NUCLEUS TORN: Interview mit Fredy Schnyder

13.04.2008 | 11:36

NUCLEUS TORN aus der Schweiz haben mit "Knell" ein äußerst interessantes, abwechslungsreiches und den Hörer forderndes Album herausgebracht. Spannend ist nicht nur der musikalische wie konzeptionelle Aspekt der Scheibe, sondern auch was Mastermind Fredy Schnyder zum neuen Rundling, der Band als solches und seinem musikalischen Grundverständnis zu sagen hat.


Stephan:
Da ihr hierzulande noch ein recht unbeschriebenes Blatt seid, gib doch bitte zunächst mal einen kurzen Überblick über die Entstehung der Band und eure ersten musikalischen Gehversuche.

Fredy:
Das älteste Werk, das unter dem Namen NUCLEUS TORN veröffentlicht wurde, ist die EP "Krähenkönigin" (1998 aufgenommen, 2004 von Kunsthall als 10'' Vinyl veröffentlicht), ein Werk für klassische Sologitarre, das oft als naturmystisch bezeichnet wird. 2000/01 folgte die Demo-EP "Silver", bei der ich erstmals mit Sänger Patrick Schaad und Schlagzeuger Christoph Steiner arbeitete, die seither konstant mit von der Partie sind. Mit Christoph erarbeitete ich auch die beiden instrumentalen Songs auf der "Submission"-CD von 2002/03, die ursprünglich nur als Demos für ein Progressive-Rock-Studioprojekt namens THE NEW GROVE PROJECT gedacht waren, mir aber besser gefielen als die Albumversionen. Die letztgenannten Veröffentlichungen sind von meiner damaligen Vorliebe für Progressive Rock geprägt, was sich seither geändert hat.
Zu dieser Zeit begannen die Arbeiten am ersten Album "Nihil", welches 2006 fertig gestellt und von mir in Eigenregie als CD veröffentlicht wurde, der LP-Release erschien über Nachtgnosis. Wenige Monate später unterschrieben wir bei Prophecy und es folgte eine Neuauflage. Für "Nihil" hatten wir das Ensemble ergänzt mit Maria D'Alessandro (Gesang), Anouk Hiedl (Querflöte), Christine Schüpbach-Käser (Violine) und Rebecca Hagmann (Cello). In diesem Line-up entstand zum Teil parallel zu "Nihil" das nun erschienene neue Album "Knell", auf welchem wir die Polystilistik bei gleichzeitigem Aufbau eines großen Spannungsbogens, zwei der wichtigsten Elemente von "Nihil", eher untergeordnet und stattdessen auf möglichst dunkle Stimmungen und heftige dynamische und emotionale Brüche und Diskontinuitäten hingearbeitet haben.
Unsere "ersten musikalischen Gehversuche" machten wir im Kindesalter. Ich habe mit fünf angefangen, Klavier zu spielen und tue dies bis heute, im Laufe der Jahre kamen weitere Instrumente dazu. Bei den anderen MusikerInnen sieht das ähnlich aus.

Stephan:
Wie habt ihr euch von der Gründung an bis zum heutigen Tag entwickelt, sowohl musikalisch als auch textlich/konzeptionell?

Fredy:
Ich habe oben bereits erwähnt, dass "Krähenkönigin" einen Touch hatte, den man im Nachhinein als naturmystisch bezeichnen könnte, da sich das Werk in konzeptioneller Hinsicht mit einschlägigen Alben in diesem Genre vergleichen lässt. Zudem war ich in dieser Zeit gezwungen, mit einem Minimum an Instrumentierung zu arbeiten, weil ich einen 4-Track Tape-Recorder nur kurzfristig ausleihen konnte. Dennoch ermöglichte mir dies, meine musikalische Tätigkeit nach zwei gescheiterten Bandprojekten zu dokumentieren und etwas Eigenes auf die Beine zu stellen.
Danach folgte eine Phase, in der ich fast ausschließlich 70er-Jahre-Musik, vor allem Progressive Rock, hörte. Das hatte einen großen Einfluss auf den Sound und bewog mich dazu, zusätzlich zu den akustischen auch elektrische Instrumente und Schlagzeug einzusetzen, ebenso kam der Gesang neu dazu. Dank Computertechnologien bekam ich auch die Möglichkeit, meine Musik selber zu produzieren, und seit "Submission" mache ich davon rege Gebrauch. Das Mastering für "Knell" war die einzige tontechnische Aufgabe, die ich in den letzten fünf Jahren aus den Händen gegeben habe.

Stephan:
Kommen wir zum aktuellen Album. "Knell" bietet ein sehr kontrastreiches und intensives Hörerlebnis und ist alles andere als leicht zu konsumieren. Würdest du mir da grundsätzlich zustimmen und war dies von Vornherein so beabsichtigt?

Fredy:
Ich stimme dir auf jeden Fall zu. Ja, die hohe Inanspruchnahme der Hörer war essentieller Bestandteil des Albumkonzepts. Ich wollte die Aufgabe dem Hörer übertragen, aus Fragmenten einen kohärenten musikalischen und emotionalen Fluss zu kreieren. Damit richtet man auch die Aufmerksamkeit des Publikums darauf, dass Musik im Allgemeinen kennengelernt und verarbeitet werden muss, vor allem wenn sie über einen gewissen Anspruch verfügt.

Stephan:
Was denkst du, welche Art von Hörer könnte sich von "Knell" angesprochen fühlen?

Fredy:
Leute, die sich gerne aktiv mit Musik beschäftigen (sei es als Hörer oder Musiker) und die Freude daran haben, wenn ihnen nicht jeder Zusammenhang, jeder Übergang auf dem silbernen Tablett serviert, nicht jede Interpretation aufgezwungen wird. Ich hoffe, dass NUCLEUS TORN-Hörer relativ frei und eigenständig denkende Menschen sind.

Stephan:
Ihr integriert zum Teil ungewöhnliche Instrumente in eure Musik. Wie bist du mit Instrumenten wie Oud, Bouzouki oder Hammered Dulcimer in Berührung gekommen und welche Möglichkeit eröffnen sich durch deren Verwendung beim Songwriting?

Fredy:
Ich begeistere mich seit Jahren für Folkmusik aller Couleur, also nicht nur irischen, sondern z.B. auch skandinavischen und mediterranen Ursprungs. Ich interessiere mich für alle Arten von fremden Instrumenten und bin stets auf der Suche nach ungewohnten, aber keinesfalls synthetischen Klangfarben. Das Sammeln von Instrumenten ist mittlerweile fast zu einer Leidenschaft geworden.

Stephan:
Würdest du mir zustimmen, dass der Gesang bzw. das Wechselspiel zwischen männlichen und weiblichen Vocals bei euch nicht das prägende Element ist, sondern eher als eines von mehreren "instrumentalen Stilmitteln" fungiert, das sich in den gesamten Klangkosmos mit einfügen muss?

Fredy:
Interessanterweise ist der Gesang oft ein Kritikpunkt bei NUCLEUS TORN - für mich völlig unverständlich. Aber du bringst einen wichtigen Aspekt zur Sprache, der vielleicht die Ursache für die gemischten Reaktionen sein könnte. Der Gesang wird bei uns tatsächlich nicht "gewöhnlich" eingesetzt, ich stimme dir auf jeden Fall in diesem Punkt zu. Die Stimmen thronen nicht souverän und unantastbar über der Musik, sondern sind überaus stark in die Klangwelt integriert, können sich z. T. kaum loslösen vom musikalischen Fundament, weil dieses enorm dicht ist.

Stephan:
Wie schafft ihr es, dass "Knell" trotz der Vielzahl an erzeugten Stimmungen, verwendeten Instrumenten und atmosphärischen Schattierungen so homogen klingt und sich alles so gut zusammenfügt?

Fredy:
Danke für das Kompliment. Ich denke, ich verfüge über ein gutes Vorstellungsvermögen um mir verschiedene musikalische Arrangements durch den Kopf gehen zu lassen, ohne Unmengen an Demomaterial einspielen zu müssen oder mit einer Band im Proberaum arbeiten zu müssen.

Stephan:
Ihr spielt einen ziemlich einzigartigen Stil. Ist das eine Grundintention, wenn ihr Musik schreibt? Wie läuft bei euch der kreative Prozess ab?

Fredy:
Eigenständigkeit sollte kein Selbstzweck sein, aber ich bin zufrieden damit, dass das Endergebnis in vieler Hinsicht neu, anders, fortschrittlich ist.
Bei der Arbeit an einem Album gehe ich nie gleich vor. Bei "Knell" erstellte ich eine konzeptionelle Grundstruktur, die mit vorhandenen musikalischen und textlichen Fragmenten ausgestattet wurde. In der Folge füllte ich die Lücken in diesem Schema, ergänzte quasi fehlenden Teile. Nach der Ausarbeitung des Arrangements spiele ich den Großteil meiner Parts zu einem Metronomtrack ein, schreibe die Parts für die weiteren Instrumente und beginne, diese mit meinen Mitmusikern aufzunehmen.

Stephan:
Ist das hauptsächliche Anliegen eurer Musik euch künstlerisch selbst zu verwirklichen oder geht es euch primär darum, andere Menschen zu erreichen und emotional zu berühren?

Fredy:
In erster Linie geht es darum, die persönliche künstlerische Vision so gut wie möglich umzusetzen. Die Veröffentlichung der Werke ist sekundär, aber es ist mir doch wichtig, ein fertiges Produkt in meiner Plattensammlung stehen zu haben. Aus diesem Grund gehört auch der Release zum Arbeitsprozess, obwohl er nicht über "Sein oder Nichtsein" der Werke entscheiden würde. Dies betrifft ebenfalls die Publikumsreaktionen, auch wenn es mir natürlich recht ist, wenn die Musik anderen Leuten gefällt.

Stephan:
Bitte beleuchte einmal das die drei Alben "Nihil", "Knell" und "Andromeda Awaiting" umfassende Konzept ein wenig näher. Was ist die Grundidee dahinter?

Fredy:
Mein primäres Ziel ist, mit Musik das Unterbewusstsein zu ergründen, indem ich Klänge und Strukturen entstehen lasse und versuche, sie für mich zu interpretieren und nach ihrem Sinn zu suchen. Wohin diese Reise nun aber führt, muss ich zuerst selber herausfinden. Es geht nicht darum, eine fertig ausgearbeitete Geschichte zu vertonen, das wäre mir viel zu langweilig. Ich habe aber nach dem Verfassen der Texte für "Nihil" gemerkt, dass sich eine Art Geschichte ergeben hat, die mich für "Knell" inspiriert hat.
Um diese Story in so wenigen Worten wie möglich wiederzugeben: Von zwei Personen verstirbt eine im Laufe von "Nihil". "Knell" beschreibt, wie sich der andere Charakter dessen bewusst wird und sich auf die Suche nach der ersten Person macht, gewissermaßen auf eine Seelenwanderung geht. Den Rest der Arbeit möchte ich den Hörern überlassen und sie auch ermutigen, die Musik genügend bei der Interpretation einzubeziehen. Die beiden Elemente komplementieren einander.

Stephan:
Wann wird "Andromeda Awaiting" veröffentlicht und gibt es nennenswerte musikalische Unterschiede im Vergleich zu "Knell"?

Fredy:
"Andromeda Awaiting" wird NUCLEUS TORN wieder in neue Klangwelten bringen. Ich will meine Musik regelmäßig neu erfinden und keinesfalls ein Erfolgsrezept wiederholt anwenden. Nach den Wutausbrüchen und schwarzen Abgründen von "Knell" werde ich vielmehr nach musikalischem Licht suchen und sanfte, verträumte, wenn auch sehr nachdenkliche und traurige Stimmungen kreieren. In Bezug auf die Instrumentierung und verwendete Stilmittel bedeutet dies, dass die harten Gitarren außen vor gelassen und der Fokus auf die akustischen Instrumente gelegt wird. "Andromeda Awaiting" ist zum großen Teil am Klavier entstanden, fast alles habe ich in Noten aufgeschrieben, von daher ist die thematische und harmonische Dichte sehr hoch und eher im klassischen Sektor angesiedelt als im Metal und der Rockmusik.

Stephan:
Wie sieht es in der Livesituation aus? Variiert ihr die Songs in der Liveumsetzung?

Fredy:
NUCLEUS TORN ist keine Band im üblichen Sinne, eher ein Studioensemble, von daher proben wir nicht zusammen. Konzertangebote erhalten wir aber regelmäßig, deshalb haben wir geplant, ein akustisches Set als Quartett einzustudieren, das wir live darbieten könnten. Momentan leben wir recht weit voneinander entfernt und müssen zuerst sehen, wie sich diese Situation in nächster Zeit entwickelt.

Stephan:
Habt ihr schon Gigs und/oder Festivals außerhalb der Schweiz gespielt und wie waren eure Eindrücke und Erfahrungen hinsichtlich der Publikumsreaktionen?

Fredy:
Wie oben erwähnt haben wir noch keine Konzerte gespielt.

Stephan:
Wie seid ihr auf den Bandnamen gekommen und was verbirgt sich dahinter? Wenn ich NUCLEUS TORN mit "aufgerissener, zerfetzter Kern" übersetze, bin ich damit auf der richtigen Fährte?

Fredy:
Die Übersetzung ist richtig. Den Namen habe ich primär aufgrund ästhetischer Überlegungen gewählt und interpretiere ihn immer wieder anders. Beim Kern könnte es sich beispielsweise um das Innerste eines Menschen handeln. Als Musiker fasziniert es mich, mir auf eine künstlerische Art und Weise die Frage zu stellen, was passiert, wenn der Mensch an der Grenze des Erträglichen, am Ende seiner Fähigkeiten angelangt ist und unter der Situation leidet.
Wird dies übertragen auf das Zusammenbrechen von Gesellschaften oder Welten, dann muss doch bei diesem Prozess etwas freigelegt werden, aber was? Ich kann das aber weder aus eigener Erfahrung noch als Historiker beurteilen. Vielleicht versuche ich auch, musikalisch darauf Antworten zu finden.

Stephan:
Welche Ziele möchtest du mit NUCLEUS TORN noch verwirklichen? Was ist dir persönlich am Wichtigsten als Teil dieser Band?

Fredy:
NUCLEUS TORN ermöglicht es mir, meine persönliche Vision von moderner und zeitloser anspruchsvoller Musik umzusetzen, ohne auf stilistische Grenzen oder eine daraus entstehende eingeschränkte Palette von Klangfarben Rücksicht nehmen zu müssen. Dies will ich weiterhin bis in die Extreme ausreizen, um einen möglichen Ausweg aus der Sackgasse zu finden, in die sich manche musikalischen Ausdrucksformen manövriert haben. In verschiedenen Genres wird stets Bezug auf die Vergangenheit und die immer gleichen musikalischen Helden genommen und wahrer Fortschritt durch Engstirnigkeit verunmöglicht.

Redakteur:
Stephan Voigtländer

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