ANATHEMA: Interview mit Les Smith

01.01.1970 | 01:00

„A Fine Day To Exit" nennt sich das neue Album von ANATHEMA, Liverpool’s finest. Es ist mit Sicherheit die erwachsenste und am meisten ausgereifte Platte in der Bandgeschichte geworden - wenn man der Promotionsagentur Glauben schenken darf, so ist es sogar die Scheibe geworden, auf die ANATHEMA in den zwölf Jahren ihres Bestehens stets hingearbeitet haben.
Ein Schelm übrigens, wer bei Plattentitel und Cover etwas falsches denkt - ANATHEMA schwelgen sich weder in hoffnungslosen Selbstmordphantasien noch in abgrundtiefer Traurigkeit, wie Keyboarder Les Smith zu berichten weiss:

Rouven: Habt ihr bisher schon Feedback zu „A Fine Day To Exit" bekommen?

Les: Ja, zwar noch nicht allzu viel, da das Album erst Anfang Oktober veröffentlicht wird, aber das, was wir bisher gehört haben, war durch die Bank weg äusserst positiv. Wobei das mit den neuen Alben ja meistens so ist, haha! Aber ich denke schon, dass die Kritiker und insbesondere die Fans mit dem Resultat zufrieden sein werden. Wir sind es auf jeden Fall!

Rouven: Das letzte Album, „Judgement", erschien bereits ’99. Wieso habt ihr diesmal vergleichsweise so lange gebraucht?

Les: Das ist ‘ne gute Frage! Geschrieben war das Material für „A Fine Day..." recht schnell, was uns so lange aufgehalten hat, war die Pre-Produktion, die ganze Mischerei. Wir waren zu oft mit dem Resultat nicht zufrieden, so dass wir eine Menge Zeit mit dem Neueinspielen verbracht haben. Dazu kam noch, dass Dave (Pybus, ex-Bassist und jetzt bei CRADLE OF FILTH - d. Verf.) sehr selten zu den Proben und den Aufnahmen erschienen ist. Eine Kombination aus allen möglichen Schwierigkeiten also.

Rouven: Damit wären wir auch gleich beim nächsten Punkt: Wieso hat Dave die Band verlassen?

Les: ANATHEMA war einfach nicht mehr sein Ding. Er wollte mehr „Metal" sein, deshalb wohl auch CRADLE OF FILTH. Mehr gibt’s dazu nicht zu sagen...

Rouven: Habt ihr denn schon einen Ersatz gefunden?

Les: Ja, eine Art Sessionmusiker, einen guten Freund der Band. Der hat mit uns auch vor ein paar Wochen bei einem Gig in Budapest gespielt, und das war einer der besten Auftritte die wir je hatten! Also müssen wir uns darüber nicht allzu grosse Gedanken machen. Einen festen Ersatz gibt es allerdings noch nicht.

Rouven: Dass Daves Ausstieg die Aufnahmen zu „A Fine Day..." etwas behindert hat, hattest du erwähnt. Inwiefern hat er denn an der Entstehung des Albums noch mitgewirkt?

Les: So gut wie gar nicht, die Musik schreiben ja fast immer Vincent und Danny (Cavanagh, Gesang und Gitarren - d. Verf.) zusammen. Die meisten Bassparts hat er auch eingespielt, die restlichen haben sich ebenfalls Vincent und Danny geteilt.

Rouven: Gibt es eigentlich eine Art Konzept bei „A Fine Day..."? Wenn man sich das Cover betrachtet, dann könnte man doch an eine äusserst negative Grundstimmung mit Selbstmordmotiven und ähnlichem denken...?

Les: (lacht) Nein, es gibt kein direktes Konzept, und ganz bestimmt nichts derart negatives! Meistens geht es in den Songs um alltägliche Dinge wie Beziehungen oder die Flucht aus dem Alltag. Mit Selbstmord hat das Ganze nichts zu tun, auch wenn das Coverartwork zugegebenermassen danach schreit - es ist provokativ und ruft zum Anzweifeln auf. Die ganze Band hat das Coverartwork gemeinsam entwickelt, und dahinter steckt die Idee eines Neuanfangs nach einem vorgetäuschten Selbstmord.

Rouven: Kann aber auch leicht missverstanden werden. Bei den Lyrics ist mir, soweit ich mich damit befasst habe, aufgefallen, dass - z.B. bei „Panic" - ziemlich verwirrende Texte vorherrschen.

Les: (kleiner Lachanfall) Scheisse, wir wussten dass wir damit die nicht-englischsprechenden Leute verwirren würden. „Panic" war der letzte Song, bei dem uns noch die Lyrics fehlten. Aber niemandem ist etwas halbwegs sinnvolles eingefallen, woraufhin John (Douglas, Drummer - d. Verf.) einfach irgendetwas geschrieben hat. Der Text ergibt absolut keinen Sinn, er hat schlicht und einfach irgendwelche Sätze aneinandergereiht. Dass der Song aber dermaßen für Verwirrung sorgen würde, ist echt klasse, haha! Die restlichen Texte sind allerdings mehr oder weniger im normalen Rahmen gehalten, wie bereits erwähnt.

Rouven: Na toll, und ich mach’ mir hier Gedanken, ob ich es etwa mit besonders anspruchsvoller Lyrik zu tun habe.
Im Vergleich mit dem Vorgänger „Judgement" ist „A Fine Day..." alles andere als eingängig geraten. Besonders diese psychedelische Atmosphäre war man von ANATHEMA bisher nicht gewohnt - steckt da Absicht dahinter?

Les: Nein, nicht wirklich. Wie haben einfach Song um Song geschrieben, ohne uns über die musikalische Ausrichtung des Albums Gedanken zu machen. Jedes Stück ist individuell und ein gleichberechtigter Bestandteil des Gesamtwerks. Wobei „A Fine Day..." schon ein Schritt in eine etwas andere Richtung als bisher war, das stimmt. Allerdings ein ungeplanter!

Rouven: Man liest eine Menge darüber, dass ANATHEMA nun endlich den „grossen Schritt" geschafft haben und mit „A Fine Day To Exit" endlich den Durchbruch an die Weltspitze schaffen, an der sich so illustre Namen wie RADIOHEAD oder TOOL tummeln. Glaubst du, dass ihr das schaffen könnt? Oder ist euch der kommerzielle Erfolg völlig egal?

Les: Nein, natürlich nicht. Wir möchten ja auch mit unserer Musik Geld verdienen, und das war bisher mangels überragender Verkaufszahlen doch recht schwer. Ob wir es mit „A Fine Day..." schaffen, ist die Frage. Das Album an sich wäre gut genug, aber in England hast du momentan eine Art „amerikanische Welle", wenn mal nicht gerade die „tollen" Acts aus den USA am Start sind, dann versuchen die hier heimischen Bands, wie sie zu klingen. Von daher kannst du die heimische Szene total vergessen. Letztens war ich bei den Kerrang-Awards (unsere News-Fraktion berichtete - d. Verf.), und hab’ mir eigentlich nur noch an die Stirn gegriffen. Das ist ja nicht zum Aushalten! Bis auf einige Ausnahmen hat man es mit qualitativ Hochwertiger, aber nicht trendmässiger Musik eben sehr schwer.

Rouven: Haben RADIOHEAD euch eigentlich beeinflusst? Bei fast jedem Song auf „A Fine Day..." könnte man meinen, die haben zumindest als eine Art Inspirationsquelle Pate gestanden...

Les: Richtig geraten! Waren es bei „Judgement" noch PINK FLOYD und Konsorten, so sind RADIOHEAD momentan bandintern mächtig angesagt. Und wenn man auf eine Band ziemlich abfährt, die stilistisch gar nicht mal so weit von einem entfernt ist, kann es schon mal gut passieren, dass da einige Parallelen auftauchen. Geklaut haben wir aber nicht!

Rouven: Das würde euch ja auch keiner unterstellen.
Auch wenn „A Fine Day..." teilweise doch recht düster klingt, so ist die Scheibe, finde ich, bei weitem nicht so negativ und traurig ausgefallen wie insbesondere „Alternative 4" oder auch „Judgement".

Les: Ja, das stimmt. „Alternative 4" war von einer sehr negativen und traurigen Grundstimmung durchzogen. „Judgement" ging in eine ähnliche Richtung, wobei die Platte deutlich wärmer war. Diesmal haben wir versucht, an die Probleme, über die wir singen, oder an die Dinge, die uns stören, anders ranzugehen, und zwar mit einer gewissen Ironie, mit dem, was man als „Schwarzen Humor" bezeichnet. Es ist diesmal keine Weltuntergangsstimmung zu finden, wir nehmen es mit Humor, dass dies oder das beschissen ist. Ich meine, hey, Lachen ist wichtig, und wieso sollten wir es nicht auch bei den Dingen tun, die uns nerven? Und schliesslich ist ja auch nicht alles scheisse! (lacht)

Rouven: Ihr seid bei dem diesjährigen ProgPower-Festival in Holland der Headliner. Freut ihr euch darauf? Und was erwartet ihr von dem Auftritt, nachdem ihr jetzt ja das neue Album im Gepäck habt?

Les: Oh, wir sind Headliner? Cool! Naja, wir freuen uns auf jeden Fall! Ein Auftritt ist auch immer gleichzeitig die Möglichkeit, neue Hörer zu finden. Und gerade mit dem neuen Album haben wir eine ziemlich breite stilistische Line gefunden, die uns sicherlich einige neue Hörer oder Fans bringt. Wir spielen gerne live und freuen uns besonders über das Feedback aus dem Publikum, denn das entscheidet darüber, ob deine Leistung auf der Bühne gut oder zum Vergessen war. Allgemein mag ich das Touren an sich aber nicht so, nur die Auftritte entschädigen einen dafür. Dreiundzwanzig Stunden am Tag bist du im engen Bus, in miefigen Backstageräumen oder würgst ekliges Essen herunter (und das sagt ein Brite... - d. Verf.), nur um eine Stunde von alledem befreit zu sein. Trotzdem wollte ich das Touren nicht aufgeben!

Rouven: Ist auch eine Europatournee geplant?

Les: Bisher nur eine Woche im Herbst, in Holland und Belgien. Mehr wissen wir noch nicht, auch für Deutschland ist noch nichts bestätigt. Wir wissen allerdings auch nicht, ob wir eine Headlinertour starten sollten oder mit einigen Bands des Labels on the Road gehen. Das wäre dann allerdings wieder ein stilistisches Problem. Mal sehen, was daraus noch wird!

Rouven: Wenn wir gerade beim Touren sind, mit wem würdest du gerne mal live auftreten?

Les: RADIOHEAD!!! (lacht) Ausserdem gerne mal mit Roger Waters oder den QUEENS OF THE STONE AGE. Und wieso dann nicht noch PINK FLOYD? Ich denke mal, das wäre eine Tour, die mit Metal gar nichts mehr zu tun haben würde.

Rouven: Das wäre bei dieser Besetzung auch völlig egal. Die letzte Frage: Was hältst du vom Internet?

Les: Fuckin’ cool! Ich liebe das Netz! Und zu dieser ganzen Diskussion um Napster und mp3s möchte ich nur sagen: Leute, das Internet kann zum Retter der Musik avancieren! Gerade für kleine bis mittelgrosse Bands, die bei einem Label wohl ziemlich untergehen würden, ist das Net das ideale Medium, um ihre Musik unter’s Volk zu bringen oder um sich einen Namen zu machen. Bei einem Label wirst du nur gefördert und bekommst das nötige Kleingeld, wenn du auch Verkaufszahlen vorweisen kannst. Und wie soll das gehen, wenn du erst einmal bekannt werden musst? Also ab in’s Netz und sich dort einen Namen machen. Ich find’s gut!

Rouven: Das war’s dann auch schon. Vielen Dank für das Interview!

Les: Danke dir auch. Man sieht sich hoffentlich auf Tour.

Redakteur:
Rouven Dorn

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