Inzestival - München

07.07.2010 | 12:47

11.06.2010, Orangehouse, Feierwerk

Sieben Bands, Rock, Pop, Ska und Black Metal - kann das gehen? Ja, verdammt!

Was für eine geniale Idee: ein Abend, eine WM-Eröffnung, sieben Bands und ein Publikum, das unterschiedlicher nicht sein könnte. Junge, heißblütige Blumenkinder neben grimmigen Black-Metallern – alles kein Problem. Und bei dem ersten Tor der südafrikanischen Mannschaft während der Fußball-WM liegen sich die Antipoden sogar glücklich strahlend in den Armen – ein Zustand, der den restlichen Abend anhält und das "Inzestival" zu einer gelungenen Aktion macht.

Doch halt, der wahre Kern des bunten Pudels ist ja noch gar nicht geklärt! Das direkte Erbe des episch denkenden MANOWAR-Vorbilds Wagner antretend trifft sich heute eine Großfamilie. Mit dabei sind Bands, die in Verwandtschaft zu den Organisatoren des Abends, THE NEIGHBOURS, stehen. Um nicht alles vorwegzunehmen, werde ich während der Auftritte der Bands zumindest den Versuch wagen, den Stammbaum samt musikalischem Wappen und Herkunft der Familie zu zeichnen – aber bitte ohne Garantie oder gar Anspruch auf Vollständigkeit. Doch letztlich ist diese Verästelung ja sowieso nur der gelungene Ansporn, sieben sehr verschiedene Bands auf eine Bühne zu bringen, die jeweils wiederum sehr unterschiedliches Publikum anlocken. Um es mit dem leidenden Werther zu halten: genug der Redundanzen, die Spiele mögen beginnen.

Kurz nach dem Unentschieden von "Bafana, Bafana" gegen starke Mexikaner betreten die Rocker von GERMAN ANGST die Bühne. Im Vorfeld zeigte sich der Sound der vier Musiker als engagierter, alternativ angehauchter Rock mit einer gelungenen Mischung aus Hybris (sowohl textlich als auch musikalisch) und sich in sich selbst verlierender Momente voller Ruhe. Entsprechend groß ist die Erwartung auf einen tollen Gig, die allerdings nur zum Teil erfüllt wird.

Mit dem energischen Southern-Rocker 'My Fear Is My Drug' starten die drei Jungs und das Mädel auf der Bühne und versuchen, das halbvolle Orangehouse auf dem Feierwerk-Gelände in München in Partylaune zu bringen. Das gelingt nur teilweise, doch auf den Hinweis des Sängers Dok Martins, doch mal bitte näher zu kommen, da man jetzt über Sex reden müsse, lassen sich die Anwesenden vor die Bühne bitten und machen den Auftritt auch für die Band interessant.

Die dargebotenen Songs bieten eine Menge, vor allem Gefühl und Gefühl für Rock, doch der Schwachpunkt des heutigen Tages ist eindeutig der Gesang des Fronters. Oft daneben, vielfach zu leise und insgesamt einfach zu uninspiriert, kommt die Atmosphäre der Studiotracks live kaum rüber. Ist es der Opener-Slot oder ein schlechter Monitorsound? Erst im letzten Drittel des Gigs bessert sich der Gesang merklich und schließt einen leider nicht völlig überzeugenden Auftritt ab. Auf der MySpace-Seite der Band sollte allerdings wirklich jeder Rockfan mal vorbeischauen. Lohnt sich.

Für die Schwärze, die Kälte, die Aggression und das Böse am heutigen Abend stehen die Avantgarde-Black-Metaller von NEBELKRÄHE. Mit "entfremdet" kreierte die Band im vorigen Jahr ein interessantes und ambitioniertes Album. Ach, verdammt, schon die zweite Band des Abends, und ich habe immer noch keine Familienbezüge hergestellt. Nun, bei NEBELKRÄHE singt der Keyboarder der NEIGHBOURS. Unter dem Alias umbrA stürmt er mit den vier anderen schwarz gekleideten Gestalten die Bühne und schockt die anwesenden Powerpopper mit extremen Vocals, Corpsepaint und messerscharfen Songs. Also gibt es eigentlich alles, was dem geneigten Black-Metaller das Herz aufgehen lässt – was er natürlich niemals zugeben würde.

Die Faszination beginnt mit mitwippenden Blumenkindern im Publikum, die sich von den komplexen Melodien und mitreißenden Grooves einfangen lassen. Dass heute allerdings nur Gefangene gemacht werden, liegt in der Natur der Völkerverständigung. Gerade die Songs der kommenden Platte grooven allerdings ordentlich und zeigen, dass sich die Band deutlich weiterentwickelt hat. Homogener und klassischer biedert sich das kommende Material an – und das ist nicht negativ gemeint.

UmbrA als Frontmann ist dabei eine Macht. Der kleine Mann vereint in sich Wirbelsturm, bösen Blick und Klaus Kinski, dass es eine wahre Freude ist. Den Jungs auf der Bühne macht der Auftritt in diesem plüschigen Umfeld sichtlich Spaß. Und ja, das eine oder andere Grinsen zerfetzt die morbiden Totenmasken der Protagonisten in tausend sympathische Splitter.

Ein echtes Highlight kommt heute aus der vorübergehend nicht länger annektierten Alpenrepublik im Südosten und hört auf den sitcomisierten Namen DON'T CALL ME CHARLIE. Aus dem Dschungel der Musikwelt angepirscht, kommt die Band wie aus dem Nichts und liefert einen dermaßen genialen, nachhaltig einprägsamen und visionären Auftritt, dass es den werten Schreiberling sogar noch Tage danach in eine Paarungsbereiter-Pudel-hebt-den-Schwanz-Stimmung bringt. Das liegt nun definitiv nicht am Äußeren der Band. Ich möchte mich da nicht missverstanden wissen, sexuelle Gefühle können auch durch Musik erzeugt werden. Wobei: Wenn ich in die verzückten Gesichter der anwesenden Damen blicke, deren männliche Begleitung tumb die Steinzeitmenschenstirn verzieht und sich ob der nie in derartiger Größe angeschwollenen Nippel der Holden wundert, die sich da so keck in Richtung Bühne recken, und fragt, wie sie da in Zukunft konkurrieren kann, dann, ja, dann wird klar, dass es hier doch um mehr geht. Und tatsächlich: Dieser junge Mann auf der Bühne, Vilo Zboray, Sänger und Entertainer in Reinkultur, ist der Hingucker in dieser Band. Und das liegt nicht nur an seiner tollen Stimme. Verhalten, Charisma und Ausstrahlung vermitteln das Bild einer Band, die im kleinen Club des Orangehouse nur kurz vorbeischwebt, um in Zukunft die großen Stadien dieser Welt zu bespielen. Wie gesagt, Hammer. Und das sieht das Publikum genauso. DON'T CALL ME CHARLIE werden abgefeiert und ganz ehrlich: Habt ihr die Möglichkeit, diese Nachkommen der großen Rocker irgendwo zu sehen, nutzt sie, verdammt noch mal. Und jetzt Klappe, ich muss tanzen.

Ja, es geht Schlag auf Schlag. Nach fetzigem, hochklassigem Rock 'n' Roll verziehen wir uns jetzt in die Höhlen des progressiven Melodic Death Metal mit einer Menge supermetallischer Elemente. DRYAD'S TREE heißt die Band, die zu Pianoklängen die Bühne entert. Bei dieser Formation sind zum ersten Mal zwei NEIGHBOURS-Mitglieder mit von der Partie: Jasper Werhahn (Keys) und Fabian Ziegler (Bass). Doch die beiden Hauptstützen der Band heißen Reinhard Klein und Leopold Meuer, jeweils an den Gitarren. Voller Power und mit einem großen Geschick für einprägsame Ideen werden die Finger über die Seiten geschickt, als gäbe es kein Morgen mehr.

Die technische Finesse, die DRYAD'S TREE auf die Bühne bringen, ist phänomenal. Kaum zu glauben, dass sich bis dato noch kein Label gefunden hat, das die Band längerfristig unterstützen will. Vielleicht ist dies auch einer der Gründe, warum man sich in Zukunft erst einmal eine Pause gönnt.

Das dargebotene Material ist definitiv großartig, gerade die Songs der letzten EP "City Of Eyes" sind eine Macht. Leider lässt es sich Frontmann Reinhard nicht nehmen, auch die melodiösen und klar gesungenen Passagen selbst darzubringen. Dieses Unterfangen scheitert schlicht an der recht dünnen und unsicheren Stimme des sympathischen Musikers, über welche er an dem heutigen Tag gebietet. Basser Fabian Ziegler unterstützt ihn zwar phasenweise, was dem Gesamtklang äußerst guttut, doch wahre Freude kommt ob des krassen Gegensatzes zwischen technischer Finesse, tollem Songwriting und einem arschtighten Gig gegenüber der Gesangsleistung einfach nicht auf. Nichtsdestotrotz ist dies nur ein kleiner Wermutstropfen, der das Publikum nicht davon abhält, alles zu geben.

Ich hoffe, dass es sich die Band noch einmal ganz genau überlegt, ob sie wirklich eine Pause machen will, denn die Energie des heutigen Abends hat sich sicherlich nachhaltig – und positiv – eingeprägt.

Nach diesem hochklassigen Gemenge lauter Musik für Herz und Ohr verlangt es nach einer Pause, für die die nachfolgende Band herhalten muss. STEEP bieten einen gefälligen Power-Pop-Rock-Kompromiss, der vielleicht etwas weniger Stimmung erzeugt, aber durchaus die Schokoladenseite im Publikum anspricht. Mein Verhältnis zum Indie ist durchaus getrübt, weshalb die Pause nicht zu Unrecht zu diesem Zeitpunkt gesetzt ist. Doch tatsächlich, die letzten aus Komplettierungsgründen gehörten Songs stellen zwar nicht die Notwendigkeit einer Pause in Frage, zeigen aber durchaus, warum STEEP absolut zu Recht für die NEIGHBOURS anheizen dürfen. Das Publikum erwartet nämlich ein mit bunten Melodiebögen und Riff-Lampions verhängtes Orangehaus, das für Freunde nachdenklicher Melodien kaum Fragen offen lässt. Die Band schöpft dabei aus 60 Jahren Pop-Geschichte, setzt aber durchaus eigene Duftmarken, die mitreißen. Schön!

Der Abend neigt sich dem Ende zu, doch bevor die Neigung auch zur harten Realität wird, kommt nun also endlich jene Band auf die Bühne, die für dieses invertierte Schlamassel in die Pflicht genommen werden muss: THE NEIGHBOURS. Wenn man bedenkt, dass alle nun auf die Bretter stürmenden Musiker schon mindestens einen Auftritt hinter sich haben, ist die Energie, die die Herren auf das bringen, was die Welt bedeutet, einfach unglaublich. Ohne jegliche Ermüdungserscheinungen (sieht man von verkrampften Fingern, Schlafzimmerblicken und ersten rheumatischen Gichtanwandlungen ab – ist natürlich Quatsch!) heißt es nun also intellektueller Rock für ein in-introvertiertes, also extrovertiertes Publikum, das sich in einem transzendenten Pool aus goldenem Gerstensaft versenkt hat. Was ich damit sagen will? Die Stimmung ist der Wahnsinn.

Zu den groovenden Klängen von 'Cannibal Days' beginnt also die wahnwitzige Reise durch den nachbarschaftlichen Vergnügungspark, der Besuch der Revue des Rockteufels (siehe "Pick Of Destiny"), wird die Kiste der Rockpandora geöffnet und für den Fortgang des Auftritts auch nicht mehr geschlossen.

Die Band ist verdammt gut drauf und technisch unglaublich fit. Der Gig macht von Anfang an Laune und hält den Spannungsbogen bis zum Ende aufrecht. Also gebogen. Nach oben.

Die Einflüsse der NEIGHBOURS aufzeigen zu wollen, wäre ein Unterfangen, das den Umfang gewohnter Artikel um ein Vielfaches überträfe. Um es vorsichtig zusammenzufassen: Von Rock über Metal bis Pop, Rap und Funk ist alles dabei, Screams reihen sich an West-Coast-Lines und konkurrieren mit fetzigen ELVIS-Gedächtnis-Fragmenten. Klingt komisch? Ja, verdammt, ist es auch! Aber dieser Witz, den die Exiloberländer da an den Tag legen, gepaart mit unzweifelhaftem Talent und der Fähigkeit, alles und jeden auf die Schippe zu nehmen – dabei natürlich vor allem sich selbst –, ist auch noch Tage nach dem Gig Quell intensiver Freude. Und da die Analyse – respektive Interpretation – möglicherweise die gemeinste Ausgeburt der Satire ist, möchte ich darum bitten, sich diese Band mal auf der MySpace-Seite zu geben. Einfach, um einen Eindruck für die musikalische Monstrosität dieser hypertrophen Kreativköpfe zu bekommen. Natürlich darf der historische Moment der musikalischen Gegenwart nicht fehlen, und so bitten die NEIGHBOURS einen alten Mitstreiter auf die Bühne, der sich geschwind die Satriani-Signature umhängt und die Fingerkuppen über die Täler der Ibanez schickt. Das macht der Uli (ich hoffe der Name ist richtig notiert – nix für ungut) richtig gut und bekommt dafür berechtigterweise eine Menge Applaus.

Setlist THE NEIGHBOURS:
Cannibal Days
You Brake You Lose
Life's Just A Game
Experimental Animals
Wastin' Life
Going Mad
Another Five
Gasbag Inc.
Afraid Of You
Pirate Smile
Summer Again
Swimming Pool
Instead Of Me
Don't Cry Little Woman
Lukewarm Summer Nights
Bleach Your Butt!
TV Smile
Broken Wings

Während die Initiatoren die letzten Töne aus den weiten Ärmeln schütteln, sich die Konzertschwärmer mit Merchandise eindecken und auch die Brauereibilanzen im schwarzen Bereich gehalten werden, machen sich die Münchner Kult-Ska-esen (!?) auf den Weg, noch das letzte bisschen Energie aus den Anwesenden zu kitzeln. Leider ist der Mond längst aufgegangen, und all die braven Kinder sind seit Stunden im Bett, weshalb sich das Rund merklich geleert hat. Nichtsdestotrotz verbreiten die Profis von den BENUTS sofort eine Menge Stimmung und leiten das Publikum noch ein letztes Mal in Tanzgefilde und Partyregionen.

Mir ist es zu spät, und so schließe ich mich den Weicheiern an, die das Konzert vor dem regulären Ende verlassen. Doch was soll nach solch einem Beginn noch schiefgehen? Eben, von daher bin ich beruhigt, und die Verbliebenen erzählen im Nachhall, dass die BENUTS ordentlich gerockt hätten und ein würdiger Ausklang eines tollen Abends gewesen seien - zumal sich mit Sylvester (Gesang) sogar noch ein alter Bekannter auf die Bühne getraut habe.

Ja, ein toller Abend! Das ist das Fazit, das diese mutige Aktion, sieben völlig verschiedene Bands auf die Bühne zu bringen, absolut verdient hat. Der Zuspruch der Anwesenden war überwältigend, und so steht schon jetzt fest, dass es eine wie auch immer geartete Fortsetzung im folgenden Jahr geben wird. Und ich bin mir sicher, dass jeder Besucher auch 2011 wieder auf dem Inzestival in München den komischen Irrungen und Wirrungen paarungsreifer Musiker folgen wird.

Redakteur:
Julian Rohrer
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