State Radio - München

08.04.2008 | 14:11

20.03.2008, 59 to 1

Am 20. März trägt es mich zum ersten Mal ins "59 to 1", einen Club in der Münchner Innenstadt, um mir meine politische Entdeckung des Jahres 2007 live anzugucken: STATE RADIO. Nach der spannenden CD "The Year Of The Crow" und dem nicht weniger interessanten Interview mit den Jungs, das doch so manche interessante Einblicke in das Wesen kritischer amerikanischer Künstler aufzeigte, bin ich gespannt, wie sich die Herren von drüben (also dem Atlantik) live präsentieren werden.

Meinen ersten Kulturschock erleide ich gleich zu Beginn, als wir, das bedeutet meine Fotografin und ich, am Einlass wartend Zeit haben, das anwesende Jungvolk zu betrachten. Wahnsinn, so viele junge Mädels im Emo-Kostüm, auf ultra-alternativ getrimmt, immer bewaffnet mit geladener Handy-Camera und Kajal Marke "extra-schwarz" habe ich wohl zuletzt auf dem DIMMU-Konzert in München gesehen. Aber im Ernst: Der Altersdurchschnitt liegt bei grob geschätzten fünfzehn Lenzen, und dementsprechend aufgedreht soll das Konzert im Anschluss werden. Ich persönlich hatte mich ja auf Infostände mit Öko-Tussen, denen BHs und andere moderne Innovationen wie Kosmetik oder Deodorant völlig fremd sind und die einem die Patenschaft für einen Zwergmahagonibaum in Mittel-Zentral-Südkorea aufschwatzen wollen, eingestellt. Weit gefehlt. Das fehlt völlig, ebenso wie jegliche Anwesenheit einer wie auch immer aktiven Gruppierung oder Organisation. Irgendwie schade, da STATE RADIO eine wahrlich ansprechende und konstruktive Message verbreiten.

Nichtsdestotrotz entern pünktlich um 21.30 Uhr GHOST OF TOM JOAD die Bühne im mittlerweile recht gut gefüllten "59 to 1". Der Club selbst ist relativ klein, eine Seite durch die Bühne bestimmt, die mehr oder weniger direkt im Raum steht, eine durch das DJ-Pult und die restlichen zwei durch eine lange Bar. Klein, aber gemütlich, so mein erstes Fazit. GHOST OF TOM JOAD kommen nach eigenen Worten aus Münster und fahren einen spritzigen Punk/Rock/unverzerrter-Teenie-Indie-Pop-Sound, der mich schon nach dem zweiten Lied anödet und nervt. Die "mega-funny Ansagen" (um im Duktus meiner dreizehnjährigen Konzertnachbarin zu bleiben) des Sängers erfüllen mich ebenso wie die Rumhampelei des Bassisten mit dem unerklärlichen Drang, kleinen rosa-plüschigen Dingen so lange wehzutun, bis sie mich nicht mehr mit ihren großen, "wahnsinns-sweeten" (s. o.) Glupschaugen angucken. Aber ich schweife ab. Das erklärte Highlight ist die (wahrscheinlich mühsam einstudierte) "super-spontane" (s. o.) Kodo-artige Drumsession der Musiker, aufgebaut aus Schellen (Bassist), Stand-Trommel (Sänger) und natürlich Drums (wer hätte es geahnt: Drummer). Nach einer halben Stunde sind die "zum Ablecken süßen Jungs" (s. o.) endlich wieder runter von der Bühne, und ich wünsche mir gaaaaanz spontan wieder so was Süß-flauschiges mit Pony im Gesicht, um einfach reinzuhauen.

Zum Glück hat das Warten eine halbe Stunde später ein Ende, und STATE RADIO machen sich auf, die Hauptstadt des schönsten Bundeslandes Deutschlands mit ihrem gefälligen Mix aus Reggae, Punk und Rock zu beschallen. Los geht es mit dem Gassenhauer 'Fight No More', der sofort klarmacht, dass ab jetzt eine große Tanzparty angesagt ist. Außerdem bewahrheiten sich auch die Worte Chads, der im Interview betont hat, dass STATE RADIO eine Live-Band sind. Aus diesem Grund klingen STATE RADIO auf Platte wie live sehr gleich, was ich als rundum positiv empfinde. Und Energie haben die Jungs.

Nach 'Black Cab Motorcade', das einen wundervollen "Slide-Bass" aufweist, wird im Publikum erstmal die Schminke und der Sitz der Kleidung kontrolliert – spannend: sowohl bei Weibchen als auch bei Männchen. Erinnert irgendwie alles an Black Metal und die panische Angst vor verlaufendem Corpsepaint. Aber ich schweife schon wieder ab. Das Publikum geht ab, die Leute tanzen, bei 'Guantanamo' wird der Refrain mit einem mehrstimmigen Prä-Stimmbruch-Chor gepiepst und zu 'Gang Of Thieves' kräftig die Rübe ebenso wie alles andere geschüttelt. Spätestens bei 'People To People' wird deutlich, was STATE RADIO ausmacht: der Mut, verschiedene Stile zu kombinieren, verbunden mit der Fähigkeit, diese authentisch spielen und schreiben zu können. Und so wechseln sich Reggae-Off-Beat-Parts mit SABBATH/ZEPPELIN-Groove-Riffings und Fast-Forward-Punk-Rhythmen ab. Das und die sympathische Art der Jungs bringen das Publikum dazu, ihnen auf Knien zu begegnen - nein, nicht für das, was ihr jetzt denkt (fünfzehn, hallo?) - und aus der Hand zu fressen. Und ich darf ganz neidlos feststellen: zu Recht.

Bei 'CIA' klatschen wir alle fröhlich in die Hände, und ich glaube, wirklich niemand kann sich der Energie und der Spielfreude des Trios entziehen. Zu 'As With Gladness' fliegt der erste (und letzte) Crowdsurfer des Abends durchs Publikum, was allerdings mit bösen Blicken und hektischen Frisur-Korrekturen quittiert wird. Meine Nachbarin dazu lapidar: "Tja, verkackt, Alter." Genau, dem kann ich mich nur voll und ganz anschließen. So ein Rüpel.

Chad, Bandleader, Sänger und Gitarrist, ist mit Sicherheit die faszinierendste Person an diesem Abend. Relativ introvertiert mimt er den Anti-Frontmann immer mit einem leisen Lächeln auf den Lippen, und so hat er das Publikum auch ohne großartiges Gepose in der Hand. Alle anwesenden Kids hängen ihm an den Lippen, als er von den schlimmen Dingen berichtet, die zurzeit in Darfur geschehen, und zu mehr Solidarität und Offenheit aufruft. Meine Nachbarin dazu: "Ooooooh wie süß. Schnell ein Foto, ein Foto. Bin ich noch mit drauf? Ja, was? Der dunkle Fleck da? Cooool!". Ohne Worte.

Immer wieder fliegen die Jungs für einige Momente in andere musikalische Sphären und jammen vor sich hin. Nie langweilig, immer spannend – mehr davon! Irgendwann, als das Publikum schon kurz davor ist, sich endgültig mit dem einzig erlaubten Apfelsaft die Rübe abzuschießen, packt sich Chad eine selbstgebaute Gitarre, gebaut aus einem Benzinkanister, und setzt damit einen optischen Glanzpunkt in diesem Konzert, der von meinen Nachbarinnen aber mit nicht mehr als einem kurzen Nicken abgetan wird, bevor sie sich für die nächsten Stunden in dem wirren Haar und den (ab jetzt) angesagten Klamotten Chads verlieren [mach davon mal 'ne hübsche Zeichnung! - d. Red.]. Jedem das Seine.

Kurz vor zwölf verlassen STATE RADIO zum letzten Mal die Bühne, nicht ohne einige Zugaben gespielt und artig "Danke" gesagt zu haben. Mein letzter Kulturschock erwartet mich schlussendlich vor den Türen des Clubs, wo sich zum Teil dramatische Szenen abspielen: Väter schließen ihre für immer verloren geglaubten Töchter in die Arme, als wären sie nicht eben auf ihrem ersten Konzert, sondern in den sieben Höllen der Unendlichkeit gewesen. Andere zählen den Zigaretten-, Apfelsaft- und Kajal-Konsum, wieder andere können ihr Glück kaum fassen, in der ersten Reihe getanzt zu haben, und noch andere meinen, kurz von Chads Haaren gestreift worden zu sein. Ein guter Ansatz, sich zwei Monate mal nicht zu waschen und ein wenig Abstand vom Nutten-Image zu nehmen, oder? Aber mein gut gemeinter Ratschlag wird mit einem kurzen, debilen Augenzucken quittiert, basierend auf der Erkenntnis, dass es sich hier nicht um einen coolen Indie-Rocker mit Weichspülgarantie, sondern einen aus-/ungewaschenen Metaller handelt [ja, vor allem um einen "ausgewaschenen Metaller" ... - d. Red.], so dass wir uns schnell in die noch junge Nacht trollen. Nicht, dass irgendein verstörtes Jüngelchen noch meint, mit mir über "total schnieke" Rock-Musik reden zu müssen. Gute Nacht.

Redakteur:
Julian Rohrer

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