ANATHEMA: Interview mit Vincent Cavanagh

13.01.2013 | 09:26

Ein ausführliches Interview mit Vincent über ANATHEMA und Musik im allgemeinem und speziellem nach ihrer Show im Vorprogramm von OPETH in Hamburg.

Erstmals herzlichen Glückwunsch zur Show! Wie hat sie dir selber gefallen?

Vielen Dank! Es gab ein paar bekannte Gesichter in der ersten Reihe, insbesondere der Typ aus Kolumbien. Es gibt viele Leute, die zu mehr als einer Show kommen, aber es scheint so, als ob wir hier auch ein eigenes Publikum haben. In einem gut gefüllten Raum, vor einem aufgeschlossenen Publikum zu spielen, das ist immer großartig! Die ganze Tour war eigentlich sehr positiv für uns. Außerdem sind OPETH sehr gelassene und nette Leute, das macht es noch besser.

Im April 2012 habt ihr "Weather Systems" veröffentlicht. Was sind deine Gedanken zu dem Album, auch in Bezug auf das vorherige Album "We're Here Because We're Here"?

Ich persönlich denke, es ist etwas besser als "We're Here Because We're Here". Das ist sehr subjektiv, aber ich glaube, dass wir mit den letzten beiden Alben den Standard für uns gesetzt haben, an den wir uns halten müssen. Wir dürfen niemals drunter fallen, verstehst du, wie ich das meine? Ich glaube, dass es interessant wird, was wir als nächstes machen, denn wir müssen was davor war toppen. Aber da sind wir immer zuversichtlich. Die Reaktionen zum Album waren großartig! Es wurde gut aufgenommen und bejubelt, darüber bin ich natürlich sehr froh, aber das interessiert mich eigentlich nicht. Ich halte nicht Ausschau nach Kritik, sei sie negativ oder positiv, denn ich habe meine eigene Meinung. Wenn ich der Meinung bin, dass die Arbeit vollbracht ist, wenn sie also vollständig ist, dann bin ich zufrieden. Wenn es sich falsch oder nicht vollständig anfühlt, selbst dann weiß ich es auch. Es ist vielleicht eine engstirnige Art zu denken, aber es ist nur meine Meinung und die zählt am Ende des Tages, denn ich höre nicht wirklich auf andere. Es ist natürlich toll, wenn unsere Musik gefällt. Aber die Herausforderung im Schreiben liegt in der Arbeit selbst. Du weißt wann sie fertig ist, sie sagt dir, wenn es fertig ist und dann kannst du nichts mehr dran verändern. An dem Punkt angekommen, bist du kugelsicher. Ich fokussiere mich nur auf die Arbeit und setze alles daran sie fertig zu bekommen und dann ist es gut.

Verlief der Schreibprozess zum neuen Album anders im Vergleich zum vorherigen Release?

Ja, es war anders, es ging viel schneller. Einige Songs wurden im Studio geschrieben und entstanden sehr schnell. Es waren vor allem wieder ich, Daniel [Cavanagh, Gitarre JE] und John [Douglas, Schlagzeug JE] für das Album verantwortlich, wir waren die ganze Zeit im Studio. Wir haben aber mit den Produzenten André Cederberg sehr eng zusammen gearbeitet. Er hat einen fantastischen Job gemacht und wurde quasi zu einem Extra-Mitglied der Band. Er war genauso kreativ, wie er den technischen Prozess innerhalb von Dingen beachtet hat. Die Chemie innerhalb der Band war wie eine Offenbarung, sie war dieses Mal viel viel besser als zuletzt gewesen. Das hört sich vielleicht merkwürdig an, da wir schon so lange zusammen spielen, aber es hat dieses Mal sehr gut funktioniert, wahrscheinlich weil weniger Leute involviert waren. Es wurde wie eine vereinheitlichte Zusammenarbeit, eine vereinigte Vision zwischen uns vier.

War das beabsichtigt oder entstand das eher zufällig?

In gewisser Weise beides. Aber es war einfach notwendig, dass die einzigen Leute, die da sind, wir drei und der Produzent waren. Denn wir drei haben hauptsächlich geschrieben und es macht keinen Sinn dabei eine Menge Leute um sich zu haben. Es war fokussierter, wir haben uns auf alle Details konzentriert. Wenn ein Song geschrieben und soweit fertig war, haben wir uns jedes Instrument vorgenommen und auf die Dynamiken geachtet, wie sie sich aufbaut und wie jeder Fortschritt wieder fällt und beim vorigen wieder ansetzt. Wir haben uns auch auf die verschiedenen Tempi, die Notenschlüssel und das Gefühl fokussiert. Die Zusammenarbeit mit André war aus meiner Perspektive sehr frei und kreativ und zugleich auch sehr analytisch. Daniel ist mehr der intuitive Schreiber, John ist eher der Typ, der sich zurücklehnt und weiß, wann es fertig ist und das Gefühl dafür bekommt. Bei mir ist das ähnlich, aber ich analysiere zudem noch die Details und wie Dinge den letzten Schliff bekommen. Ja, ich denke, wir sind ein ziemlich gutes Team.

Ihr seid seit 2010 ziemlich produktiv gewesen...

Yeah! Das fing schon 2009 an. Wir haben im Prinzip vier Alben in vier Jahren veröffentlicht und als nächstes bringen wir eine Blueray-DVD raus, das wird eine große Sache für uns, die wird bald veröffentlicht. Und im Februar haben wir gerade eine Studio-Session gebucht um das Writing-Team noch mal zusammen zu bekommen, um zu sehen, was jeder mitbringt.

Und wie kommt es zu dieser Produktivitätsphase?

Ich glaube, wir hatten ohnehin immer viele Ideen. In der Vergangenheit gab es viele Begebenheiten, die uns zurückgehalten haben, jetzt werden wir jedoch von nichts mehr zurückgehalten und können so kreativ sein wie wir es wollen und alles rauslassen.

Wie ist das Tour-Leben, insbesondere in Bezug darauf, dass fast nur Brüder in der Band sind? Kannst du noch zwischen Privatleben und Geschäft unterscheiden?

Absolut! Als Brüder sind Daniel, Jamie und ich uns so nah wie wir sein können. Du musst für den anderen da sein und ihn unterstützen, du musst ein Freund sein. Die Geschäftsseite ist eher zweitrangig im Vergleich dazu, dass du deine Freunde, deine Familie um dich hast. Eines der besten Dinge in dieser Band zu sein ist, wie nah wir uns sind und wie sehr wir uns respektieren. Mit der Geschäftsseite beschäftigen wir uns anschließend, das funktioniert gut. Es ist sowieso hauptsächlich mein Aufgabenfeld. Da gibt es auch keine Meinungsverschiedenheiten, jeder ist sich vollkommen bewusst, was seine "Rolle" ist, jeder ist damit zufrieden.

Habt ihr über diese Aufteilung gesprochen?

Nein, es gibt zwar ein paar Dinge, über die man reden muss, aber es gab bei uns nie große Diskussionen über so etwas. Wenn es für jeden fair ist, stimmen alle ein - "yeah, das ist cool!" - es gibt also keine Diskussionen, es passiert einfach. Die Geschäftsseite kommt natürlich immer irgendwann zum Zuge, aber sie ist nicht so wichtig. Professionell muss es trotzdem sein, aber untereinander reden wir nie über solche Dinge. Das brauchen wir nicht.

Erzähl uns doch mal etwas über den neuen Mann am Keyboard, Daniel Cardoso. Was für einen Einfluss können wir von ihm als Musiker, Songwriter und vielleicht auch Produzent erwarten?


Ja, bisher sehen wir ihn eher als Produzenten und Musiker, damit geht es erstmals los, aber mal sehen wie es sich mit der Songwriting-Seite entwickelt, aber im Moment haben wir die Schreibseite abgedeckt. Daniel ist ein sehr guter Schreiber auf seine Art und wir sind offen und schauen wie sich die Dinge entwickeln. Aber wir gehen jetzt erst nochmal ins Studio mit den Ideen von mir, Daniel [Cavanagh, JE] und John und schauen uns die Entwürfe von bereits 50 bis 60 verschiedenen Ideen an und wenn daraus schon ein Album entstehen sollte, dann wird es das Album werden, was wir machen. Daniel [Cordoso, JE] ist ein sehr sehr intuitiver musikalischer Typ, er kann jedes Instrument spielen, er versteht also viel davon, was man auf einem Instrument spielen kann. Er versteht auch sehr viel von Performance und Musikproduktion. Er ist einer der talentiertesten Leute, die wir jemals getroffen haben. Er ist ein Alleskönner, er kann alles spielen, er kann singen und er ist ein liebevoller, aufrichtiger Typ mit keinem Ego oder so. Er ist sehr lustig, es macht immer Spaß mit ihm abzuhängen und er ist wie einer von uns. Er begreift, das Freundschaft und die Liebe zur Musik wichtiger als alles andere ist. Er ist also aus gutem Grund bei uns. Wir werden sehen wie es sich entwickelt, es ist vielleicht noch etwas zu früh das zu sagen, aber ich denke, dass man seinen Einfluss auf dem nächsten Abum hören wird, vielleicht spielt er auch etwas Schlagzeug, mal sehen.

Wird die Arbeit mit LEAFBLADE weitergeführt ? [Danny und auch sein Bruder Jamie Cavanagh spielen live oft mit LEAFBLADE. Danny hat der Band im Demostudium mit der Produktion geholfen und war auch auf den Demos zu hören. JE]

Ja, ich denke schon. Ich weiß nicht viel darüber, aber ich weiß, dass Danny Cavanagh und Sean Jude viel zum Album beigetragen haben. [Kevin, JE] Murphy spielte Bass. Darüber, was sie live machen werden, bin ich nicht ganz sicher, aber das Album hört sich in der Tat sehr gut an. Und Sean Jude ist ein Original, er ist ein Genie. Er ist absolut einzigartig, du wirst nie so einen Menschen wie ihn noch mal im Leben treffen. Ich habe noch nicht den letzten Mix vom Album sondern nur Teile gehört, die waren aber toll! Auf den Mix freue ich mich sehr. Aber das ist alles, was ich weiß. Ich erwarte das Album genau wie du (lacht).

Mit eurer musikalischen Ausrichtung seid ihr in der Lage mit vielen Bands zu spielen. So seid ihr bisher zum Beispiel mit PORCUPINE TREE, MARILLION und OPETH aufgetreten. Unterscheiden sich die Publikumsreaktionen entsprechend des Line Ups?

Ja, ich denke schon. Ich würde sagen, dass die OPETH-Fans etwas lebendiger sind, was auch zu erwarten war, aber das PORCUPINE TREE-Publikum war auch großartig. Es ist schwer zu messen, denn wir sind jetzt live eine viel bessere Band als wir es noch waren als wir mit PORCUPINE TREE gespielt haben. Entsprechend bekommt man ganz andere Reaktionen. Verstehst du wie ich das meine (lacht)? Es ist schwer zu sagen, aber in der Tat können wir vor unterschiedlichem Publikum spielen, ich verändere dann einfach die Setlist. Das kann man gut mit Festivals veranschaulichen: Wir können eine Woche auf einem Rockfestival spielen, die nächste Woche auf einem Alternative-Festival und dann etwas, was mehr in die Hippie-Richtung geht und selbst auf Elektro-Festivals können wir spielen oder im Metal-Bereich. Wir haben ein breites Musikspektrum für viele Leute, was ziemlich gut ist, denke ich. Ich freue mich auch darauf zu sehen, wie sich unsere Musik entwickelt, sie ist immer noch am Wachsen, so sehe ich das. Es ist eine Progression. Und eine Vermutung. Denn unser Verstand funktioniert in einer gleichbleibenden Art und Weise, so könnte man es betrachten. Aber für mich ist es wie eine Erweiterung. Es ist, als ob alles aus einem Samen kam, gewachsen ist und es sich von dort aus in alle Richtungen entwickelt und in verschiedene Dinge aufgeteilt hat. Das ist einer der spannendsten Dinge daran, in dieser Band zu sein. Es gibt keine Einflüsse von außen, denen wir uns widmen, wir müssen nicht für andere spielen, wir müssen keine Musik für irgendjemand anders schreiben, zum Beispiel für ein bestimmtes Publikum, um eine bestimmte Anzahl an Alben zu verkaufen oder für ein bestimmtes Label oder für irgendeinen anderen Grund. Sondern nur dafür, dass wir in diese Musik versunken sind und es wird uns nicht ruhen lassen, bis es fertig ist. Und wenn es vollbracht ist, geht es um jeden einzelnen Song. Es scheint, als ob Alben immer als eine Richtung angesehen werden, in die es sich entwickelt, was falsch ist. Leute sagen dann immer: "Euer neues Album hört sich anders an", ja, natürlich tut es das, sie hören sich alle anders an. "Ist das eine Richtung, in die ihr euch entwickelt"? Nein, ist es nicht. Denn es verändert sich immer. Jeder Song ist anders, als der, den ich davor geschrieben habe. Denn wenn du an einem Song an einem Tag schreibst, am nächsten Tag aber in einem komplett anderen Stil schreibst oder denkst, verändert sich natürlich alles. Aber es bist immer noch du, der es macht. Es gibt also keine Begrenzungen bei uns in dem, was wir machen. Wir machen musikalisch was uns beliebt, was immer uns ruft etwas zu machen, wonach auch immer wir uns fühlen. Und das kann alles sein! Im wahrsten Sinne des Wortes!  

Habt ihr auch schon in Erwägung gezogen die ganz alten Songs zu spielen?

Wir haben es in Erwägung gezogen, ja. Das waren bisher aber nur Spekulationen. Es ist Fakt, dass wir sie oft gespielt haben, jeder hat sie vermutlich schon gehört, denn wir haben sie überall gespielt. Es gibt kaum einen Ort in Europa, in dem wir bisher noch nicht waren. Das ziehen wir nämlich in unsere Überlegungen auch immer mit ein. Wir haben bis vor ein paar Jahren noch nie in Bulgarien gespielt, dort haben wir dann 'A Dying Wish' und 'Sleepless' gespielt, denn die Fans dort haben es noch nie gehört. Das ist unsere Einstellung dazu, denn wenn man bestimmte Songs 20 Mal in Deutschland gespielt hat, gibt es keinen Grund sie dort nochmal zu spielen, zudem haben wir viel neues Material, das wir spielen wollen.   

Wenn man die Reaktionen einiger Fans zu euren neuen Songs hört [wie heute Abend auch, JE], liegt die Frage ja nahe, ob ihr schon mal in Erwägung gezogen habt euren Bandnamen zu ändern...

Das ist aber nur ein kleiner Anteil der Fans. Ich beachte solche Aussagen sowieso nicht. Das darf man auch gar nicht, wenn man versucht kreativ zu sein, also wahrhaftig kreativ. Man darf sich nicht drum kümmern, was andere Leute denken. Das zerstört dich nur in deinen Ideen und dabei ist es die Idee selbst, die dir sagt, was getan werden muss. Wenn du eines morgens aufwachst - meinetwegen auch in der Nacht - und du hast diese Melodie in deinem Kopf, die nicht verschwindet, bis du sie aufgeschrieben hast, die dich nicht schlafen lässt, bis alles stimmt, die dich nicht ruhen lässt, bis es fertig ist. Und wenn es vollendet ist, kannst du einen Schritt zurückgehen und überlegen: "was war das?!" Und es könnte jede Art von Musik sein. Aber das Bedürfnis und der Sog genau das zu machen, ist größer als allem, dem du widerstehen kannst. Also warum sollte man in Erwägung ziehen oder darüber nachdenken, was andere Leute denken? Es macht für mich überhaupt keinen Sinn. Die Frage, die du stellst, muss also andersrum beantwortet werden, denn die Reaktionen zu unserer Musik kommen immer erst hinterher, also nach dem alles fertig ist. Und ich habe ja schon gesagt, dass mich das nicht interessiert, denn es ist zu spät. Sobald die Musik steht, ist es zu spät, denn der Prozess ist zu Ende - sorry! Mag es oder mag es nicht, es ist okay, mir ist es egal.  

Wenn du neue Songs schreibst, gibt es Musik von der du sagen würdest, dass sie nicht in die Band passt?

Ohja, allerdings! Wir sind ja nicht dumm, es gibt bestimmte "No-Gos". Insbesondere von den Sachen, die ich schreibe, passen einige nicht auf ANATHEMA. Mit diesen Songs werde ich mal schauen, was ich mache. Aber auch John und Danny schreiben solche Songs. Wir wissen aber ziemlich genau welche Songs passen und welche nicht.    

Worauf fokussierst du dich, wenn du live spielst?


Den Text. Ich fokussiere mich auf den Text. Denn er lenkt mich von allem anderen ab was noch passiert. Dadurch kann ich singen, ohne, dass ich mich wie ein Unterhalter fühle (lacht).

Und was ist dein Lieblingssong im Moment für die Live-Situation?

Das müsste 'The Storm Before The Calm' sein.

Was sind die Zukunftspläne für ANATHEMA?

Die Blueray-DVD, die im Frühjahr 2013 bei Kscope rauskommt, im Februar dann im Studio zu sein und erste Ideen auszutauschen, dann können wir über die "wann"-, "wer"- und "wie"-Fragen nachdenken und dann arbeiten wir an einem neuen Album. Wir sind gerade am Ausarbeiten einer Nordamerika-Tour, wir wollen aber auch nach Südamerika und nach Australien und Japan, dort waren wir noch nie. Und wir spielen vielleicht in Indien. Es gibt also viel zu tun, aber uns größter Fokus liegt immer auf neuer Musik.

Vielen Dank für das Interview!

Ich danke dir!

Vielen Dank an Holger Andrae und Nochka G. Shirazi für die Mitentwicklung der Fragen!


Redakteur:
Jakob Ehmke

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