BRUCE SPRINGSTEEN: Tracks II: The Lost Albums (Boxset)
30.06.2025 | 15:33Ein Boxset mit ganzen sieben verlorenen Alben hat uns BRUCE SPRINGSTEEN unter dem Titel "Tracks II: The Lost Albums" während der Zeiten der Corona-Pandemie kredenzt. Ja, ihr habt richtig gelesen: Manche Bands bringen in der gesamten Karriere keine sieben Studioalben zustande und der Boss hält ganze 83 Tracks einfach mal im Archiv zurück, weil es das Material aus diversen Gründen nie zur Veröffentlichung geschafft hat. Schade, dass man als Sammler des physischen Produktes für die Auflage mit sieben CDs oder neun Vinyl-Scheiben mit deutlich über 200€ ziemlich tief in die Tasche greifen muss, denn das macht das durchaus hörenswerte Material nicht gerade besonders zugänglich für die breite Masse. Und auch die Compilation "Lost And Found: Selections Of The Lost Albums", die quasi ein Best-of der sieben Alben liefert, umfasst leider lange nicht alle Höhepunkte dieser umfassenden Sammlung. Andererseits bekommt ihr als Käufer des digitalen Produktes mit 83 Songs für rund 25€ unheimlich viel geboten. In Sachen Veröffentlichungspolitik ist dieses Boxset also eine durchaus zweischneidige Angelegenheit. Und wie sieht es in Sachen Musik aus?
Nun, da gibt es die verschiedensten Stilistiken zu entdecken, an denen sich Mr. Springsteen zwischen 1983 und 2018 versucht hat. Während die Öffentlichkeit nämlich dachte, dass der Boss gerade in den Neunzigern doch überraschend wenig Output lieferte, werkelte der Amerikaner eigentlich konstant an frischen und durchaus ungewohnten Ideen. Doch nehmen wir uns die Scheiben einfach mal Stück für Stück vor:
1. L.A. Garage Sessions '83
Los geht es in chronologischer Reihenfolge mit "L.A. Garage Sessions '83" und satten 18 Tracks, die in der Zeit zwischen "Nebraska" und "Born In The U.S.A." enstanden. Und auch musikalisch stellt das Material einen Brückenschlag zwischen beiden Langspielern dar. Das Setting ist weiterhin reduziert und der Sound sehr auf Lo-Fi gepolt, doch anstatt nur mit Gitarre, Harmonika und Gesang zu operieren, fügt der Boss dem "Nebraska"-Fundament eine Rhythmusgruppe hinzu, die den Songs etwas mehr Schwung verleiht. So hätten dann 'Don't Back Down' oder auch 'Don't Back Down On Our Love' mit ihrem beschwingten Charakter und einer Aufarbeitung durch die gesamte E STREET BAND auch problemlos auf "Born In The U.S.A." passen können und dort durchaus solide Beiträge abgegeben. Andererseits gibt es mit einer Nummer wie 'Little Girl Like You' auch eher seichte Kost, die sich irgendwie etwas unfertig anfühlt und vielleicht deswegen nie das Tageslicht sah. Gleiches gilt in Teilen auch für die frühe Version von 'My Hometown', die zwar schon den Charme des Songs erahnen lässt, aber in Teilen noch etwas unrund klingt. Stars der Show sind aber ganz klar die dunkleren und introvertierten Momente, die eher an "Nebraska" denken lassen, wobei für mich besonders 'Johnny Bye Bye' und 'The Klansman' als Höhepunkte herausstechen. Insgesamt eine spannende Scheibe, die mit dem Ansetzen des Rotstifts bei ein paar unfertigeren Tracks ein starkes Album geworden wäre, das sich problemlos in das hochklassige Gesamtwerk von Mr. Springsteen einsortiert hätte.
2. Streets Of Philadelphia Sessions
Habt ihr euch schon immer gefragt, warum BRUCE SPRINGSTEEN nie auf den Erfolg von 'Streets Of Philadelphia', das ja seinerzeit einen Oskar gewinnen konnte, aufgebaut hat? Nun, wie sich herausstellt, hatte Bruce sehr wohl ein komplettes Album in diesem Stil im Archiv liegen, das schlussendlich aber von der Reunion der E STREET BAND beerdigt wurde. Dabei ist der Silberling einer der stärksten Einträge dieses Boxsets, der mich auch nach mehreren Durchläufen nicht loslässt. Angetrieben von den gleichen Synthesizern und Drumloops, die schon 'Streets Of Philadelphia' zu einem Hit machten, zeichnet Springsteen hier unheimlich düstere und packende Klanglandschaften, die einen sofort mitreißen. Einzelne Höhepunkte herauszugreifen, fällt dann auch entsprechend schwer, denn eigentlich lässt sich dieser Silberling am besten als fesselndes Gesamterlebnis genießen. Trotzdem hinterlassen 'Blind Spot', 'We Fell Down' und 'Waiting On The End Of The World' den stärksten Eindruck und sind allesamt Hits, die viel früher schon das Licht der Welt hätten sehen müssen. Ebenfalls erwähnenswert ist die frühe Version von 'Secret Garden', das später in einer E STREET-Version auf "Greatest Hits" landen sollte. Nähme man zur Trackliste noch 'Streets Of Philadelphia' hinzu, wäre das hier ein Studioalbum geworden, das dem Boss in den Neunzigern definitiv einen riesigen Erfolg hätte verschaffen können und das für mich sogar die Nase locker vor Scheiben wie "Human Touch" oder "Tunnel Of Love" hat. Ganz großes Kino, das ihr unbedingt einmal gehört haben müsst.
3. Faithless
Der Kontrast zum nächsten Silberling der Sammlung könnte dann allerdings nicht härter sein, denn vom Synth-Pop-Rock der Neunziger kommen wir plötzlich zu einem sperrigen und düsteren Filmsoundtrack, an dem Bruce in den frühen 2000ern arbeitete. Der Film selbst wurde schlussendlich leider nie gedreht, doch die Filmmusik, die sich primär mit Spirtualität und Glauben auseinandersetzt, sieht nun glücklicherweise das Tageslicht. Natürlich ist die CD innerhalb des Boxsets dennoch ein Ausreißer, fehlen vielen der Songs doch die großen Refrains, die wir ansonsten von Mr. Springsteen gewohnt sind. Dafür gibt es gleich drei instrumentale Stücke und eine insgesamt düster-beschwörerische Atmosphäre, die sich als durchaus fesselnd entpuppt. Hits drängen sich da natürlich nicht auf, sondern viel eher muss man sich "Faithless" mit etwas mehr Mühe erarbeiten, um die Höhepunkte zu finden. Bringt man die Geduld mit, dann drängt sich vor allem der beschwörerische Titeltrack als Glanzstück auf, das zwischen Banjo, Slide-Gitarre und mehrstimmigen Gesängen düster aus den Boxen wabert. 'All God's Children' ist dagegen ein stampfender Track, bei dem Bruce die rausten Ecken seiner Stimme für maximale Eindringlichkeit anzapft, nur um später in der Ballade 'My Master's Hand' begleitet vom Piano wieder in die düster-melancholische Stimmung zu verfallen, die "Faithless" insgesamt prägt. Und so ist der Silberling auf den ersten Eindruck hin vielleicht der unscheinbarste dieser Sammlung, wird aber mit jeder Umdrehung spannender und entwickelt sich am Ende zu einem Höhepunkt auf "Tracks II: The Lost Albums", eben weil er Bruce in einem so ungewohnten und doch tollen Licht zeigt.
4. Somewhere North Of Nashville
Ungewohnt ist auch ein gutes Stichwort für "Somewehere North Of Nashville", denn mit so viel Country-Rock-Einschlag hat man Mr. Springsteen ansonsten sehr selten musizieren hören. Das Erstaunlichste daran ist, dass die Songs praktisch parallel zu "The Ghost Of Tom Joad" entstanden. So arbeitete Springsteen großteils morgens an den eher introvertierten Songs des Soloalbums, nur um sich am Nachmittag gemeinsam mit einer kurzfristig zusammengetrommelten Truppe von Gastmusikern an den eher locker-fluffigen und spontan entstanden Songs zu versuchen, die nun hier erstmalig erscheinen. Warum das Album so lange in den Archiven schmorte, lässt sich dann auch durchaus nachvollziehen, denn im Kontrast zum düsteren "The Ghost Of Tom Joad" hätte sich ein Album voller flotter Rocker der Marke 'Repo Man' oder 'Tiger Rose', die im Handumdrehen eine komplette Bar aus den Sitzen reißen könnten, durchaus schwer getan. Ebenfalls findet sich hier 'Stand On It' wieder, das bereits 1985 als B-Seite der "Glory Days"-Single und später in einer alternativen Version auf "Tracks I" zu finden war. Ebenfalls drängt sich das coole 'Delivery Man' mit seiner tollen Gitarrenarbeit schnell als Höhepunkt auf, während 'You're Gonna Miss Me When I'm Gone' oder 'Blue Highway' mit ihren eher reduzierten Arrangements doch die geistige Brücke hin zum parallel entstandenen Soloalbum schlagen. Insgesamt bleibt aber trotzdem der Eindruck haften, dass Mr. Springsteen irgendwo einen Platz für eine reguläre Veröffentlichung hätte finden müssen, denn wie auch alle anderen CDs ist "Somewhere North Of Nashville" insgesamt viel zu packend und mitreißend, um so lange vor den Fans "versteckt" zu werden.
5. Inyo
Zeitlich machen wir zum fünften Silberling der Box dann keinen großen Sprung, denn "Inyo" entstand großteils in diversen Sessions während Bruce "The Ghost Of Tom Joad" betourte. Inspiriert von den allabendlichen Konzerten, schrieb der Boss auf der Tour weiter an ähnlich gelagertem Material, wobei thematisch auf den hier versammelten Songs primär Geschichten aus dem Grenzgebiet zwischen den USA und Mexiko im Vordergrund stehen. Es geht um Einwanderer und den kulturellen Einfluss, den die Einwanderer gerade in den Grenzstädten und auch L.A. einbringen. Dabei bekommen wir hier primär geführt von der akustischen Gitarre und mit Harmonika und Geigen garniert nur die Überbleibsel dieser Sessions zu hören, denn ein Goßteil des Materials wurde später zu "Devils & Dust". Warum großartige Tracks wie 'Inyo', 'Indian Town' oder 'The Aztec Dance' am Ende den Cut nicht schafften, wird uns dabei wohl nur Mr. Springsteen verraten können, denn qualitativ stehen die Songs ihren zuvor offiziell veröffentlichten Kollegen in nichts nach. Im Gegenteil, ein beschwörerischer Track wie 'Ciudad Juarez' hat mit seiner Trompete sogar einen gänzlich eigenen Vibe und hätte etwa "Devils & Dust" sogar noch weiter aufwerten können. Gefällt euch diese Ära im Springsteen-Universum, dann ist "Inyo" wohl auch der perfekte Silberling für euch, denn hier gibt es noch viel mehr Material, das den herrlich düsteren und beschwörerischen Songwriting-Stil dieser Phase aufgreift und uns gleichzeitig zahlreiche packende Refrains mit auf den Weg gibt.
6. Twilight Hours
Nach fünf wirklich tollen Silberlingen kommt für mich persönlich zumindest mit "Twilight Hours" eine kleine Ernüchterung. Das liegt mit Sicherheit in der Geschichte der hier zusammengefassten Songs begründet, denn alle wurden im Rahmen der "Western Stars"-Sessions aufgenommen. Der verträumte Pop-Stil von "Western Stars" konnte mich persönlich nie so richtig abholen, weswegen ich bis heute auch nur die Live-Version der Scheibe, die im Rahmen des Drehs zum zugehörigen Dokumentarfilm aufgenommen wurde, im Regal stehen habe, weil hier wenigstens etwas mehr rockige Kantigkeit durch die Band hinzukam. "Twilight Hours" schwelgt aber primär ebenfalls in entrückten und zuckersüßen Sound-Landschaften, die mir etwas zu glattgebügelt daherkommen und daher auch wenig bleibenden Eindruck hinterlassen. Tolle Songs gibt es natürlich auch hier zu hören, wobei sich 'Lonely Town' und 'High Sierra' als Höhepunkte aufdrängen. Beides hätten in meinen Ohren Klassiker werden können, würde sich die Produktion der Scheibe nicht Mühe geben, alle Ecken und Kanten so gut wie möglich glattzupolieren. Habt ihr euch im Gegenteil zu mir immer gewünscht, Bruce hätte mehr im Stil von "Western Stars" aufgenommen, dann ist "Twilight Hours" definitiv die Antwort auf eure Gebete und Hoffnungen.
7. Perfect World
War die vorherige CD für mich eher ein Reinfall, liefert "Perfect World" die Antwort auf meine persönlichen Gebete, denn hier werden diverse Songs zusammengefasst, die Bruce gemeinsam mit der E STREET BAND in den Neunzigern und Zweitausendern aufgenommen hat. Der Silberling ist daher irgendwie ein Bruder im Geiste zum 2014er Langspieler "High Hopes", für den Bruce ja ebenfalls diverse B-Seiten und Archivmaterial aufarbeitete und gemeinsam in Albumform brachte. Gänzlich gelungen ist das auch hier nicht, denn teilweise hört man dem Material schon an, dass es in verschiedenen Sessions aufgenommen wurde. Absolute Volltreffer sind aber doch reichlich innerhalb der insgesamt zehn Songs verteilt. Allen voran überzeugen 'I'm Not Sleeping' und 'Rain In The River' als wuchtige Stadionrocker, die beide von einem unheimlich starken Drumbeat angetrieben und von tollen Refrains veredelt werden. Dicht dahinter geht das bluesig angehauchte 'Idiot's Delight' über die Linie, während der coole Rocker 'Another Thin Line' auch auf "Human Touch" eine starke Figur gemacht hätte und lyrisch auf ganzer Linie überzeugt. Dagegen ist 'The Great Depression' eher ein akustisch geprägter Track, der aber nicht minder eindringlich aus den Boxen schallt, während 'You Lifted Me Up' eine tolle Ballade ist, die sich mit den großen Momenten von "Magic" messen kann. Dass am Ende mit 'Perfect World' der unscheinbarste Track dem ganzen Silberling den Namen gegeben hat, mutet da schon fast eigenartig an, denn abseits dieser doch eher mauen B-Seite strotzt die letzte CD des Boxset nur so vor großen Momenten und Songs, die sich mit Sicherheit einen festen Platz in meiner SPRINGSTEEN-Playliste erarbeiten werden.
Musikalisch ist "Tracks II: The Lost Albums" damit eine unerschöpfliche und überraschend abwechslungsreiche Fundgrube, die jeder Fan der Rock-Legende aus New Jersey einmal erkunden sollte. Trotzdem bleibt der große Wermutstropfen der Preisgestaltung, denn selbst wenn man einmal 20€ als Preis für ein Album ansetzt, käme man für diese Sammlung von sieben CDs auf einen Gesamtwert von 140 - 150€. Dass am Ende stolze 229€ aufgerufen werden (hier lag der günstigste Preis beim Verfassen dieser Zeilen), ist dann selbst für einen Die-Hard-Jünger wie mich etwas unverständlich. Da hätte mir eine Veröffentlichungspolitik im Stile der Prog-Metaller DREAM THEATER, die ja zuletzt in einzelnen Releases immer wieder ihre Archive öffneten, deutlich besser gefallen. Als separat veröffentlichte Alben hätten sich nämlich dann Fans ihre Favoriten herauspicken können und wären selbst beim Kauf aller CDs nicht bei der gleichen Summe angekommen, die man nun für das Boxset berappen müsste. Schade, so werde ich wohl vorerst widerwillig zur digitalen Version greifen und hoffen, dass sich das Boxset irgendwann auf dem Gebrauchtmark günstig erstehen lässt. Lohnenswert ist die Anschaffung aus musikalischer Sicht nämlich auf jeden Fall!
- Redakteur:
- Tobias Dahs