Gelächter ist die Folge. Victor gilt eben als Perfektionist und er überlässt nichts dem Zufall. Auch wenn meine normalsterblichen Ohren den Unterschied sicher nicht wahrnehmen würden. Andre fügt hinzu: "Das ist aber auch ein hartes Stück Arbeit gewesen. Victor hat unzählige Spuren mit zwei Orchestern aufgenommen und da sind viele Frequenzen im Spiel, die richtig gemischt werden müssen, weil sie sich sonst stören. Im Metalbereich schaffst du so ein, zwei Songs pro Tag, hier braucht man viel länger. Ich möchte da mit Victor und Charlie Bauerfeind beim Mixen im Studio echt nicht tauschen. Für mich als Trommler klingt das sowieso alles gut."

Das ganze Projekt war von langer Hand geplant, schon "21" war bewusst anders angelegt gewesen und ein Kontrapunkt zu "LMO". Peavey bestätigt, "Schon beim Komponieren wurden die Songs anders konzipiert, so dass es Victors Meinung nach besser funktioniert." Andre fügt hinzu: "Zuerst standen die Grooves, denn es sollte ja RAGE bleiben in Sachen Power, danach kam dann erst der Rest, die Abwechslung. Dafür haben wir uns dann viel Zeit genommen, auch Peavey hat unheimlich viele verschiedene Klangfarben auf LMO, er hat sich da viel reingedacht. Aber ich habe auch verschiedene Stile versucht, von LED ZEPPELIN über Tommy Dee bis DREAM THEATER und MESHUGGAH, wo wir dann bewusst einen Punkt gegen das Orchester setzen wollten." Peavey ergänzt: "Und wir wollten auch den Bandteilen den Raum lassen, nicht wie bei einigen anderen Alben, METALLICA zum Beispiel, wo eigentlich zwei verschiedene Filme parallel laufen [er meint "S&M"; FJ]. Die Band hat ihren festen Platz auf diesem Album, auch das musste berücksichtigt werden!"

"Ich meine, das Baby ist jetzt gerade geboren und wir werden es selbst erst zehnmal hören müssen, um alles wiederzuentdecken." sagt Andre und vergleicht das Ganze mit einem Hausbau: "Wir haben alle zusammen den Rohbau gemacht, aber Victor und Charlie stellen das Haus jetzt erst fertig." Das Songwriting ging der Band gut von der Hand, es war fruchtbar und relativ kurz. Peavey: "Während die beiden noch zu Ende komponiert und arrangiert haben, habe ich schon in der Küche gesessen und die Texte geschrieben. Das hat super gepasst. Mal kam von oben die Anfrage 'Hör mal, wir brauchen hier was Lateinisches!', also hab ich meinen Bruder angerufen, der kann sehr gut Latein, und eine Viertelstunde später hatten wir es. Wir haben uns die Bälle zugeworfen, das war eine sehr kreative Phase."

Mit einem Orchester zu arbeiten, bedeutet eine ganz andere Vorgehensweise, bestätigt Andre. Diesmal musste man Demos erarbeiten für die Orchester, und Victor musste ja auch Noten schreiben für deren Parts. Bleibt denn da nicht die Spontanität auf der Strecke? "Nein, gar nicht, du musst nur irgendwann einmal sagen, jetzt ist Schluss, so bleibt es. Das kommt einfach nur früher in der Entstehung eines Albums. Danach bleibt alles so, denn Victor hat die Orchestertracks ja schon mitgebracht ins Studio, die brauchten wir ja dann. Das war schon anders. Ich bin ein Trommler, ich höre ein Riff und eine Melodie und denke 'geil', aber die beiden haben sich da viel mehr Gedanken gemacht. Ich spiele auf ein Gitarrenriff, aber hier musste ich mich auch erstmal umgewöhnen. Bei "21" waren wir im Proberaum, haben gespielt und da wusste jeder auf den Schlag was passiert, Punkt. Hier war es so, dass Victor schon das ganze Haus kannte, aber ich nur den Keller. Peavey war schon im ersten Stock. Ich hab am liebsten ein fettes Demo, auf das ich nur noch trommeln muss, aber das gab es hier eben nicht."

Das Album hat auch ziemliche Extreme. So gibt es harte Parts, aber auch mal etwas ganz Sanftes: 'Lament' ist ja schon bald ein Schlager. "Nein, Musical würde ich sagen. MEAT LOAF triffte Les Miserables" korrigiert Peavey. Könnte auch auf Bayern 1 laufen. "Dann hätten wir es geschafft!" lacht Andre. "Aber in dem Song ist schon viel los, klar, die Melodie ist im ersten Augenblick vorherrschend, aber im Hintergrund passiert da wirklich viel." lässt Andre meinen, zugegeben bösartigen, Vergleich nicht gelten.

Bei einem solchen Konzeptalbum sind natürlich die Texte wichtig. Das Thema in diesem Fall sind die Hexenverbrennungen, ein Thema, dass gut zum Metal passt. Peavey sagt: "Das habe ich angeschleppt. Ich habe mich schon vor Jahren intensiv damit beschäftigt. 1599 wurde die Pfarrerswitwe Maria Strupp vom Hexenrichter Johann Koch in Gelnhausen veruteilt, eine von 22 örtlichen Opfern der Hexenprozesse. Das ist gut belegt und es gibt auch eine Ausstellung dort. Ich fand die Geschichte spannend und wegen des wahren Hintergrunds auch besser als eine rein fiktive Geschichte. Und da ich obendrein  immer ein Problem mit Kirche und Religion hab, passte mir das besonders." (Mehr dazu auf der Internetseite der Stadt Gelnhausen).

Ein dunkles Kapitel in der Geschichte, das aber ein Licht auf die ureigenen Ängste und Empfindungen der Menschen wirft. "Sicher, die Grundenergie, die dahintersteckt, Aberglaube und das Projizieren von Problemen auf einem missliebige Menschen, das ist ja nach wie vor im Menschen drin. Heute werden sie nicht verbrannt, aber ausgegrenzt und gemobbt. Da hat sich nicht viel verändert." Ein Thema, das Peavey die Möglichkeit gibt, die Extreme der Empfindungen auszuloten von Growls bis zu besagter Ballade 'Lament', etwas das eigentlich mit nur einem Sänger auch nicht ganz einfach war. Andre meint: "Wir haben nicht versucht, irgendwie zwanzig namhafte Sänger ranzukriegen. Klar, wir haben mit Peavey auch einen versierten Sänger, der sich nun extra noch die Growls angeeignet hat, deswegen haben wir nur ein paar Leute zur Unterstützung eingeladen, aber Leute, die Bock darauf hatten und keine großen Namen, und die auch mit uns auf Tour gehen werden. Wir versuchen wirklich, eine zweite Band neben RAGE aufzubauen. Und was haben wir von einem Sänger, ich möchte bewusst keine Namen nennen, der erst über Metal meckert und jetzt plötzlich alle möglichen Metalsachen macht und ständig irgendwo auftaucht? Er ist ein tierischer Sänger, aber so etwas wollten wir bewusst nicht machen."

"Erst versuchen alle, dreißig Jahre lang "hm-hm-hm" zu kopieren, dann kommt er und Schluss ist!" lacht Peavey. "Er war schon immer geil, da gibt es gar keine Diskussionen!" bestätigt Andre nochmal. Weitere Diskussionen werden bewusst auf später verschoben, aber da LINGUA MORTIS ORCHESTRA im Herbst auf Tour gehen werden, wäre das mit bekannten Namen sowieso schwierig gewesen. Denn LMO ist kein Projekt, sondern soll wirklich das, was Mitte der 90er Jahre begonnen wurde, endlich auf eigene Füße stellen. Ein Beginn, zu dem Andre, wie er selbst sagt, noch Fan der Band war.

Diese Gegenüberstellung der Scheiben von 1996 bis 1999 führt dann auch zu einem Fazit, das den beiden von Herzen kommt. "Da steckt viel Herzblut drin, und wir sind da schon stolz drauf." Und das völlig zurecht.

Redakteur:
Frank Jaeger

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