Anathema - Glauchau

30.01.2004 | 02:18

28.01.2004, Alte Spinnerei

Wenn eine Band wie ANATHEMA zum Konzert lädt, ist das eigentlich fast immer eine sichere Bank. Das war diesmal in Glauchau ganz besonders der Fall, denn die Briten kredenzten eine wahrhaft unvergessliche Vorstellung. Doch der Reihe nach...

Zunächst durfte die Vorgruppe DOWN BELOW ran, die früher noch als CRYPTIC CARNAGE unterwegs waren. Die Sachsen hatten allerdings über weite Strecken nur mittelmäßigen Gothic Rock im Repertoire. Ein paar Mal blitzten einige gute Ansätze durch und dann war das Ganze auch durchaus hörenswert und recht eingängig. Doch dieses Niveau konnte man nicht durchgehend halten. Die rockigen Songs mit ihrem treibenden und durchdringenden Rhythmus entfachten kaum Feuer unter den Zuschauern. Eigentlich kam nur bei dem HEROES DEL SILENCIO-Cover 'Entre Dos Tierras' so etwas wie Stimmung auf. Dennoch versuchten DOWN BELOW alles den Leuten eine ordentliche und auch visuell ansprechende Show (durch diverse Pyro-Spielereien aufgewertet) zu bieten. An dem musikalischen Mittelmaß änderte das freilich nichts. Trotzdem ist es immer fies, wenn im Publikum Jubel aufbrandet, sobald die Vorband ihr letztes Lied ankündigt, und so erging es dieses Mal auch DOWN BELOW. Einige, vornehmlich männliche, Besucher waren aber auch rücksichtsvoller und zogen sich, während die Vorband am Ackern war, in den hinteren Teil der Alten Spinnerei zurück um sich das Spiel der Handball-EM Deutschland-Slowenien anzusehen. Der Zugewinn an neuen Fans dürfte sich für DOWN BELOW an diesem Abend jedenfalls in Grenzen gehalten haben.

Dann wurde auf der Bühne eine ganze Weile gewerkelt und gemacht, bis endlich alles perfekt zu sein schien für den Auftritt von ANATHEMA. Das Konzert in Glauchau war ja auch eine der letzten Generalproben für die Aufnahme einer DVD drei Tage später im polnischen Krakau.
Nach dem Intro ('Childhood Dream') ging es gleich mit einem Doppelpack vom neuen Rundling "A Natural Disaster" los - 'Balance' und 'Closer' (mit ebenso verzerrtem Gesang wie auf dem Album). Dabei präsentierte man die eigentlich ziemlich ruhigen Songs in einer sehr heftigen Version mit beinahe ruppig bratenden Gitarren. Solch wuchtige Ausbrüche gab es den ganzen Abend immer wieder, wenn es der jeweilige Song hergab. Das war vielleicht die erfreulichste Erkenntnis überhaupt; dass man doch deutlich härter als auf den Alben zu Werke ging und sich nicht nur in ruhigen, wenn auch stets wunderschönen, Tonfolgen erging.
Vor dem dritten Song hatte Vincent Cavanagh ein paar soundtechnische Probleme mit seiner Konzertgitarre, musste den Song zunächst abbrechen und nutzte dies gleich zu einer lustigen Einlage (es sollte nicht die letzte des Abends bleiben), indem er spontan etwas auf der Gitarre herumklimperte und immer wieder ins Publikum fragte, ob es nun zufriedenstellend sei. Auffällig war außerdem, dass besonders Vincent immer wieder seine Gitarre nachstimmen musste, was er aber erstaunlich locker nahm.
Den ersten Ausflug in ältere Gefilde unternahm man mit dem "Judgement"-Doppel 'Pitiless' und 'Forgotten Hopes'. Bei 'Are You There?', ebenfalls vom neuen Album "A Natural Disaster", wechselten sich dann die beiden Brüder erstmalig am Gesang ab und Danny Cavanagh übernahm die Lead Vocals. Überhaupt hatten die Beiden fast die gleichen Anteile an den Vocals und lieferten sich zum Teil richtig packende Duette.
'Inner Silence' von "Alternative 4" und mit 'Pulled Under At 2000 Meters Per Second' der härteste Song des neuen Albums, der für ANATHEMA-Verhältnisse regelrecht brachial herausgerotzt wurde, zogen ins Land und dann war der Augenblick gekommen, wo sich die Band erstmals von ihrer Gastsängerin als Gegenstück zum brüderlichen Gesang unter die Arme greifen ließ. Diese intonierte als erstes das geniale 'Parisienne Moonlight' von der "Judgement"-Scheibe und zog mit ihrer unglaublich tollen Stimme sofort das komplette Auditorium in ihren Bann. Stimmlich klang sie haargenauso wie Lee Douglas, die zu den letzten drei ANATHEMA-Studioalben die weiblichen Vocals beigesteuert hat, dennoch kann ich nicht mit letzter Sicherheit behaupten, dass es sich bei ihr um eben jene Dame handelte.
Die erfrischende Mischung aus knackigen Nummern wie 'Panic' (von "A Fine Day To Exit") und ruhigen Momenten à la 'One Last Goodbye' (wieder "Judgement") wurde weiter beibehalten und insgesamt hatte man einfach das richtige Verhältnis aus rockigen Genickschlägen und den schwermütigen, sanften Melodien gefunden, bei denen man einfach nur träumerisch und mit offenem Mund dastehen konnte. Die wohligen Schauer, die immer wieder über den Rücken krochen, wurden auch von der grandiosen und sehr farbenfrohen Lightshow unterstützt, die perfekt auf die Musik abgestimmt war.
Bei 'Temporary Peace' vom vorletzten Album kam erneut die Gastsängerin zum Einsatz, insgesamt veredelte sie fünf Songs mit ihrem umwerfenden und beeindruckenden Gesang. Mit dem tollen 'Flying' endete dann der reguläre Teil des Abend, aber ANATHEMA hatten glücklicherweise noch einiges in petto.
Nachdem sie vom faszinierten Glauchauer Publikum zurück auf die Bühne geschrien und geklatscht wurden, erlaubte sich Vincent wieder eines seiner kleinen Spielchen mit den Zuschauern, die den Abend auch neben der Musik so kurzweilig gestalteten. Erst öffnete er cool eine Bierflasche mit den Zähnen und danach lieferte er sich ziemlich enthemmt ein Privatduell mit den beiden total enthusiasmierten Besuchern neben mir, wer denn nun lauter/schöner/greller jauchzen könne. Yeehaw! Zum Schreien komisch...
Der Zugabenblock wurde von 'Deep' eröffnet, bevor bei 'A Natural Disaster' Frau zum letzten Mal ihre goldene Stimme erklingen ließ, im Gegensatz zur Albumversion gab es diesmal allerdings im Refrain Wechselgesang mit Vincent zu hören. Das geniale 'Fragile Dreams' von "Alternative 4" schloss sich an und mittlerweile wusste man echt nicht mehr, wo oben und unten war, die Musik umfloss einen einfach und fesselte und faszinierte völlig.
Als die Band sich danach artig vom Publikum verabschiedete, dachte ich eigentlich, dass es das nun gewesen wäre, aber Pustekuchen. Erneut ließen sich ANATHEMA durch die ausgelassenen Reaktionen hervorlocken und hatten gleich zwei Überraschungen parat. Zunächst gab es "for the guy, who wanted to hear an old song" ein Stück von der LP "Serenades" aus dem Jahre 1993 und nach einer fast bluesig anmutenden Soloeinlage von Danny Cavanagh bildete das PINK FLOYD-Cover 'Comfortably Numb' ("The Wall") den krönenden Abschluss, wohlgemerkt inklusive dem Gesabbel, das auf dem Originalalbum im Song davor - 'Bring The Boys Back Home' - zu hören ist, und welches von den Gebrüdern Cavanagh auf äußerst amüsante Weise adaptiert wurde. Danach hatten sich die Herren Musikusse den Schlusspfiff auch wirklich redlich verdient, immerhin hatten sie beinahe zweieinhalb auf der Bühne gestanden. Dennoch stand den meisten Zuschauern ins Gesicht geschrieben, dass sie die Zeit gerne noch einmal um 150 Minuten zurückgedreht hätten.

Dieses Konzert kann man nur mit einem Wort umschreiben: Unglaublich. Es herrschte die komplette Dauer des Auftritts über eine solch unbeschreibliche, beinahe magische, Atmosphäre, die ihresgleichen sucht. Für mich war es eines der besten und faszinierendsten Konzerte, die ich jemals miterleben durfte, und das waren im Laufe der Zeit schon eine ganze Menge (darunter auch schon zwei frühere ANATHEMA-Auftritte, die dem heutigen aber nicht annähernd das Wasser reichen konnten). Wenn in Krakau Ähnliches abgeht, und davon ist bei solch begnadeten Musikern ja eigentlich auszugehen, kann man sich schon auf eine großartige DVD freuen. Wer in irgendeiner Weise etwas mit ruhiger und melancholischer Rockmusik anfangen kann (obwohl ANATHEMA wie gesagt live auch ganz schön heftig zur Sache gehen), sollte sich diese Band unbedingt mal livehaftig zu Gemüte führen. Ein Abend, denn alle Anwesenden bestimmt nicht wieder vergessen werden. Und der Band mag man eigentlich nur noch zurufen: Danke, kommt bald mal wieder!

Redakteur:
Stephan Voigtländer

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