BLIND GUARDIAN: Listening-Session zu "The God Machine"

23.07.2022 | 18:13

Eine Schifffahrt, die ist lustig, eine Schifffahrt, die ist schön. Für das heutige Event hat sich Nuclear Blast etwas ganz Besonderes einfallen lassen: Wurde vor einigen Wochen mit "The God Machine" das neue Album von BLIND GUARDIAN angekündigt, laden Label und Band die Redaktionsfront auf eine Reise entlang des Rheins ein, um dem zwölftem Album der Krefelder Barden in den Wellen jenes Flusses zu lauschen, der schon Zeuge vieler legendärer Ereignisse und Mythen wurde. Könnten die Vorzeichen da noch besser stehen?

Und ob! Mit meinem lieben Kollegen Stefan Rosenthal trifft man sich an diesem herrlich sonnigen Tag an den Treppen des Kölner Doms, um dann anschließend entlang des Konrad-Adenauer-Ufers zu schlendern. Nur blöd, dass wir in die falsche Richtung gingen. Das kommt davon, wenn man nur Musik im Kopf hat. Doch selbst in noch so ergiebige Gespräche versunken, sind wir um 12:30 am Liegeplatz der MS Rheinland, wo wir inmitten der sonstigen Schifffahrt-Begeisterten schon ob unserer schwarzen Kleidung auffallen. Doch schnell war klar, hier sind wir richtig.

Also begrüßen wir Leoni von Nuclear Blast, die uns mit einem breiten Lächeln empfängt, um dann anschließend an Bord zu gehen, um die ersten Worte mit Sänger Hansi Kürsch, Meister Klampfe Marcus Siepen und Frederik Ehmke zu wechseln. Die Stimmung könnte ob des tollen Wetters, dieser Wahnsinnslocation und der Ereignisse, die noch folgen sollten, nicht besser sein. Hände weiterer Redakteure werden geschüttelt, die ersten kühlen Getränke werden in Angriff genommen und es werden Bekanntschaften geschlossen. Nach einleitenden Worten von Nuclear Blast – vor Ort war neben Leoni auch Arne – sowie den drei musizierenden Protagonisten steht "The God Machine" in den Startlöchern. Hinsetzen, Hefte raus, Klassenarbeit – es fängt an!

1.    Deliver Us From Evil
Die große Frage, wie BLIND GUARDIAN nach "Beyond The Red Mirror" und den orchestralen Ausflügen klingt, wird schnell beantwortet: Offensiv und stark an die Marschrichtung der 1990er Jahre erinnernd. Nach dem kurz gehaltenen Intro folgen eine schnelle Rifffolge, die Chöre setzen ein, die tolle Hook bleibt auch Minuten später noch hängen und wenn der hymnische Mittelteil inklusive eines majestätischen Ohrwurmrefrains so konsequent über die Ziellinie gebracht wird, dann darf man von einem "The God Machine"-Auftakt nach Maß sprechen,…

2.    Damnation
…der ähnlich energisch auch weitergeführt wird. Ertönt der Beginn noch unheil- und geheimnisvoll, wird Hansis Stimme bei diesem Song sehr gut in Szene gesetzt. 'Damnation' zieht dann etwas am Tempo, drückt ordentlich auf die Tube, ohne dass es jedoch am melodischen Moment fehlt. Denn trotz vieler Tempowechsel und eines wieselflinken Solos, trotz der teils heftigen Ausrichtung, werden die Melodien niemals außer Acht gelassen, sodass 'Damnation' auch problemlos auf dem "Imaginations From The Other Side"-Monument hätte stehen können.

3.    Secrets Of The American Gods
Ein Track, der schon im Vorfeld bekannt war und seinem Namen alle Ehre macht. Mystisch und episch ertönen die Geheimnisse amerikanischer Götter, die mit zunehmender Spielzeit ob des wendigen Riffings, gewissen Pathos und mächtigen Midtempos typische, längst verloren geglaubte BLIND GUARDIAN-Momente offenbaren. Auch bei diesem künftigen Live-Monster glänzen tolle Hooks, eine ungeheure Dynamik und die angenehme Härte, damit geschmackvoll dezent orchestrale Momente diese Geheimnisse abrunden.

4.    Violent Shadows
Nomen est omen: ein heftig rockender Beginn, ehe Hansi einmal mehr zeigt, welche markante und breit aufgefächerte Stimme er doch hat. Das anschließende Stakkato-Riffing, der mehrstimmige Refrain und das tolle Zusammenspiel zwischen André und Marcus geben dem Song den Rest. Spätestens jetzt schlackert jeder BLIND GUARDIAN-Fan, der noch Poster der "Nightfall"- und "Imaginations"-Ära im Zimmer hängen hat, lautstark mit den Ohren, die Querverweise zur eigenen Bandvergangenheit lassen Träume wahr werden.

5.    Life Beyond The Spheres
Passend zum Titel agiert der Vierer wieder mystischer: Ein sphärischer Start, Hansi Flüstergesang und die Chöre lassen den Track von Sekunde zu Sekunde monumentaler wirken. Ein epochales Tempo, mächtig wie eh und je, und trotz des Blicks in Richtung der orchestralen, etwas theatralischen Zeit hat BLIND GUARDIAN noch genügend Rock'n'Roll-Momente übrig, die jedes einzelne Bandmitglied in Topform zeigen.

6.    Architects Of Doom
Erstaunlich, wie losgelöst und frei von irgendwelchen Klangkorsetts jedes einzelne Mitglied musiziert. Die Gitarrenduelle sind wendig, Hansis Gesang erstreckt sich über die verschiedensten Klangfarben und Fredrik trommelt sich die Seele aus dem Leib. Davon können auch die folgenden Song-Architekten ein Liedchen trällern, zieht nach orientalisch angehauchtem Beginn der Härtegrad wieder etwas an, bis dieser höchst dynamische Song förmlich ausbricht. Zwischenzeitich wird die Anmutung wieder hymnischer und das Tempo getragener, ehe sich André und Marcus wieder die Spielbälle wie kein zweites Duo hin- und herwerfen und sich hoch und höher pushen.

Generell sind alle Songs einerseits zwar hochverspielt und filigran, doch andererseits sehr straight, heavy und mit diesem gewissen Hang zum Speed Metal. Fraglich war, wie sich BLIND GUARDIAN nach dem Orchesterausflug auf "The God Machine" präsentieren würde, doch nach den ersten Songs – und ich kann mich da nur wiederholen – sprüht diese Platte vor Heaviness, Spielfreude und den ach so typischen BLIND GUARDIAN-Trademarks aus den 1990er Jahren, mit denen zumindest ich die Band kennen und lieben gelernt habe.

7.    Let It Be No More
Dass die Nostalgie einmal mehr das Heft fest in der Hand hält, beweist auch das hochballadeske, aber zu keiner einzigen Sekunde kitschige 'Let It Be No More'. Ich gebe es offen und ehrlich zu, ich kann 'The Bard's Song' nicht mehr hören, vollkommen ausgelutscht und mittlerweile negativ einlullend. Steinigt mich doch! Doch BLIND GUARDIAN hat schon häufig bewiesen, dass der Band auch die balladesken Töne liegen. Und schon der himmlische Akustikbeginn lädt zum Träumen ein: ein kurzer Moment der Ruhe, zum Innehalten, der unter die Haut geht und die imaginären Feuerzeuge herausholen lässt. Einmal mehr glänzt der stimmliche Aspekt, ein mit der wunderbaren Akustikgitarre massiver Grundpfeiler dieses Höhepunkts.

8.    Blood Of The Elves
Und schon ist die Ruhe wieder vorbei, der mächtige Sturm zieht auf. In Nullkommanix brettert dieser heftige, schwermetallische Schlag in die Magengegend, ohne auch in diesem Fall den hymnischen, melodischen Moment außer Acht zu lassen. Diese Erinnerung an 'Born In A Mourning Hall' ist ein perfekter Beweis dafür, dass BLIND GUARDIAN seit den Anfangstagen eine exzellente Brücke zwischen Harmonien und Melodien und dem energischeren Härtegrad schlägt.

9.    Destiny
Und so kommen wir leider schon zum Schlusspunkt dieses Überraschungsalbums. 'Destiny' baut sich langsam auf, ein hymnischer Moment hier, ein fettes Riffing dort und etwas präsentere Orchesterarrangements verleihen diesem Schlusspunkt einen mächtigen Nachhall. Richtig, der wohl deutlichste Bezug zu den jüngeren BLIND GUARDIAN-Alben hätte am Ende nicht besser platziert werden können, da dieser kongeniale Mix aus Dramaturgie, leicht vertrackten Songstrukturen und dem dennoch auf den Punkt gebrachten Heavy- und Power Metal dieses Album geschmackvoller denn je abrunden. Tolle Soli, die das herausragende Können des Klampfengespanns auf den Punkt bringen, und ein schicksalsträchtiges Ende, das Momente der Progressivität bereithält, und plötzlich und vor allem leider biegt "The God Machine" schon in die Zielgeraden ab. Ein Album also, das bei uns für hochgezogene Augenbrauen und durchaus offene Münder sorgt.

Die große Sorge, die ich nur sehe: Bei einem Backkatalog, der vor Hits nur so überquillt, hat BLIND GUARDIAN mit "The God Machine" ein Album im Köcher, dessen Songs nur darauf brennen, sich auch live zu behaupten. Eine Platte also, die von Durchgang zu Durchgang, von Mal zu Mal wächst und gedeiht, die auch nach dem drölften Durchgang noch derart viel Überraschungspotential hat, dass man sich kaum daran satthören kann. Ein Set besteht aus 90 Minuten, BLIND GUARDIAN könnte 120 herausholen, doch können 'Banish From Sanctuary', 'Majesty' oder 'Born In A Mourning Hall' guten Gewissens einmal weichen, wenn die neue Scheibe so viele Feuerwerke in den Himmel feuert?

Fazit:
Lange Rede, kurzer Sinn, die "Sorgen" sind natürlich obsolet, denn in erster Linie darf man sich als Fan der Band, in welcher Phase man auch immer zu BLIND GUARDIAN gekommen ist, darüber freuen, solch ein Genre-Highlight der Krefelder Barden vor den Latz geknallt zu bekommen. Nach dem zwar geschmackvollen, aber nicht so richtig fesselnden "Legacy Of The Dark Lands" hatte ich ehrlicherweise die Befürchtung, dass das Quartett diesen Weg auch weitergehen würde. Doch stilistisch machen die Jungs einen Schritt zurück nach Mittelerde und den Bildern der anderen Seite, nur um dann mit diesem mächtigen Ungetüm, mit jenem Arsenal an Hymnen, bei denen sich jeder, wirklich jeder einzelne Musiker von seiner besten Seite zeigt, zwei Schritte nach vorne zu gehen. Ich habe es schon angedeutet, aber was Hansi stimmlich zaubert, wie abwechslungsreich sich Fredrik in Rage trommelt und wie filigran, kraftvoll und stimmig sich André und Marcus im Zusammenspiel sowie einzeln präsentieren, ist BLIND GUARDIAN in Perfektion. Ist "The God Machine" das beste Album nach "Nightfall In Midde Earth"? Womöglich, denn so zielstrebig, heavy und direkt hat man die Krefelder seit 1998 nicht mehr gehört.

Redakteur:
Marcel Rapp

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