BONJOUR TRISTESSE: Nathaniel spricht über Inspiration und Visionen

13.11.2024 | 18:03

Wie eine Welt ohne uns aussehen mag, hat sich BONJOUR TRISTESSE-Mastermind Nathaniel zuletzt etwas intensiver vorgestellt und gleichzeitig auch sein neues Album entsprechend getauft. Mit "The World Without Us" setzt das Soloprojekt ein weiteres Zeichen im hiesigen Black-Metal-Underground und bringt einmal mehr alle Voraussetzungen mit, endlich durchzustarten. Nathaniel steht hierzu Rede und Antwort.

Vor kurzem ist eure neue Scheibe endlich offiziell auf den Markt gekommen. Beschreibe doch mal dieses Gefühl, wenn am Ende eines langen Prozesses endlich der finale Release ansteht!
So spektakulär ist das Gefühl am Releasetag an sich gar nicht, weil man sich im Vorfeld ja schon so viel mit dem Album auseinandergesetzt hat. Was die Zeit um einen Release so interessant macht, ist das Feedback der Hörer. Im Falle der neuen Platte ist das durchweg sehr positiv, was natürlich schön ist. Ich schreibe Musik in erster Linie für mich selbst und nutze Songs als Ventil für angestaute Emotionen. Wenn das Endprodukt nicht nur mir, sondern auch anderen Menschen etwas bedeutet, dann ist das etwas ganz Besonderes.

Nachdem du zwischen den beiden letzten Alben eine etwas längere Pause eingelegt hast, erscheint "The World Without Us" nun bereits anderthalb Jahre nach der letzten Scheibe. Ist dies den Begleitumständen bzw. den jetzigen Lockerungen nach der Pandemie geschuldet oder warst du zuletzt besonders kreativ?
Im Rahmen der Pandemie konnte ich mehr Zeit als üblich für Songwriting aufwenden. Unabhängig davon war aber auch die Inspiration groß und ich konnte viele frische Ideen musikalisch verwirklichen. Ich arbeite bereits am nächsten Album...

Der Albumtitel kann sicherlich in mehrere Richtungen interpretiert werden. Was genau steckt dahinter?
Zum einen mag ich es, wenn Titel Raum für ganz individuelle Zugänge geben und vielseitig interpretierbar sind. Zum anderen wird meine Musik aber auch von einer gewissen Philosophie bzw. Weltsicht geprägt. Ich denke, dass die moderne Menschheit, die in industrialisierten Zivilisationen ein globales Wirtschaftssystem etabliert hat, der treibende Faktor der Zerstörung der natürlichen Welt ist. Das Weltbild vieler Menschen, insbesondere des globalen Nordens, wird nach wie vor von einer Arroganz geprägt, die mit einer Eigenwahrnehmung als "Krone der Schöpfung" zusammenhängt. Menschen gelten aus vielen fragwürdigen Gründen als die wertvollste Daseinsform auf der Erde. Schon die Bibel propagierte ja eine Unterwerfung der Welt unter den Willen des Menschen. Davon halte ich überhaupt nichts. Ich denke, dass Menschen Demut zeigen und akzeptieren sollten, dass sie nur eine Spezies unter unzähligen anderen sind. Alle diese Arten haben dasselbe Recht auf ein unversehrtes Leben auf der Erde. Während der letzten zehntausend Jahre wurde die Natur allerdings mehr und mehr mit Füßen getreten. Die angeblich so glorreiche Fortschrittsgeschichte der Menschheit mit ihren Meilensteinen wie Entstehung der Landwirtschaft, Aufklärung, Industrialisierung und letztlich die Etablierung der Massengesellschaft und der technisch hoch entwickelten Zivilisationen ist für mich eine Geschichte des konsequenten Niedergangs. Eine Zukunft, in der sich die Kräfte der Natur und damit die zahlreichen nicht-menschlichen Arten die Erde zurückgeholt haben, eine Erde auf der dann evtl. weniger Menschen existieren bzw. nur mehr jene, die gelernt haben, im Einklang mit der Natur zu leben, ist unter Umständen keine so düstere Zukunftsvision, vielmehr kann sie auch einen Hoffnungsschimmer und einen Hauch Gerechtigkeit beinhalten.

Eine Welt ohne uns - das ist im Hier und Jetzt eine sehr eigenartige Vorstellung. Wie würdest du dir die Welt um dich herum vorstellen, wenn du plötzlich nicht mehr Teil von ihr wärst?
Eine Welt ohne mich persönlich sähe genauso aus wie die Welt mit mir. Interessant ist die Vorstellung einer Welt ohne den Menschen mit seiner industrialisierten Produktions- und Lebensweise. Eine Auseinandersetzung mit den Ergebnissen der archäologischen Forschung hilft, wenn man sich diese Welt vor Augen führen möchte. Eine Welt ohne Menschen bzw. ohne sesshafte Menschengruppen würde der Zeit vor der neolithischen Revolution gleichen. Die Welt wäre von intakten Ökosystemen geprägt und würden dort Menschen vorkommen, so würden sie als Tiere unter Tieren leben. Dieses Leben war kein prekäres, von Leid geprägtes, wie es "Denker" wie Thomas Hobbes dargestellt haben. Die archäologische Forschung ist sich heute weitgehend darüber einig, dass das menschliche Leben in der Frühgeschichte vielmehr durch persönliche Freiheit, echte Gemeinschaft und stabile Sozialstrukturen in Familienbanden bzw. Stammesgefügen und egalitäre Geschlechterverhältnisse geprägt war. Es stand viel Zeit zur freien Verfügung und echte Begegnungen zwischen Menschen und den Elementen der Natur waren möglich. Mit dem Beginn der Landwirtschaft begann der Mensch sich als Herrscher über die Natur aufzuschwingen; ein Pfad, der zu Zerstörung und Unterwerfung der natürlichen Welt führte. Eine Welt ganz ohne Menschen wäre wie bereits angesprochen für die Natur bzw. die vielen Tier- und Pflanzenarten eine weitaus bessere Welt als die heutige. Dieser Fakt regt zum Nachdenken an.

Die Vielzahl der Bedrohungen, denen sich die Gesellschaft heutzutage ausgesetzt sieht, lässt den Schluss zu, dass die apokalyptische Vorstellung einer Erde ohne Menschen früher bevorstehen kann, als uns das gerade bewusst ist. Man kann hier sicherlich auch einige gesellschaftspolitische Themen bemühen. Könnten derlei Inhalte bei BONJOUR TRISTESSE eine Rolle spielen, oder geht es euch hier eher um die klassischen Themen des Black Metals?
Die fetten Jahre sind mit Sicherheit vorbei! In meiner Musik spielt Gesellschaftskritik auf jeden Fall eine wichtige Rolle. Ich halte es für wertvoll, bestimmte Gedanken und Sichtweisen in den Musikstücken zu verarbeiten. Mich inspirieren viele philosophische und politische Schriften. Ich kann jedem zum Beispiel nur empfehlen Fredy Perlmans "Against His-story, Against Leviathan" und John Zerzans "Future Primitive" zu lesen. Als Einstieg in das zivilisationskritische Denken würde ich Henry David Thoreaus "Walden" und Daniel Quinns "Ishmael" empfehlen. Ich war schon immer von einem großen Erkenntnisinteresse getrieben und wollte wissen, warum die Welt so (kaputt) ist, wie sie ist. Die genannten Bücher haben für mich allesamt neue Türen geöffnet und mir Denkimpulse gegeben. Für die beiden letzten BONJOUR TRISTESSE-Alben sind alle genannten Bücher wichtige Inspirationsquellen.

Es finden sich aber auch die klassischen Black-Metal-Themen auf dem neuen Album – allerdings in etwas anderer Form. Der Text des Songs 'Lightbearer' ist zum Beispiel ein klassischer satanistischer Black-Metal-Text. Das Interessante daran ist, dass dieser auf Zitaten von Michael Bakunin basiert. Selbiger war einer der großen anarchistischen Denker in Europa. In seinem Buch "Gott und der Staat" übt er scharfe Kritik am Christentum. Als Befreier und ewiger Rebell gegen die Vormachtstellung des Christentums führt er Satan an. Der Teufel wird bei Bakunin also zum Befreier, zu einem Kämpfer gegen die Unterdrückung. Diese Verschmelzung von Anarchismus und Satanismus ist interessant und fasziniert mich schon eine Weile. Die widerständige Weltsicht und die religionskritische Perspektive passen perfekt zum Black Metal, weshalb ich mich in meinen Songs auch auf Bakunin beziehe.

Schaut man auf die aktuellen Entwicklungen im extremen Metal, scheint es geradezu so, als würde man sich im Hinblick auf die Textinhalte von satanischen Themen und dergleichen immer mehr abwenden und eher lebensnahe Inhalte aufgreifen. Wie bewertest du diese Entwicklung?

Die zeitgenössische Metalszene ist so heterogen, dass man alle möglichen Themen darin abgedeckt findet. Ich kenne genügend Bands, die sich nach wie vor mit Freude der Teufelsverehrung hingeben. Andere thematisieren lieber das Leben in der Gegenwart. Ich denke, beides hat seine Daseinsberechtigung. Was davon zahlenmäßig überwiegt, kann ich nicht sagen.

Manche Bands sehen die Lyrics lediglich als schmückendes Beiwerk und notwendiges Übel, andere wiederum legen besonderen Wert auf klare und auch besondere Textaussagen. Wo siehst du dich in dieser breiten Spanne?
Ich denke, dass Lyrics von großer Bedeutung sind. Eine Ausnahme bilden besonders atmosphärische Musiken, die zum großen Teil instrumental gehalten sind. Dabei kann ich gut auf Lyrics verzichten, doch wenn es Texte gibt, dann sollten diese auch etwas zu sagen haben. Musik ohne Inhalt oder Emotion interessiert mich nicht.

Ich habe mich schon seit geraumer Zeit gefragt, wie eine Band dieses musikalischen Formats auf einen Namen wie BONJOUR TRISTESSE gekommen ist und was er zu bedeuten hat. Vielleicht kannst du hier Aufschluss geben?
Der Bandname wurde zum einen von Francoise Sagans Buch "Bonjour Tristesse" und zum anderen von einem Gedicht des französischen Schriftstellers Paul Éluard inspiriert. Ich mag die düstere, melancholische, ganz eigenartige Stimmung des Romans sehr und Éluard faszinierte mich ab dem Moment, als ich sein erstes Gedicht las. Er war Kommunist und leistete als Teil der Résistance Widerstand gegen die Nationalsozialisten. Sein Gedicht "À peine défigurée" inspirierte den Bandnamen, das Gedicht "Liberté" ist in Teilen als Songtext verarbeitet worden. Ich denke, dass diese Mischung aus Dunkelheit, Melancholie und kritischem Denken bzw. kompromisslosem Widerstandsgeist perfekt zu einer Black-Metal-Band passt.

Zurück zur neuen Platte: In meiner Kritik habe ich geschrieben, dass sich die Spreu vom Weizen trennt, wenn es darum geht, die Spanung in längeren Tracks aufrechtzuerhalten. Was ist hier deine vermeintliche Geheimrezeptur?
Eine wirkliche Geheimrezeptur gibt es da nicht. Ich denke, man braucht ein gewisses Gespür für Songstrukturen und letzten Endes viel Übung. Ich schreibe seit mehr als 15 Jahren Songs für verschiedene Bands, ich denke, mit der Zeit lernt man, was gut funktioniert und Spannung erzeugt und was weniger gut passt.

Du schreibst in der Regel eher Longtracks und hast entsprechend nur wenige Nummern auf deinen Alben. Wie ist es zu dieser Entwicklung gekommen?
Ich denke, dass es für atmosphärische Musik immer gut ist, sich Zeit zu nehmen. Damit sich eine bestimmte Stimmung aufbauen kann, braucht es oft einfach einige Minuten. Außerdem mag ich den Fakt, dass man sich für das Hören langer Stücke schlicht und ergreifend Zeit nehmen muss. In unserer hektischen, beschleunigten Welt ist ein Musikstück, das länger als vier Minuten dauert ja schon fast ein antikapitalistisches Statement gegen die Konsumkultur. Letzten Endes lege ich aber Songlängen nicht im Vorhinein fest. Wenn ein Song fertig ist, dann endet er.

In diesem Genre gibt es wenige Bands, die so melodisch vorgehen und bei denen die Leadgitarren so markant im Fokus bleiben. Ist Einprägsamkeit für dich wichtig?
Ich schätze Melodien als Vermittler bestimmter Atmosphären. Wenn diese einprägsam sind, ist das gut, wenn nicht, ist das für mich auch in Ordnung. Wichtig ist, dass sie bestimmte Stimmungen erzeugen und den Hörer berühren.

Gibt es in der extremen Szene ähnlich gelagerte Bands, zu denen du aufschaust und mit denen du dich vielleicht auch mal persönlich auseinandersetzen möchtest?
Es gibt viele Bands, die ich sehr schätze. Allerdings sind die Zeiten, in denen man irgendwelche Bands als Vorbilder anhimmelte (zum Glück) seit langem vorbei.

Da du als Solokünstler aktiv bist, scheinen Livegigs nahezu ausgeschlossen. Oder hast du hier gute Nachrichten?
Ich werde regelmäßig gefragt, ob es irgendwann einmal Liveshows von BONJOUR TRISTESSE geben wird. Das ehrt mich, und ich hätte prinzipiell auch Lust die Band auf die Bühne zu bringen, allerdings fehlt mir momentan dafür einfach die Zeit. Gerade auch neben HERETOIR wäre es schwierig Zeit und Energie für Liveshows mit einer weiteren Band zu finden. Es wird sich zeigen, ob es in der Zukunft doch einmal so weit ist...

Was steht bei dir als nächstes an? Was plant ihr für die kommenden Monate?
Der Plan ist im Winter das kommende Album fertig zu schreiben bzw. die Aufnahmen abzuschließen.

Und welche Erwartungen hast du an die Phase nach dem Release, also genau jetzt?
Keine. Ich hoffe, die Fans sind zufrieden mit dem Release. Bisher macht es den Anschein als ob dies der Fall wäre.

Last words?

Vielen Dank für die interessierten Fragen und die Möglichkeit über meine Musik zu sprechen.

Redakteur:
Björn Backes

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