Anathema - Bochum

18.10.2008 | 16:06

13.10.2008, Matrix

Die Verwunderung ist sehr groß. Als gegen viertel nach acht drei Typen auf die Bühne kommen und zum Einstieg einen krachenden Riffrocker in HARMFUL-Manier abschießen, ist man sich sicher, zusätzlich zu DEMIANS und ANATHEMA heute noch einem unangekündigten lokalen Support-Act beizuwohnen. Die Jungs haben einen coolen Groove – da gibt's was Neues zu entdecken. Doch bereits der erste Gesangseinsatz des Gitarristen leitet die Meinungskehrtwende ein: Die Stimme, die zu hören ist, gehört eindeutig zu Nicolas Chapel, dem fotoscheuen Mann hinter DEMIANS. Wenn er mit diesem neuen Song, der dreimal so heftig röhrt wie das "Building An Empire"-Debüt, seine Vielseitigkeit demonstrieren wollte, ist ihm das vorzüglich geglückt. Die zweite Platte dürfte Überraschungen bieten.

Nach dem unerwarteten Auftakt kann der Franzose zusammen mit Bassist Antoine Pohu und Schlagzeuger Gaël Hallier auch live die ganze Klasse der Songs seines ersten Albums freisetzen. Unaufdringlich perfekt ist jedes Soundstückchen, unglaublich hübsch das Gesamtgebilde. Der sich als genauso freundlich wie dankbar erweisende Chapel singt fehlerlos, was umso höher zu bewerten ist, wenn man sein anspruchsvolles Gitarrenspiel genau betrachtet. Dass er während des Gigs keine Koordinationsprobleme bekommt, ist beeindruckend. Kunstvoll legen sich seine warmen Vocals auf den fast schwerelos über dem Takt schwebenden und laut Bandaussage zum ersten Mal auf dieser Tour im Set auftauchenden Longtrack 'Sand', das großartige 'The Perfect Symmetry' sowie die Melodiezaubereien 'Naive', 'Earth' und 'Temple'. 'Shine' bleibt ebenso unberücksichtigt wie 'Sapphire' – Luxus, den sich nur selbstbewusste Klangvirtuosen leisten können.

PORCUPINE TREEs Steven Wilson spricht nur in den höchsten Tönen von DEMIANS, und mit "What a band!" wird der Hauptact dem Dreiergespann später ebenfalls sein Lob aussprechen. Die Erklärung dafür ist denkbar einfach: Nicolas Chapel ist ein Ausnahmetalent der europäischen Musikszene.

Umbaupausen sind nie toll. Wenn allerdings zur Untermalung der Equipmentschieberei auch noch das Wüstenspringmausschreckenskommando QUEENS OF THE STONE AGE durch die Club-P.A. leiert und die schönen Gedanken an das zuvor Gehörte beinahe auslöscht, kann die Konversation mit dem Nachbarn gar nicht so angeregt sein, dass man nicht nervös wird. 'Parisienne Moonlight', zu dem sich ANATHEMA in die Startblöcke begeben, setzt dem einprozentig coolen Kiffer-Gerödel, kurz bevor das Gehirn flüssig wird und aus dem linken Ohr läuft, ein Ende. Aufputschender waren dieser Song und das anschließende 'Deep' noch nie.

Wie üblich ist Vinnie Cavanaghs Gitarre zunächst nicht zu hören, was eines von mehreren Problemchen des Gigs ist. Auch Drummer John Douglas ist nicht ganz auf der Höhe und versemmelt ein paar Einsätze gründlich. Böse Blicke sind die Folge. Danny Cavanaghs Haare kräuselten sich, wenn er nicht schon Locken hätte. Und mit viel Galgenhumor wird der Taktmacher nach einem der Klopffehler erst mal gesondert vorgestellt. Die Stimmung können diese kleinen Pannen aber nicht töten. Das Publikum ist genauso gut aufgelegt wie die Briten.

Erst nach zwei Stunden räumen die Jungs, die ohne Sängerin Lee Douglas angereist sind, die Bühne. Und selbst in dieser Zeit können nicht alle relevanten Songs der Laufbahn untergebracht werden. Positiv fällt bei der getroffenen Auswahl die Berücksichtigung des 2001er "A Fine Day To Exit" auf, und unvermutet entpuppt sich 'Flying' als Mitsingliebling, der zwischen dem Trio 'Shroud Of False'/'Lost Control'/'Regret', 'Judgement', das nach dem Break im Mittelteil in 'Panic' übergeht, dem von PINK FLOYDs David Gilmour und Roy Harper geschriebenen 'Hope', 'Anyone, Anywhere' und 'Angelica' bestehen kann. Durchdacht ist die Aufführung bis ins kleinste Detail. Die "Hindsight"-Versionen von 'Are You There?' und 'One Last Goodbye' sowie die Vorboten des irgendwann 2025 erscheinenden nächsten Longplayers, 'Angels Walk Among Us' und 'A Simple Mistake', lassen immer wieder Ruhe einkehren, während auch die Zwei-Meter-Türme unter den Augenzeugen emotional einknicken. Vinnie Cavanaghs Ansage, dass man bei ihren Shows auch tanzen könne und nicht bloß andächtig zuhören müsse, sorgt für Erleichterung. Nach dem gewohnt den Freudentaumel auslösenden Besser-geht-es-nicht-Werk 'Fragile Dreams' reißen alle ohne einen Anflug von Melancholie die Arme hoch, worunter sich auch ein Geruchsviech in Schlagdistanz befindet. ANATHEMA – ein Fest für viele Sinne.

Redakteur:
Oliver Schneider

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