BLIND GUARDIAN: Interview mit Marcus Siepen

29.07.2010 | 17:44

BLIND GUARDIAN haben mit "At The Edge Of Time" ein Album abgeliefert, dass jeden Fan der Band begeistern dürfte. Es gibt Weiterentwicklung und dennoch eine Rückbesinnung auf die eigene Vergangenheit.  Wir sprachen mit Marcus Siepen über Fortschritt, Rückschritt, Orchester und graue Haare.

Marcus Siepen ist ein sympathischer, redefreudiger und humorvoller Zeitgenosse, mit dem 30 Minuten wie im Flug vergehen. Eigentlich viel zu wenig Zeit, um alle Fragen beantwortet zu bekommen, die man rund um BLIND GUARDIAN stellen kann. Dass wir am Ende eher abbrechen, denn aufhören müssen, beweist diese These. Auch das eröffnende und mit einem Schmunzeln vorgebrachte Statement, dass "At The Edge Of Time" überraschend stark geworden ist, verkraftet der Gitarrist gut. "Hahaha, das klingt als hättest du Mist erwartet und wir hätten zufällig doch was Ordentliches eingespielt. Aber wenn du mit den letzten beiden Alben nicht so gut klargekommen bist und jetzt "At The Edge Of Time" gut findest, kann ich schon verstehen, was du meinst und sehe mich natürlich auch darin bestätigt, dass wir mit dem neuen Album auch etwas richtig gemacht haben." Hervorzuheben ist diesmal vor allem die sehr organische Produktion. Und das bei einer Band, die gerne mal als Prototyp der "Überproduktion" herhalten muss. "Das war uns diesmal auch extrem wichtig, dass das Ergebnis so klingt.", beginnt Marcus, "Wir haben diesmal wirklich jeden einzelnen Ton auf der Platte echt eingespielt. Es gibt so gut wie keine Samples auf "At The Edge Of Time" und ich denke, das hört man dem Album auch an. Wir sind da ja auch bekanntermaßen sehr detailverliebt und das kennt dann auch gerade bei den Orchestrierungen keine Grenzen. Bis zum letzten "Pling" einer Triangel wurde alles aufgenommen und auch beim Mix versucht so zu mischen, dass man sogar kleinste Details wahrnehmen kann. Ich würde daher so weit gehen zu sagen, dass ich noch nie mit einer Produktion so zufrieden war wie mit "At The Edge Of Time"", gibt Marcus nicht ohne berechtigten Stolz zu Protokoll.

Dass "At The Edge Of Time" wieder mehr nach "Imaginations From The Other Side" oder "Nightfall In Middle-Earth" klingt, als nach den letzten beiden Werken, ficht Marcus nicht an. Eine bewusste Entscheidung war dies jedoch nicht. "Es ist nicht so, dass wir uns jetzt hingesetzt haben und unbedingt etwas Härteres machen wollten, nur weil irgendwer mit den letzten beiden Alben nicht zufrieden war. Es ist vielmehr so, dass wir gleich nach der letzten Tour wieder ins Studio gegangen sind, weil wir das Angebot bekommen haben zu "Sacred II" einen Song zu schreiben. Sonst machen wir nach den Touren immer ein paar Monate Pause, um auch Abstand von unserem Material zu gewinnen und besser neue Ideen kreiieren zu können. Das war diesmal nicht so. Dafür haben wir aber die Energie und das Adrenalin von den Live-Gigs mitgenommen. Ich denke, dass dies der Grund ist, warum das Album so wirkt wie es wirkt. Wobei ich generell finde, dass die Leute häufig Dinge vermissen, die tatsächlich da sind. Wir hatten ja auch auf den letzten Alben harte Songs wie 'Punishment Divine', aber da sie nicht so traditionell nach BLIND GUARDIAN klangen, wurde das gar nicht so wahrgenommen." erläutert Marcus und fügt an: "Es ist für uns sowieso unmöglich, es jedem Recht zu machen. Die alten Fans möchten am liebsten ein zweites "Tales From The Twilight World", die jüngeren sind vielleicht mit "A Night At The Opera" dazu gekommen und möchten immer etwas in der Richtung hören. Wie wir es machen, machen wir es falsch. Aber das ist uns auch gar nicht so wichtig. Wir machen die Musik so, wie wir sie hören wollen. Nur das ist entscheidend.", stellt Marcus klar.


Einen durchaus entscheidenden Kick gab es auch für die neue Version des "Sacred II"-Songs 'Sacred', der als 'Sacred Worlds' nun stark verbessert auf dem Album erschienen ist. "Es ist nicht so, dass wir die alte Version des Songs nicht gut genug fanden," stellt Marcus gleich klar, "aber wenn du die Möglichkeit hast, den Song mit einem echten Orchester einzuspielen, dann nehmen wir diese natürlich auch wahr. Wir wären ja schön blöd, wenn wir das nicht tun würden. Und dabei hat es sich dann einfach entwickelt, dass wir noch einige Änderungen wie das Intro, das Outro, einen kompletten Part etc. eingebaut haben. Aber ich muss zugeben, dass auch mir die neue Version besser gefällt. Wäre auch blöd gelaufen, wenn das nicht der Fall wäre.", lacht Marcus. Allerdings.

Live wird 'Sacred Worlds' aber weiterhin mit einem Keyboard aufgeführt. "Ja, mit Orchester müssten wir einfach zu viele Busse mieten.", lacht Marcus. "Und der Mi (Michael Schüren - PK) hat ja mit der alten Version schon bewiesen, dass er das live auch hinbekommt. Das ist mit der heutigen Technik gut umsetzbar. Wir haben ja auch gezeigt, dass man 'And Then There Was Silence' live spielen kann, da sollten wir nicht an 'Sacred Worlds' oder 'Wheels Of Time' scheitern." Das ist wohl wahr.

Wann das sagenumwobene Orchesterwerk fertig wird, ist dagegen immer noch unklar. 2020 wird es aber wohl nicht. "Nein, das sollte wesentlich früher der Fall sein.", lacht Marcus. "Immerhin sind bereits fünf Stücke fertig, so dass wir durchaus auf einen guten Weg sind." Stilistisch soll erkennbar bleiben, dass es sich hier um BLIND GUARDIAN handelt. "Ja, das ist absolut unser Ziel. Wir wollen eine Platte aufnehmen, die viel Orchester und viel Hansi bietet, aber auch ohne Drums und Stromgitarre nach uns klingt.", erklärt Marcus die Ausrichtung des Orchesterwerks. "'Wheels Of Time' war ja ursprünglich auch für das Orchesterwerk geschrieben und ist jetzt letztendlich auf dem neuen Album gelandet, nachdem wir es metallisiert haben. Mit der reinen Orchesterfassung waren wir einfach nicht 100% zufrieden und dann meinte Charlie, dass es doch mit den orientalischen Melodien ein toller BLIND GUARDIAN-Song werden würde. Wir hatten zwar keine Ahnung, dass wir orientalische Einflüsse eingebaut hatten, aber mit der jetzigen Version sind wir absolut glücklich.", lacht Marcus. Das Orchesterwerk wird wohl unter dem Namen BLIND GUARDIAN laufen. Hansi Kürsch & Orchester steht dagegen nicht mehr zur Wahl. "Hahaha, nein, das klingt doch zu sehr nach James Last. Es läuft wohl darauf hinaus, dass es unter dem Namen BLIND GUARDIAN veröffentlicht wird, aber so ganz sicher ist das noch nicht. Aber zuerst einmal müssen wir es fertig bekommen."

Fertig ist die Band bereits für die Tour, wo neben den unsäglichen VAN CANTO mit ENFORCER und STEELWING noch zwei vielversprechende Newcomer dabei sind. "Ja, das sind junge, hungrige Bands, die uns voll überzeugt haben. Also haben wir entschieden sie mit auf die Tour zu nehmen." erzählt Marcus. Doch auch von den Barden selbst, ist einiges zu erwarten. "Ja, wir laufen manchmal auf der Bühne rum und bewegen ab und zu unseren Kopf.", witzelt Marcus, um dann fortzufahren: "Wir arbeiten gerade noch am Stagedesign, aber die ersten Entwürfe toppen alles, was wir bislang gemacht haben. Das sollte man auf keinen Fall verpassen." Wird wahrscheinlich auch niemand.

Wer die Promobilder gesehen hat, wird dann auch überrascht sein, wenn die Herren die Bühne stürmen. So grau wie es die Fots vorgeben, sind die Herren noch nicht. "Hahaha, nein, wir sind in den letzten Jahren nicht um 15-20 Jahre gealtert, sondern sehen immer noch frisch aus. Die Fotos hat ein befreundeter Fotograf von uns gemacht und bearbeitet. Wir wollten mal etwas Neues machen und diese Idee hat uns gut gefallen. Mein Bart ist zwar tatsächlich schon leicht angegraut, aber den kann ich zur Not ja abrasieren.", lacht Marcus. Um die Gesundheit der Herren muss man sich also keine Sorgen machen.

Zum Schluss wird auch noch mal Ronnie James Dio gedacht. Auch wenn sein Tod zum Zeitpunkt des Interviews bereits einige Wochen zurückliegt, ist dieses Thema noch allgegenwärtig. "Ich möchte nicht so anmaßend sein, dass ich Ronnie gekannt hätte, aber wir haben einige Mal mit HEAVEN & HELL gespielt und aus diesen Erfahrungen kann ich nur sagen, dass Dio der freundlichste und bodenständigste Mensch war, den ich je getroffen habe. Selbst als schon das Intro zur Show lief, hat er sich noch alle Zeit für seine Fans genommen und mit ihnen Fotos gemacht, wenn sie danach gefragt haben. Das war genauso einmalig wie seine Musik. Auch deshalb hat mich sein Tod viel mehr getroffen als der von Pete Steele oder Paul Gray."

Redakteur:
Peter Kubaschk
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