THE HIRSCH EFFEKT: Interview mit Nils Wittrock

22.05.2015 | 07:44

Großkorpuskuläre Partikel? Dünndarmschleimhaut? Bewertungsindex für Publikationen? Auch nach unserem Kurzgespräch mit dem Gitarristen und Songwriter der Artcore-Formation THE HIRSCH EFFEKT bleiben Fragen offen. Dafür gewährt uns der Platzhirsch - entschuldigt bitte die albernen Wortspielereien - einen tieferen Einblick in sein künstlerisches Schaffen und plaudert mit uns über Feinstaubbelastung, Harmoniewechsel und die Rückwärtsgewandtheit deutscher Politiker.


Extrem gegensätzliche Meinungen in unserem Soundcheck sowie der Gruppentherapie, ein begeisterter Hauptrezensent, der Einstieg in die Top100-Albumcharts – "Holon : Agnosie" von THE HIRSCH EFFEKT polarisiert nicht einfach nur. Was das Trio aus Hannover anno 2015 einmal mehr abliefert ist abstrakte musikalische Kunst in Reinform. Kunst kann abgelehnt, verteufelt, vergöttert, bewundert, skeptisch analysiert, fasziniert konsumiert werden. Nun ranken sich um den Bandnamen der Niedersachsen schon seit Jahren wilde Gerüchte, Legenden über traumatische Erlebnisse des ehemaligen Schlagzeugers mit den wilden Paarhufern. Und nach dem verstörend-faszinierenden Genuss von "Holon : Agnosie" muss sie einfach auf den Tisch, diese eine, alles entscheidende Frage: Was ist der HIRSCH EFFEKT, Nils? "Viele Leute denken, dass wir uns auf Grund der von Rahel Hirsch entdeckten Durchlässigkeit der Schleimhaut des Dünndarms für großkorpuskuläre Partikel benannt haben. Dies ist aber gänzlich falsch. Tatsächlich ist THE HIRSCH EFFEKT eine Anlehnung an den Hirschfaktor, auch als Hirsch-Index bekannt. Dieser von dem Physiker Jorge E. Hirsch vorgeschlagene Bewertungsindex ist ein bibliometrisches Maß, das auf Zitationen der Publikationen eines Autors zu einem Zeitpunkt basiert. Da wir in unserer Musik sehr viel zitieren (es kommen zum Beispiel alle 12 bereits bei Luciano Berio verwendeten Töne auch bei uns vor) fanden wir den Namen passend." Na endlich, das Rätsel ist gelöst! Oder auch nicht? Nehmen uns die Hirsche nur auf die Hörner respektive das Geweih? Nun, die Griffigkeit des Bandnamens beiseite gelassen - auch das Coverartwork von "Holon : Agnosie" fällt recht, nun ja, markant aus. Grotesk, bizarr, abstoßend grinst es einen aus dem Plattenregal an. Verantwortlich dafür: der Künstler Alejandro Chavetta. Reine Freude am Schockieren? "Da müsste man Alejandro mal fragen. Er bekommt von uns lediglich Demos von den Songs und eine kurze Beschreibung auf englisch, worum es im Song geht und was es mit dem Titel auf sich hat. Alles andere macht er dann in Eigenregie."

CoverAuf "Holon : Agnosie" wird die Hörerschaft praktisch gewaltsam in eine ebenso brutale wie schmeichelhaft schöne Betrachtung des menschlichen Innenlebens hinein gerissen. Zugleich scheint die Band ihre Zuhörer auch gerne auf die Schippe zu nehmen. Ernst, Spaß, Satire? 'Jayus' beispielsweise erschien mir zunächst als gequälter Ausdrucksversuch höllischer Seelenpein – dabei regen sich die Musiker in dem Song ("... statt nach links und rechts guckt jeder nur in seine scheiß Hand! Das ist mein Ernst!") eigentlich nur über die Smartphone-Manie unserer Zeit auf. "Ich denke schon, dass man das ernst nehmen kann. Wenn ich mir als zügiger Stadtradler ansehe, wie sehr Fußgänger - gerade in Einkaufsgegenden - damit beschäftigt sind, nicht auf die Straße zu achten, bereitet mir das in der Tat höllische Seelenqualen. Überhaupt sind Fahrradfahrer offenichtlich die niedrigste Stufe der Verkehrsteilnehmer Hackordnung. So wird das nix mit niedrigerer Feinstaubentlastung in den Innenstädten. Darüber sollte man mal reden!"

Der rote Faden auf "Holon : Agnosie" scheint dennoch die Ausweglosigkeit des menschlichen Seins, die Sinnlosigkeit des Daseins zu sein. Sie wird besungen, beschrieen, aber irgendwie auch verballhornt (siehe 'Bezoar'). Dagegen wieder die letzten Worte des Albums: "Was bleibt ist... Nichts." Eine ziemlich ernüchternde Sichtweise. Woraus besteht THE HIRSCH EFFEKT? Radikalatheisten? Kulturpessimisten? Nihilisten? "Weder noch, wobei die Mehrheit von uns ganz klar atheistisch geprägt ist. Was am Ende bleibt ist Nichts, und dieses kleine Nichts ist alles, was wir haben. Deshalb beschützen wir es und kämpfen darum wie bekloppt. Sieh dir diese Band an. Darum geht es."

Diese lebensphilosophischen Fragen wechseln sich ab mit der Thematisierung von zwischenmenschlichen Verwerfungen. Bei den immer wiederkehrenden Fragen nach dem Sinn, sowie den Komplikationen, die zwischenmenschliche Beziehungen aufwerfen - wo bleiben da Freude, Schönheit, Optimismus? "Ich sehe das als Hauptbestandteil meines Lebens, wobei ich mir bewusst bin, dass ich als jemand, der in der Bundesrepublik Deutschland im Jahre 1984 geboren wurde, da eine sehr dekadente Problematik mit mir rumschleppe. Freude drücken wir zum Beispiel in der von dir bereits angesprochenen Stelle in 'Bezoar' aus. Auch wenn es sarkastischer Humor ist, ist es doch dennoch auch ein Ausdruck an Freude. Wenn wir im Refrain von Agnosie für einen kurzen Moment melodisch-Moll verlassen und die Tonika-Parallele in ihrer natürlichen Form bringen, dann strahlt dieses B-Dur richtig schön. Da hast du die Schönheit. Optimismus Bandfotofindest du am Anfang des Albums. Außerdem endet das Album nach dieser vernichtenden Aussage mit einem glasklaren und optimistischen E-Dur. Alles da also." Dagegen lässt sich schwer etwas einwenden. Unsere Redaktion war dennoch in ihrem Urteil tief gespalten. Völliges Missverstehen, fasziniertes, aber distanziertes Betrachten, hoffnungslose Begeisterung. "Wenn sich eure Redaktion über unsere Musik streitet haben wir eindeutig alles richtig gemacht. Wir wollen in den Leuten etwas auslösen. Die Menschen sind zu verschieden, als dass man in allen Menschen die gleichen Emotionen hervorrufen kann und das ist auch gut so. Viel schlimmer wäre es, wenn alle mäßig begeistert wären. Missverstanden fühle ich mich vor allem, wenn Menschen denken, dass ich diese Musik mache um sie zu ärgern oder aus Kalkül. Die krassesten Reaktionen bislang waren vermutlich positive, bzw. sehr emotionale: Tränen im Publikum zum Beispiel. Aber wie gesagt: Es wäre genauso toll, wenn mal einer kotzen müsste während unserer Show."

Soweit wird es dann hoffentlich trotzdem nicht kommen – doch rätselhaft, abstrakt, mitunter abstoßend kann der HIRSCH EFFEKT-Sound durchaus wirken. Rätselhaft auch die bisherigen Albumtitel, wobei zumindest die Klärung des wenig bekannten Begriffs "Holon" (ein Ganzes, das Teil eines Ganzen ist) durchaus weiter hilft. Nach "Holon : Hiberno" und "Holon : Anamnesis" scheint nun mit "Holon : Agnosie" eine Trilogie ihren Abschluss gefunden zu haben. War das so geplant? "Eigentlich wollten wir auf Agnosie etwas Neues machen: Mit neuem Drummer mehr in Richtung Metal, weniger Orchester. Am Ende haben wir festgestellt, dass wir doch noch nicht so weit sind. "Agnosie" bewegt sich schon stark in eine andere Richtung, ist aber doch noch stark in unserem älteren Schaffen verwurzelt. Als wir das festgestellt haben, haben wir es mit in Nils playingdie Reihe aufgenommen." Nun, Trilogie hin oder her, Fakt ist, dass das bisherige Schaffen der Niedersachsen bereits ein ganzes Universum an Vielfalt, Emotionen und Abgründen hat entstehen lassen. Das sieht nach verdammt harter Arbeit aus. Was bedeutet da eigentlich der nicht ganz unerhebliche Erfolg des neuen Albums (Platz 63 in den deutschen Albumcharts) für die musikalische Entwicklung der Band? Hat Ralph Siegel schon angeklopft? Der nächste ESC steht immerhin vor der Türe... "Wir machen die Musik, die uns Bock macht. Das ist alles. Was diese Chartgeschichte betrifft: schwer zu sagen. Es haben sich auf jeden Fall einige Leute daraufhin bei mir gemeldet, um mir zu gratulieren. Mehr, als an meinem Geburtstag ein paar Tage zuvor. Es scheint also doch eine Art Signalwirkung zu haben. Mal sehen, ob es uns auch sonst noch was bringt. Eine Zusammenarbeit mit Ralph Siegel wäre wünschenswert. Aber wir schreiben und er performt."

Stellt euch das mal vor – 'Fixum' als deutscher Beitrag zum ESC! Naja, oder besser nicht. Wobei der avantgardistische Ansatz beim anspruchsvollen, akademischen Publikum ja mehr und mehr anzukommen scheint. Ist der typische HIRSCH EFFEKT-Hörer folglich ein Nerd? Kaum ein Rezensent, der bei seiner Besprechung von "Holon : Agnosie" nicht ein wenig mit dem Witz über den Hirsche hörenden Hipster-Mathematik-Studenten kokettiert. "Diese Aussage ist leider statistisch nicht haltbar. Das einzige, was bei uns signifikant auffällt, ist der Männerüberschuss im Publikum. Ansonsten haben wir ein sehr heterogene Altersstruktur und Menschen mit den unterschiedlichsten kulturellen Hintergründen im Publikum. Es gibt z.B. unterdessen zwei Väter die regelmäßig mit ihren jugendlichen Töchtern zum Konzert kommen und nicht, weil Papi mit muss, sondern weil alle Freude an unseren Konzerten haben. Natürlich gibt's auch ein paar Nerds und viele Musiker im Publikum. Aber es gibt auch Versicherungsvertreter, Bundeswehrsoldaten, Doktoren und Familienväter und -mütter auf unseren Konzerten." Ist also etwas zu merken von einer mittlerweile gestiegenen Aufmerksamkeit? Fürchtet die BILD-Zeitung nach dem HEAVEN SHALL BURN-Skandälchen diesmal um deutsche Paarhufer? "Holon : Agnosie" scheint was die Öffentlichkeitswirkung angeht ja ein deutlicher Sprung nach vorne zu sein. "Bei uns gibt es seit je her nur Schritte und keine Sprünge, aber das ist OK. Das was wir transportieren möchten ist sperrig, und das kriegt man nur in ganz kleinen Schritten die Treppe rauf." Für Nils ist die Band jedenfalls mehr als eine angestrebte Möglichkeit, sich seinen Lebensunterhalt zu verdienen: "THE HIRSCH EFFEKT ist mein Beruf, auch wenn ich nicht davon leben kann. Ich habe mir angewöhnt zwischen Beruf und Broterwerb zu unterscheiden. Beruf ist das, was ich gerne mache und woran ich die meiste Zeit meines Lebens arbeite. Ich finde es generell nicht gut, dass Dinge, aus denen man keinen monetären Mehrwehrt ziehen kann als Hobby abgetan werden: "Mein Hobby ist Opa, aber etwas richtiges mache ich nicht." That's bullshit. Überhaupt nervt es mich, dass Leute immer fragen "und was machst du so?", aber eigentlich meinen "womit verdienst du dein Geld?". Dabei ist das doch häufig mega langweilig."

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Wo er recht hat, hat er recht. THE HIRSCH EFFEKT bleibt für uns Musikschreiberlinge jedenfalls eine Herausforderung. So ganz komme ich nicht dahinter, ob mich der Hirsche-Mastermind hier und da nicht doch subtil auf die Schippe genommen hat – aber so lange uns die Herrschaften auch weiterhin mit dermaßen fantastischem Hörstoff versorgen und nun auch endlich massiv die Bühnen der Republik beackern, soll mir das alles recht sein. Apropos Republik, Nils, du wolltest noch etwas loswerden...

"Ich, Nils Wittrock, möchte unserem Land gern folgendes sagen: Hallo Deutschland, dass du noch immer keine gleichgeschlechtliche Ehe erlaubst, liegt vermutlich nicht an dir oder deinem Bundesverfassungsgericht, sondern am Veto der CDU/CSU, ist aber trotzdem sowas von 1933. Mal ehrlich..."

Das lassen wir gerne als Schlusswort so stehen. Vor allem freuen wir uns darüber, dass diese großartige deutsche Formation endlich die Aufmerksamkeit bekommt, die ihr zusteht – jüngst auch auf unserer Plattform, in Rezension und Gruppentherapie des aktuellen Albums sowie dem Konzertbericht von Kollege Thomas Becker. Wir freuen uns jetzt schon darauf, THE HIRSCH EFFEKT im Herbst auf dem Euroblast wiederzusehen!

Redakteur:
Timon Krause

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