UNHEILIG - Erfurt

11.04.2010 | 15:56

20.03.2010, Thüringenhalle

Von null auf eins in wenigen Tagen. Und von hoher See ins schöne Thüringen geht es sogar noch schneller!

Ein Raunen geht durch unser Auto, als wir die zwei endlos erscheinenden Menschenschlangen vor der Thüringenhalle erkennen. Es wirkt wie eine Völkerwanderung. Der friedvollen Lösung sind wir uns Gott sei Dank bewusst: UNHEILIG! Mit dem aktuellen Album "Grosse Freiheit" sofort auf Platz eins geschossen und an dieser Position auch nach zwei Wochen noch festhaltend, ruft heute der Graf höchstpersönlich die Schwarzgeseelten unter uns auf, die Fahnen zu schwingen. Warum es mir bei dem Gedanken jetzt schon mulmig wird, weiß ich allerdings nicht.

Gemeinsam aus der Trickkiste springen heute die Melancholie-Rocker DIARY OF DREAMS und die quirligen Jungs von ZEROMANCER - seltsame Kombination, die aber definitiv zu gefallen weiß. Was allerdings für weniger Amüsement sorgt, ist der Fakt, dass unsere norwegischen Freunde fünf Minuten zu früh die Bretter erklimmen, so dass im Raucherbereich erst einmal Hühner aufgeschreckt werden müssen.

Zu allem Übel muss man außerdem feststellen, dass Alex, Kim und Co. heute anscheinend nicht gesehen werden wollen. So verschwinden sie hinter dicken Nebelschwaden und widerlich energiesparendem Licht. Tolle Wurst, dann lieber Augen schließen und die Musik erleben, um nicht in Enttäuschung zu verfallen.

Bereits nach dem Opener wird mit 'Clone Your Lover' ihr bestes Stück ausgepackt und stimmungsmäßig ordentlich auf die Kacke gehauen. Auch wenn man nicht richtig sieht, was passiert: Kim und Alex heizen wie eh und je bester Laune über den Acker und feuern die Meute unaufhörlich mit süßen norwegischem Akzent an - wer hier immer noch einen Stock im Arsch hat, soll doch lieber rausgehen und rauchen.

Als Support leider mit wenig Handlungsspielraum ausgestattet, reißen die Jungs jedoch eine gelungene Auswahl ihrer feinsten Spezialitäten von den Saiten. Beim Titelsong des Longplayers "Sinners International" entblößt Alex den braungebrannten Oberkörper, bei 'Sounds Like Love, Looks Like Sex' platzt mir die Gürtelschnalle auf. Es walzt, es dröhnt, es schießt sofort in den Kopf. Alex räkelt sich lasziv, während das Publikum Köpfchen und Beinchen schwingen lässt - erste Sahne!

Nach dem DEPECHE MODE-Cover 'Photographic' und dem berühmt-berüchtigten 'Dr. Online' verabschieden sich die smarten Jungs auch schon wieder unter schallendem Applaus! Sehr kurz, aber sehr gut. Bis zum nächsten Mal!

"In solchen Momenten wünschte ich mir, ich hätte eine Panikstörung" - na ja, solange man noch sinnlose Witze verbreiten kann, geht's ja! Im Raucherraum herrscht Menschenauflauf, so dass man sich das Rauchen nur zu leicht abgewöhnen kann. Also zurück in die Halle, wo nun DIARY OF DREAMS das Zepter schwingen wollen.

Nach wenigen Minuten erlöschen bereits die Lichter, und Mastermind Adrian Hates kommt auf die Bühne gesprungen bzw. hangelt sich den Steg entlang. Sofort schickt er uns in einen bittersüßen qualvollen Traum. Betäubt, erstarrt, nach innen gekehrt - so könnte man wohl die Gesichtsausdrücke des Publikums beschreiben. Mit einem heftigen Tritt in die emotionale Gegend fliegen wir wie Crashdummys von dem zermürbenden 'King Of Nowhere' bis zu dem erschütternden 'She And Her Darkness' durch ein Labyrinth aus Weltverdrossenheit, Einsamkeit und Traurigkeit.

Adrian wirkt verloren in seinen Gedanken, während die musikalische Truppe aus Gaun:A, D.N.S. und Flex zu dieser Gefühlsduselei die entsprechende Untermalung beisteuert. Übrigens hat sich zur Freude der männlichen Besucher mittlerweile Keyboarderin und Augenschmaus Leandra (Ophelia Dax, JESUS ON EXTASY) in die düstere Formation geschlichen!

"Sind denn Traumtänzer hier?" Zu spät für das kleine vernarbte Herz. Wer seinen Kummer jetzt nicht kräftig in Ethanol ertrinkt, fliegt erneut durch den emotionalen Boxring, in dem heute niemand gewinnen kann. Was bleibt, sind Jägermeisterbecher auf dem Boden und Reste klebriger verratener Träume. Mensch, Leute, nun ist aber Schluss hier!

Was auch immer die Intention der Jungs heute war, bewegt haben sie wohl einiges. Basierend auf dieser gedrückten Atmosphäre, wird es nun für den Grafen ein Leichtes sein. den Helden zu mimen, indem er uns dieser Gedankenwelt mit seinen Kraft schenkenden Botschaften entreißt und jedem der hier Anwesenden ein stärkendes Lächeln auf die Lippen zaubert.

Doch jetzt sorgen erst einmal APOPTYGMA BERZERK aus den Boxen für eine aufregende Umbaupause, bevor dann ganz langsam die Spannung steigt, auf der Bühne der obligatorische Schwibbogen aufgebaut wird und sogar ein Schiffsbug sowie eine Videoleinwand den Anblick verschönern. Erfurt ist allein von diesem Anblick ergriffen und bricht taktweise in Jubel aus - UNHEILIG.

Dann endlich ertönt das Intro, die Leinwand wird angeschaltet, der Graf läuft gedankenverloren am Meer entlang und findet eine angespülte Flasche. Welches Geheimnis sich hinter dieser Geschichte wohl verbirgt? Plötzlich kommt der Graf auf die Bühne geschossen, sprintet auf den Steg, während alle Hände hochgehen und Erfurt ganz manisch jedes Wort des Openers 'Seenot' vertont. Muttis holen ihre Taschentücher heraus, die Mädels fangen wegen des wilden Gekreisches an zu vibrieren, und Papi freut sich über den schönen Familienabend, während der Familienhund wohl hinten im Familienbereich wartet. So richtig kann ich mir dieses Phänomen UNHEILIG mit meinen weitschweifenden Theorien noch nicht erklären.

"Glaubt ihr an Wunder?" Der Graf wirkt wie ein kleiner Junge, der von der großen Freiheit träumte und sie nun endlich leben darf! Ein Wunder? Wohl kaum - harte Arbeit, ergreifende Lyrics, fesselnde Melodien und immer diese große Portion blinde Hoffnung in allen Texten. Seien wir ehrlich, wie hart muss man eigentlich im Kern sein, um dadurch nicht ein klein wenig aufzuweichen?

Nachdem bei 'Unter deiner Flagge' schon der erste Teil der Crew auf dem tränennassen Deck ausgerutscht ist, nimmt uns der Graf mit auf alten Kurs. Er pustet den Staub vom 'Feuerengel', welcher die Kompassnadel weiter in Richtung Sentimentalität dreht. Volle Fahrt voraus!

"Wollen wir zusammen nach den Sternen greifen?" Es ist wirklich faszinierend, wie charismatisch der Graf seine Mannschaft leiten kann. Doch genauso schnell leitet er ein Wendemanöver ein und bereitet mit 'Abwärts' ein riesiges Fest.

Zurück bei "Grosse Freiheit" lässt er nun seine berüchtigte Hüfte schwingen und den kleinen Rocker raushängen. Er lässt alle Anwesenden in die Hocke gehen und wieder in die Luft springen. Ob wir seinem Befehl gehorchen? Keine Frage, Erfurt tanzt den Wolf und feiert sich selbst! Oh, der Graf hat einen Stein gefunden. Ob er ihn auf dem Wasser tanzen lassen möchte? Der Star des Abends geht an Bord und schmettert stolz vom Bug seines Schiffes 'Halt mich' in die Runde - darüber braucht er sich bei seiner Fangemeinschaft wohl erst einmal keine Sorgen zu machen.

Doch genau dies weiß der Graf auch zu schätzen. Er richtet das Wort an seine Fans und bedankt sich bei jedem Einzelnen dafür, dass er ihm auf der ganzen Reise immer so viel Kraft schenken konnte. Ich meine, hinter mir ein Schluchzen zu hören. Packt die Wunderkerzen aus, es ist Zeit für 'An deiner Seite', welches mit Freudentränen gefeiert werden muss - das große Schiff muss ja weiterhin etwas zum Überqueren haben.

Doch wer will hier denn etwa leise sein? Heraus mit der Willenskraft und zu 'Freiheit' abhotten, bevor wir mit 'Astronaut' ins Weltall vorstoßen. Zurück auf der Erde angekommen, zeigt die Videoleinwand ein Ticket von London nach Hamburg, während die Kamera weiter über das Hamburger Dockland streift. Mit dem Titeltrack des aktuellen Longplayers "Grosse Freiheit" kommt mehr als nur Fernweh auf, während wir durch Hamburgs Straßen geführt werden. Doch dadurch bitte nicht das Getriebe rosten lassen! Zeit, um die 'Maschine' zu reparieren. "Helft ihr mit?" Ein einfaches "Klick-klick-klack" reicht vollkommen aus, um die Halle in ausgelassene Tanz- und Gesangsfreude ausbrechen zu lassen. Der Graf fällt vor Überwältigung auf die Knie.

Nach dem kraftvollen 'Für immer' wird das reguläre Set beendet und mit 'Lampenfieber' der erste Zugabenblock eröffnet. 'Geboren um zu leben' lässt die Augen glänzen und zugleich voller Frohsinn leuchten. Die Luft wird plötzlich zum Schneiden dick vor lauter Hoffnungsschwaden. Der Graf öffnet sein Herz: Es tut ihm in der Seele weh, wenn nicht jeder noch so kleine Fan nachher von ihm ein Autogramm bekommt. Wow, zum allerersten Mal in meiner Konzerterfahrung kaufe ich jemandem solch einen Spruch ab! Ahoihoi!

Mit dem Klassiker 'Mein Stern' stoßen wir nun in die letzte Runde vor. Feuerzeuge, Handys, alles, was irgendwie Licht schenkt, wird herausgekramt. Ja, sogar die Fotografen unter uns halten plötzlich Wunderkerzen in ihren Händen! Zum großen Finale steigt der Graf ein letztes Mal aufs Schiff und schwingt unermüdlich eine riesengroße Fahne: "Lebe nur den Augenblick. Könnt er doch bloß endlos sein ..."
[Gastautorin Nadine Ahlig]

Fotos: Christin Kersten

Setlist UNHEILIG
01. Das Meer (Intro)   
02. Seenot     
03. Schenk mir ein Wunder   
04. Unter deiner Flagge    
05. Feuerengel    
06. Abwärts    
07. Halt mich     
08. An deiner Seite
09. Freiheit
10. Astronaut
11. Grosse Freiheit    
12. Kleine Puppe
13. Unter Feuer    
14. Maschine
15. Für immer    
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16. Lampenfieber
17. Geboren um zu leben    
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18. Ich gehöre mir     
19. Mein Stern

Redakteur:
Enrico Ahlig

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