Gruppentherapie ENSLAVED - "E"

10.11.2017 | 18:23

Die Black-Metal-Exoten ENSLAVED sind zurück mit ihrem neuen Langeisen "E" und zeigen wieder einmal, dass in der Welt der Norweger ganz offensichtlich keinerlei Genregrenzen existieren. So schleicht sich dann beispielsweise sogar ein Saxophon oder eine Orgel in die düsteren Klanglandschaften des Quartetts, was nicht all unseren Gruppentherapeuten so recht schmeckt. Bleibt die Frage, was die Scheibe denn nun ist: gelungenes Experiment oder doch eher wildes Stil-Durcheinander? Lest selbst.

Zugegeben, nach dem ersten Durchlauf von "E" war ich etwas irritiert und dachte schon, ich muss hier den Motzki machen und einen Verriss schreiben. Zu groß erschien mir der Schritt, den ENSLAVED seit der letzten Scheibe "In Times" gemacht hat. Das liegt einerseits am sehr hohen Klargesanganteil, aber auch an den diversen Experimenten wie der Orgel und dem Saxophon. Aber seitdem ist die Scheibe mit jedem Durchgang gewachsen und gerade die Experimente gefallen mir immer besser. Auch mit dem Klargesang (der ja wirklich gut gemacht ist) habe ich mittlerweile meinen Frieden gemacht. "E" ist eben eines dieser Alben, die eine gewisse Zeit brauchen, um sich zu entfalten. Der experimentelle Song 'Hiindsiight' hat sich sogar zu meinem persönlichen Highlight der Scheibe entwickelt. Aber auch unter den anderen Tracks findet sich kein Ausfall. Die progressivere Ausrichtung der Songs gefällt mir auch ganz gut. Insgesamt finde ich "E" einen mutigen Schritt von ENSLAVED, der zwar einige alteingesessene Fans vor den Kopf stoßen wird, aber auch viele neue Elemente im Sound etablieren kann. Ob die Scheibe einen Wendepunkt in der Diskographie markiert, wird die Zeit zeigen. Ich bin jedenfalls schon sehr gespannt, was uns auf dem nächsten ENSLAVED-Album erwartet.

Note: 8,5/10
[Hermann Wunner]

 

Ich muss gestehen, dass ich die Band bisher nur recht oberflächlich kannte. Einzelne Lieder habe ich dann und wann mal angehört und fand sie ganz gut, aber nicht allzu spektakulär. Mit "E" wollte ich jetzt tiefer eintauchen und das war in etwa so, als ob man in der Erwartung eines Eiswasserbeckens in ein Becken mit kochendem Wasser springt. Das ist ENSLAVED? Klar, ich hatte im Vorfeld von Experimenten gehört, aber nochmal: Das ist ENSLAVED? Bei 'Storm Son' habe ich mich eher an DREAM THEATER erinnert gefühlt. Nach und nach sickert dann aber Vertrautes ein... kreischender Gesang, Kälte und manchmal sogar fieses Black-Metal-Riffing. Das wird aber immer wieder gebrochen, durch Elemente, die man nicht erwartet. In diesem Sinne: spannende Sache! Nach einigen Hördurchgängen macht das gar stellenweise richtig Spaß! Es ist doch interessant, in welch unterschiedliche Richtungen sich Black Metal im Jahre 2017 entwickelt hat, ohne seine Wurzeln komplett aufzugeben. So richtig zum Lieblingsalbum wird sowas bei mir nicht, aber da bin ich auch nicht die Zielgruppe. Wem allerdings bei progressiv-intellektuellen Wikingerhorden die Sonne aufgeht, der ist mit ENSLAVED und "E" sehr gut beraten.

Note: 8,0/10
[Jakob Schnapp]

 

Um auch hier mit persönlichen Vorbetrachtungen zur Band zu beginnen: ENSLAVED hatte ich bisher schon auf meinem Extremmusikgrill, hatte sie jedoch eher dem Bereich des Death-Metal-Untergrundes zugeordnet. Sobald die ersten Töne von 'Storm Son' erklangen, war ich mir sicher, dass hier gleich der Wikinger-Metal-Kessel mit Black-Metal-Zutaten angeheizt wird. Nun beim Verzehr bin ich der Stilfreude und Ideenbreite wegen angenehm überrascht. Die Gitarrenfront kommt in mehreren Schüben angewalzt und angerollt und hält das Stück fest und am Laufen. Kurzweilig. Auch, da das schicke Motiv zum Ende des Sturmes wieder mit Keyboardklängen begleitet wird, die nicht in das Käsige abmatschen. 'The Rivers Moth' schiebt sich zunächst so vorbei, ohne großen Eindruck zu hinterlassen. Aber mit zurückhaltendem Gesang, der gerade dadurch einen höheren Zuhöreffekt erzeugt. Das ist so ein Mehrmalshörer, der sich mit jedem Durchgang eigentlich als einer der Höhepunkte herauskristallisieren wird. 'Sacred Horse' dagegen ein Angeber, ein Forderer. Nach kurzer Zeit denke ich mir: "Oh, und das jetzt noch acht Minuten lang?" - Irgendwann grätscht eine Orgel dazwischen, aber ich suche immer noch nach Orientierung. Das lange orchestrale Ende des Stückes rettet den verworrenenen Eindruck nun auch nicht mehr. Bombast, der überfordern kann. Während 'Axis Of The Worlds' sehe ich zuerst einmal bärtige Nordmänner das Beuteboot entpacken. Das Stück entpuppt sich auch als ein Mehrschichter, der dunkle Chöre, fieses Greinen und marschige Gitarren verbinden möchte. Funktioniert auch. Aber ein Gedanke beschleicht mich neben der Überraschung, dass das hier wohl zeitgenössischer "Modern Viking Metal" sein dürfte: Die vielen Einschübe und ja, auch Überraschungen, ergeben für mich eine erfrischende Art von Musik, die durch die vielen Querstreben nach Aufmerksamkeit strebt. Bei 'Feathers Of Eolh' glaube ich es erst mit einer Postrock-Postmetal-Jazz-Mixtur zu tun zu haben, aber wir betreten bald wieder die klassischen Metalpfade. Interessant. Und da, weiter hinten, da bekomme ich noch meine Atmosphäre, die Weite des Abendhimmels in Töne gegossen. Stärkste Momente des Albums. Dass da kurze Zeit später wieder die Walhalla-Kutsche drüberdonnert, geschenkt. Durchseufzen. Der letzte Zehner namens 'Hiindsiight'. Zweimal Doppel-I. Durch seine innere Ausbremsung und das darauffolgende Gekrösel, in dem sogar ein Saxophon mitmischt, ist das ein weiterer Überrascher. Zumindest für mich. ENSLAVED stellt sich breit auf. Und das steht der Band gut.

Note: 6,0/10
[Mathias Freiersleben]

Also Leute, was ist denn bitte hier los? Matthias verbuchte die norwegischen Black-Metal-Götter ENSLAVED zuerst fälschlicherweise als Todesstahl und Kollege Jakob ist die ganze Sache offensichtlich auch nicht so ganz geheuer, dabei liegt hier mit "E" wahrscheinlich die interessanteste Schwarzmetall-Scheibe in meinem Player, die wir in diesem Jahr zu hören bekommen werden. Warum? Weil die Norweger sich auch dieses mal wieder treu bleiben, indem sie eben ihren eigenen Linien nicht treu bleiben. Stattdessen domiert die Freude am Experimentieren, die Songs wie 'Storm Son' oder 'Axis Of The Worlds' immer wieder ungeahnte Wendungen verschafft und damit dafür sorgt, dass der Silberling mit jedem Hörduchlauf wächst und wächst. Selbst die bereits erwähnten Jazz-Einflüsse inklusive ungewohnten Saxophon-Tönen fügen sich dabei nahtlos ins Gesamtbild ein und beweisen wieder einmal, dass der Vierer inzwischen im Stande ist, nahezu jeglichen Einfluss in seinen Sound zu integrieren, ohne den typischen ENSLAVED-Vibe zu verlieren. Dementsprechend kann ich auch nicht so recht nachvollziehen, warum Hermann die Platte für einen mutigen Schritt hält, denn in meinen Augen ist es viel mehr der nächste logische Teilabschnitt einer dauerhaften Entwicklung, bei der Genre-Grenzen schon seit einigen Jahren keine Rolle mehr spielen. Lange Rede, kurzer Sinn: "E" ist neben der neuen SATYRICON-Platte mein persönliches Black-Metal-Highlight des Jahres 2017!

Note: 9,5/10
[Tobias Dahs]

 

Freunde, ENSLAVED ist schon lange keine Black-Metal-Band mehr! Ivar, Grutle und Konsorten betreiben seit Jahren einen genussvollen Eklektizismus, der anno 2017 vor immer weniger halt macht. Und das tut dem gewohnt epischen Klangfundament sehr, sehr gut. Ob das jetzt eine Hammond-Orgel ist, ein jazzy Sax oder eine hypnotisch-orientalische Melodie, die durch die nordische Kälte flimmert - erlaubt ist, was funktioniert. Ganz nebenbei können die Kameraden Satyr und Frost bei 'Axis Of The Worlds' auch noch lernen, wie ein guter SATYRICON-Song heute klingen könnte. Auffällig ist, dass die Klargesang-Passagen auf "E" endlich über die Leidenschaft und Eindringlichkeit verfügen, die sie so dringend brauchen, um gegen die immer noch in jeder Ecke lauernde Dunkelheit anzusingen. Somit ist dieses Album auf berauschende Weise paradox. Man könnte sagen, es verströmt traurige Hoffnung, verquere Klarheit, zentrierten Wahnsinn. Das ist zunächst einfach mal eine beeindruckende musikalische Leistung, und es ist eigentlich gar nicht so wichtig, wie ich persönlich das finde. Ehrlich gesagt finde ich es jedesmal anders, wenn ich "E" auflege. Manchmal treibt mich das kakophonische Ende von 'Feathers Of Eolh' genau so an den Rand eines Wutausbruchs wie der paralysierende Mittelteil von 'Sacred Horse'. Manchmal aber reite ich mit der Gänsehaut-Hymne 'Storm Son' genau so euphorisiert in die Abendsonne wie mit dem diabolischen 'Hiindsiight'. Note also eigentlich obsolet. Kriegt ihr aber trotzdem. Musik soll die Seele berühen. Diese hier tut es. Punkt.

Note: 9,0/10
[Martin van der Laan]

 

Ja, Martin, du sagst es: ENSLAVED ist schon lange keine Black-Metal-Band mehr. War es überhaupt jemals eine? Damals, als ich sie 1994 erstmals live gesehen habe, hätten sie sich schon nicht als solche bezeichnet, denn mit dem Gehörnten hatten die Norweger ja niemals was am Hut, dafür mit dem Odin am Helm. Wenn Hermann von alteingesessenen Fans spricht, dann bin ich wohl einer. Werden wir durch die Scheibe mit der Ehwaz-Rune vor den Kopf gestoßen? Nun, ich glaube nicht; jedenfalls dann nicht, wenn wir ab "Mardraum" noch mal mit ENSLAVED Kontakt hatten. Für mich war zwischen "Blodhemn" und "Mardraum" der entscheidende Schnitt weg vom klassischen nordischen Viking/Black-Metal-Sound hin zur experimentellen Band, und seither war das eine Reise ohne Wiederkehr, ein Trip ins Unbekannte, eine aber dennoch nachvollziehbare und konsequente Entwicklung zu immer mehr Progressivität, Atmosphäre und Psychedelik. ENSLAVED klingt immer anders, aber trotzdem immer nach ENSLAVED, und genau diese Evolution der Eigenwilligkeit setzt nun das neue Album fort, und ich bin nicht der Meinung, dass der Schritt dieses Mal nennenswert größer ist als zwischen den Alben zuvor. Das Pferdalbum ist eindrucksvoll transparent und zugleich wuchtig produziert, hat dabei dennoch eine große Dynamik und einen mitreißenden Drive. Håkon Vinje, der neue Mann für den klaren Gesang, ist ein mehr als würdiger Nachfolger für Herbrand Larsen, und die Band setzt seine Klasse auch ausgiebig ein, ohne den alten Meister Grutle dadurch an den Rand zu drängen. Weitere Aufhorcher liefern die stark positionierten Synth-Sounds, dazu Lurenklänge, akustische Gitarren, Saxophon, doch das alles bei aller Prägnanz nicht so dominant, dass das metallische ENSLAVED-Element verloren ginge. Auch wenn mir also die Werke bis 1998 auf ewig mehr am Herzen liegen werden, als das neue Werkeln der Norweger, so muss ich doch freudig anerkennen, das Grutle, Ivar & Co. das, was sie tun, nach wie vor in Vollendung tun. Bleibt die Frage, ob das Album nun wirklich nach Ehwaz klingt. Darüber will meditiert sein... neun lange Nächte am windigen Baum.

Note: 8,0/10
[Rüdiger Stehle]

Redakteur:
Tobias Dahs

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