ANVIL: Interview mit Lips

09.09.2007 | 17:49

ANVIL: Von gierigen Plattenfirmen, permanenten Zufällen und der unheiligen Dreizehn

Die Kanadier ANVIL sind seit weit über 25 Jahren eine im Metalgeschäft etablierte Größe. Zumindest die ersten drei Alben der Band - "Hard'n'Heavy", "Metal On Metal" und das Jahrhundertalbum "Forged In Fire" - bieten absolut genialen, kraftvollen Metal ohne Schnörkel. Leider hatten sich neuere ANVIL-Alben in den letzten Jahren nicht so gut verkauft, obwohl sich am Sound der Band nie großartig etwas verändert hat. Mit "This Is Thirteen" haben ANVIL nun ihr dreizehntes Studioalbum veröffentlicht, das in Eigenproduktion vermarktet wird. Anlässlich des ANVIL-Konzerts am 01.09.07 in Würzburg treffe ich Sänger und Gitarristen Steve Kudlow, besser bekannt unter dem Namen Lips, backstage. Der mittlerweile 51-jährige Kanadier erweist sich dabei als bescheidener, bodenständiger und sympathischer Interviewpartner. Seinen Enthusiasmus und seine Leidenschaft zum Metal hat sich Lips nach fast dreißig Jahren im Geschäft noch bewahrt, wie das nachfolgende Interview zeigt.


Martin:
Hi Lips, schön, dich hier zu treffen.

Lips:
Ja, freut mich auch.

Martin:
Euer Gitarrist Ivan Hurd, der immerhin zwölf Jahre Bandmitglied bei ANVIL war, ist nun nicht mehr in der Band. Ist er ausgestiegen? Was war der Grund für den Ausstieg?

Lips:
Ivan wurde von uns mehr oder weniger entlassen. Er war einfach zu faul. Es gibt einfach nichts mehr, was er für ANVIL tun kann. Sein Job als Gitarrist ist immer unbedeutender geworden. Es gab einfach keinen Grund mehr, ihn in der Band zu behalten. Die Frage, ihn zu feuern hat sich nicht wirklich gestellt. Es gab einfach nichts, was er tun konnte, von daher wäre es witzlos gewesen, weiterhin Bandmitglied von ANVIL zu sein.

Martin:
Also war er eine ziemlich faule Socke, oder was?

Lips:
Das habe ich jetzt nicht gesagt. Das hast du getan. Ivan kam in den letzten acht oder neun Jahren zu keiner einzigen Bandprobe. Er hat übrigens auf keiner einzigen unserer CDs irgendwelche Rhytmusgitarrenparts oder irgend etwas eingespielt...

Martin:
Echt? Er hat also wirklich gar nichts beigesteuert?

Lips:
Gar nichts! ANVIL waren musikalisch gesehen eigentlich schon immer ein Trio. Selbst zu der Zeit, als Dave Allison (erster ANVIL-Gitarrist - Anm. d. Verf.) noch in der Band war. Insbesondere die Tracks 'Winged Assassins', 'Motormount', 'Bedroom Game' und '666' habe ich mit Robb Reiner (Drummer) alleine aufgenommen. Ich habe jeweils die Overdubs für Bass und Gitarre einsgespielt. Ob Ivan da ist oder nicht, das hat überhaupt keinen Einfluss auf die Band und wird die Band auch nicht verändern. Er hat nie irgendwelche Lieder mitkomponiert und er ist auf keinem unserer Studioalben zu hören. Ivan war mehr oder weniger nur da, um bei Auftritten meine Rhytmusgitarren-Parts 1:1 nachzuspielen. Es macht keinen Sinn, dass er weiterhin bei uns ist. Ich meine, es ist doch lächerlich, wenn wir live neue Songs gespielt haben, dann hat er einfach seinen Gitarrenverstärker abgeschaltet und er tat so, als ob er die Songs spielen würde. Und niemand hat es bemerkt, dass er das getan hat! Das ist schon recht schockierend. Wir haben jetzt seit seinem Ausstieg zehn Liveshows gespielt. Und gerade einmal vier Leute haben mich überhaupt darauf angesprochen, dass Ivan Hurd nicht mehr dabei ist.

Martin:
Echt?

Lips:
Ja, wirklich!

Martin:
Es ist schön zu hören, dass sich bei ANVIL nichts ändern wird.

Lips:
Ich glaube wirklich nicht, dass der Ausstieg von Ivan den Fans irgend etwas ausmacht. Wenn die Fans uns erst einmal als Trio erlebt haben, dann werden sie wahrscheinlich sagen: "Ja, ich stimme Lips zu. Gab es da überhaupt irgendwann einmal einen zweiten Gitarristen"? Ich meine, wir spielen alle unsere Songs, wie sonst auch. Es ist ja jetzt nicht so, dass wir die Lieder nicht ohne Ivan Hurd live umsetzen können. Dem ist überhaupt nicht so.

Martin:
Also sucht ihr nicht nach einem Nachfolger an der zweiten Gitarre?

Lips:
Nein, überhaupt nicht!

Martin:
Ihr habt gerade ein neues Studioalbum mit dem Titel "This Is Thirteen" bei "Massacre Records" veröffentlicht...

Lips:
(unterbricht mich). Nein! Wir haben keine Plattenfirma mehr. Der Grund, warum wir keine mehr haben, ist, dass ich die Schnauze voll habe, dass Plattenfirmen die ganze Kohle aus Plattenverkäufen scheffeln und mich dadurch arm machen. Ich habe echt die Nase voll. Die machen absolut keine vernünftige Arbeit. Besonders heutzutage macht es für uns keinen Sinn mehr, ein Label zu haben. In all den Jahren, in denen wir bei "Massacre Records" waren, unterstützen sie uns lediglich, als wir mit OVERKILL auf Tour waren (Europatour im November 1996- Anm. d. Verf.). Aber ansonsten haben wir alle Touren etc. selbst und auf eigene Verantwortung gemacht. Jedes Mal, wenn wir ein neues Album aufgenommen haben, haben sie uns immer weniger Geld gegeben. Es macht einfach keinen Sinn mehr. Der Hauptpunkt an der ganzen Sache ist die Frage: Akzeptiere ich es, nur einen US-Dollar oder einen Euro pro verkaufter CD als Erlös zu bekommen oder verkaufe ich die CD selbst und bekomme zehn Euro pro CD. So gesehen muss ich nur ein Zehntel der Anzahl an CDs verkaufen, um dasselbe an Geld einzunehmen, das ich von Massacre Records bekommen würde. Und es ist nicht nur bei Massacre Records so. So läuft es bei allen Labels.

Martin:
Was kannst du mir über den Songwriting-Prozess zum neuen Album "This Is Thirteen" und zu den Songs selbst sagen? Ich habe die Scheibe leider noch nicht gehört.

Lips:
Das neue Album klingt außergewöhnlich stark nach ANVIL! Es ist eher auf einer Linie mit dem, was die Leute mit uns verbinden, als mit dem, was uns bekannt machte. Das heißt im Klartext: Die Scheibe klingt mehr nach "Forged In Fire" und "Metal On Metal" als es jemals eine andere ANVIL-Scheibe getan hat. Ich denke, dass die allermeisten Fans darüber sehr erfreut sein werden. "This Is Thirteen" klingt wie keine andere Scheibe danach, als ob die Band, die diese berühmten Alben veröffentlicht hat, endlich wieder eine neue Scheibe raushaut.

Martin:
Auf dem Albumcover kann man neben dem Amboss eine Tarot-Karte sehen und eine Wahrsagerin, die durch einen Blick in die Glaskugel die Zukunft voraussagt. Bist du eigentlich abergläubisch?

Lips:
Ja, inzwischen bin ich es (lacht). Du kennst nicht einmal die Hälfte der seltsamen Geschichten, die sich da ereignet haben. Wenn ich dir das hier alles erläutern würde, dann würden wir hier die ganze Nacht sitzen. Aber ich werde immer abergläubischer. Und, ehrlich, ich glaube es tatsächlich. Es ist das dreizehnte Studioalbum von ANVIL. Die Zahl dreizehn ist die Zahl des Todes. Und sie ist auch die Zahl der Auferstehung. Von daher glaube ich ganz ehrlich, dass ANVIL, wie sie früher waren, Vergangenheit sind, und dass die neuen ANVIL das Kommando übernehmen werden. Das heißt, dass die Vierer-Besetzung, an die bei ANVIL jeder Fan gewöhnt war, der Vergangenheit angehört. Die jetzige Dreierbesetzung nimmt nun diesen Platz ein. Aber es ist eine Art Wiedergeburt für die Band. Es ist ein neuer Anfang für ANVIL.

Martin:
Wie war es denn für dich, nach all den Jahren wieder mit Chris Tsangarides zu arbeiten, der ja schon 1983 "Forged In Fire" mit euch aufgenommen und produziert hatte?

Lips:
Offensichtlich war es die richtige Entscheidung, mit ihm zu arbeiten. Wir spürten das von Anfang an. Mit ihm zu arbeiten war ein Teil des Konzepts von "This Is Thirteen". Es ist aber jetzt nicht so, dass dies von vornherein so geplant war. Allerdings ist es fast so, als ob Gott selbst das vorgesehen hätte. Wie ein großer Plan. Wenn ich hier jetzt jedes kleine Detail erzählen würde, dann würde mir ein Durchschnittsmensch wahrscheinlich nicht glauben. Aber alles, was sich im Zuge der Erstehung des Albums ereignet hat, sollte auch so geschehen. Davon bin ich fest überzeugt. Auf eine bestimme Art und Weise ist es auch schon so passiert. Ich fühle mich gerade so, als ob ich das noch einmal durchleben würde, was sich in jüngster Zeit ereignet hat.

Martin:
Lips, du hast in den letzten dreißig Jahren deiner Karriere, da zähle ich die Jahre hinzu, in denen sich ANVIL noch LIPS nannten, viele Alben veröffentlicht. Woher nimmst du die Energie, weiterhin Alben aufzunehmen und auch live aufzutreten?

Lips:
Also zunächst mal setzte ich mich durch finanzielle Dinge nicht selbst unter Druck. Das habe ich noch nie getan. Denn Musik und Kunst sind nichts, was du in Geld bewerten kannst. Musik und Kunst ist etwas, bei dem du zum großen Teil Zuspruch in den Medien oder in der Öffentlichkeit findest. Und die Wahrheit ist, dass du, wenn du es schaffst, ohne auf großem Fuß zu leben, einen Weg findest, dich künstlerisch und persönlich zu verwirklichen. Wir konnten mit ANVIL immer tun und lassen, was wir wollten. Niemand hat uns reingeredet. Weder die Plattenfirmen, noch sonst wer. Wir waren von daher immer unabhängig und wir haben alles selbst vorangetrieben. Mit unserem eigenen Geld, viel Energie und unserer Zeit.

Martin:
Gab es irgendwann einmal eine Situation, in der du daran gedacht hast, ANVIL aufzulösen und zu Grabe zu tragen?

Lips:
Nein. Überhaupt nicht! Warum sollte ich das tun?

Martin:
Das ist schön zu hören.

Lips:
Aber warum hätte ich das tun sollen? ANVIL ist ein Teil meiner Persönlichkeit. ANVIL ist, was ich bin. ANVIL sind Teil meiner Identität. Ich habe die Band mein ganzes Leben lang vorangetrieben. Wie könnte ich das aufgeben? Komm, da könnte mir jemand ein Gewehr geben. Wenn ich mit ANVIL aufhören wollte, da gäbe es nur einen Weg: Das wäre der Tod. Ich kann nicht wirklich verstehen und nachvollziehen, was Aufgeben bedeutet. Die Band aufzugeben, wäre wie der Tod für mich.

Martin:
Andere Musiker wären vielleicht nicht so zufrieden, mit dem, was sie erreicht haben. Sie würden sich selbst unter Druck setzen. So nach dem Motto: Ich will mehr Alben verkaufen und erfolgreicher sein. Aber das ist wahrscheinlich der falsche Ansatz.

Lips:
Das ist definitiv der falsche Ansatz. Das sollte man halt wirklich nicht tun. Man sollte keine Musik machen, wenn man glaubt, ein Star zu sein oder zu werden oder eine bestimmte Anzahl von Tonträgern zu verkaufen. Man sollte Musik machen, weil man eine naturgegebene Begabung besitzt, wirklich Musik machen will und sie auch liebt.

Martin:
...und zwar deshalb, weil Musik die Leidenschaft des Musikers ist und er viel Hingabe für die Musik besitzt.

Lips:
Genau! Es kommt aus dem Herzen. Wenn es nicht aus dem Herzen kommt, dann hast du gar keinen Ausgangspunkt, um überhaupt Musik machen zu können.

Martin:
Was war denn für dich das Abgefahrenste, was sich auf Tour mit ANVIL ereignet hat?

Lips:
Jetzt grad im Moment, so aus dem Stehgreif, fällt mir nichts ein. Außer, dass sich sehr viele Zufälle in den letzten zweieinhalb Jahren bei mir ereignet haben. Und zwar permanent. Es ist fast so, als ob ich ständig Vorahnungen hätte. Wenn ich intensiv an jemanden denke oder einen Namen nenne, dann tauchen diese Personen plötzlich auf. Um jetzt mal ein Beispiel zu nennen: Gestern Abend haben wir in Eindhoven (Niederlande) gespielt und ich stehe gerade auf der Bühne und ich sprach über unser erstes Album "Hard'n'Heavy". Und ich musste an diesen Typen namens "Metal Mike" denken (Chefredakteur der Zeitschrift Aardshok – Anm. des Verf.). Und ich sagte auf der Bühne: So, jetzt kommt ein Lied, das "Metal Mike" lieben würde. Und Metal Mike war tatsächlich auf diesem Konzert. Nach dem Auftritt kam er zu mir und schüttelte mir die Hand. Das war jetzt nur ein kleines Beispiel. Aber es gibt eine schier endlose Anzahl solcher Zufälle. So ziemlich jeder, den ich je auf Tour getroffen habe, kommt plötzlich wieder und will wieder Kontakt mit mir aufnehmen. Das ist schon ziemlich bizarr.

Da gab es einen Fan, den wir im Jahr 1982 trafen. Er war Engländer und er war damals 15 Jahre alt, als ich 24 Jahre alt war. Der Junge war ein sehr, sehr großer ANVIL-Fan und er ist uns in London, auf unserem ersten Konzert dort, ständig hinterher gelaufen. Vor zweieinhalb Jahren haben wir zwei Bandmitglieder von CANDLEMASS auf einem Festival in Italien getroffen. Beide kamen auf mich zu und fragten, ob ich mich noch daran erinnern könnte, dass sie mich damals in London getroffen hätten. Natürlich konnte ich mich an sie erinnern. Ich glaube, dass ich das mit den Zufällen jetzt deutlich erklärt habe. Als ich von dieser Tour wieder zu Hause in Kanada war, hatte ich eine E-Mail von einem Jungen namens Sacha Gervasi, der uns in der Carneby Street in London getroffen hatte. Sacha ist jetzt Drehbuchautor und er arbeitet für den Hollywood-Regisseur Stephen Spielberg. Und er hat einen Film über ANVIL gedreht.

Martin:
Darüber habe ich auf eurer Website gelesen. Wann soll dieser Film denn veröffentlicht werden?

Lips:
Ich weiß es noch nicht. Aber ich vermute, so etwa in einem Jahr, von jetzt aus gerechnet.

Martin:
Hast du noch eine Message an alle ANVIL-Fans, an unsere Leser und an alle Metalfans?

Lips:
Metal ist eine Konstante. Und es wird immer Metalmusik geben. Ich werde weiter Metal machen, bis zu dem Tag, an dem ich sterben werde. Ich hoffe aus tiefstem Herzen, dass das was ich mache, den Leuten gefällt und dass sie es schätzen. Und wenn ihnen die Musik von ANVIL halt noch nicht gefällt, dann wird sie ihnen vielleicht bald gefallen. Und wenn sie keinen Gefallen an ANVIL finden, dann verpassen sie etwas. Ich werde weiterhin Musik machen, immer weiter machen. Ich schätze jeden Fan, der sich jemals mit meiner Musik beschäftigt hat. Ich liebe alle meine Fans und ich hoffe, euch live bei einem unserer Konzerte zu treffen.

Martin:
Vielen Dank für dieses Interview. Hat mich wirklich sehr gefreut.

Lips:
Alright! Mach's gut.

Redakteur:
Martin Loga

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