Gruppentherapie: OF MICE & MEN - "Another Miracle"
02.12.2025 | 10:52Hymnen mit Tiefgang oder sperriges Durcheinander?
Vom Soundchecksieger (zur AGNOSTIC FRONT-Gruppentherapie) geht es nun in die Niederungen der Tabelle. Hier finden sich bei uns doch hin und wieder mal die Großtaten des Metalcore wieder, sagen kritische Stimmen. Also beleuchten wir doch mal, ob "Another Miracle" von OF MICE & MEN erneut ein von uns verkanntes Genrehighlight ist oder ob Platz 18 mit vier Noten kleiner oder gleich fünf Punkte berechtigt ist. Dass Tobi hier Partei für die Mäuse ergreift (zum Hauptreview), sollte eh klar sein. Und wenn der Chef ein Interview führt, wird er die Band wohl auch mögen. Werden die Therapeuten wohl diesmal schon wieder in Opposition zu den Soundcheckern gehen wie bei AGNOSTIC FRONT? 
Die kalifornischen Metalcoreler wandeln schon lange nicht mehr im Schatten der reinen Lehre, das kann ich ihnen aber nicht vorwerfen, denn mir gefällt ja eine Mischung aus dem Core und Alternative Rock besser, weil ich es mag, wenn ich nicht permanent angebrüllt werde. Obendrein ist diese Mischung das Rezept für Erfolg, denn egal, welcher Generation man angehört, ein nachvollziehbarer, mitsingbarer Refrain hat noch keine kommerziellen Ambitionen verringert.
Ich habe den Eindruck, dass OF MICE & MEN sogar ein paar mehr Popmelodien eingestreut hat als beim starken Vorgänger "Tether". Überhaupt wird Abwechslung großgeschrieben, dabei aber nicht vergessen, wo man herkommt; gelegentliche Breakdowns und Vokal-Ausbrüche erinnern immer wieder an den klassischen Klang. Das alles hätte ich aber auch schon zum Vorgänger schreiben können, der den ersten, großen Bruch im Bandsound markierte. Doch mit seinem noch deutlicheren Alternative-Anteil wird das gut produzierte "Another Miracle" wahrscheinlich wenig verwunderlich von der Zielgruppe begeistert aufgenommen werden, die ihnen den Schritt Richtung Mainstream der letzten drei Jahre sicher großzügig verzeihen wird. Sind die Jungs eigentlich bereits für das "Summer Breeze" bestätigt? Da gehören sie hin.
Note: 8,0/10
[Frank Jaeger]
Natürlich wird Abwechslung großgeschrieben, ist ja schließlich ein Nomen. Was der Kollege Jäger aber im Zusammenhang mit "Another Miracle" als solche bezeichnet, kommt bei mir eher als sperriges Durcheinander an. Diese Irgendwas Core-Schmelztiegel-Sounds, wie sie auch OF MICE & MEN fabriziert, wirken auf mich immer seltsam unkomponiert und willkürlich zusammengefriemelt. Ich erkenne die Spannungsbögen viel zu selten und bin frustriert, wenn dann tatsächlich mal eine schöne Alternative Rock-Melodie zündet und diese gleich wieder "kaputt gebreakdownt" wird.
Beim Surfen würde man sagen, ich erwische in diesem Gewässer die guten Wellen einfach nicht. Dabei sind in der Tat viele spannende Elemente in der Musik enthalten. Allerdings muss sich ein einfach gestrickter, musikalisch eher auf Beethoven und HELLOWEEN konditionierter Mensch wie meine Wenigkeit ziemlich konzentrieren und anstrengen, um diese aus dem heftigen emotionalen Überschwang und der klanglichen Dauergereiztheit herauszufiltern. Ich bin einfach zu alt für dieses Zeug.
Note: 6,5/10
[Martin van der Laan]
Ich liebe dieses Artwork! Und da das Auge bekanntlich immer mitisst, ist in eher seltenen Fällen die Musik Mist, wenn das Artwork fetzt. Metalcore per se ist nicht meine favorisierte Richtung, doch Bands wie OF MICE & MEN und hier vor allem Alben wie "Defy" oder "Echo" haben mir gezeigt, dass ich auch in diesem Bereich tolle Perlen finden kann, die vor Energie, Kreativität, Wucht und Ideen nur so sprudeln.
So erfindet "Another Miracle" das Rad zwar nicht neu, hat aber eben jenes Grundrezept inne, das ich von den Kaliforniern kenne. Hinzu kommen Refrains, die noch hymnischer sind, und Riffs, die noch etwas mehr in die Tiefe gehen. Leider haben sich mit 'Flowers' und 'Swallow' auch eher mittelklassige Nummern auf der Scheibe versammelt, die den Gesamteindruck etwas schmälern. Doch wenn man sich die Diamanten – und die funkeln im vorliegenden Fall wirklich sehr hell – einzeln rauspicken möchte, ist man bei 'Troubled Water', 'Hourglass', 'Wake Up' und 'Somewhere In Between' an der richtigen Adresse. Und vielleicht will man am Ende ja noch selber auf die Suche gehen. Doch so oder so ist das sehr hohe Kunst, die OF MICE & MEN heuer an den Tag legt und für Genre-Fans ein absoluter Leckerbissen. Es bleibt abzuwarten, ob "Another Miracle" den Zahn der Zeit genauso gut übersteht wie meine beiden Diskografie-Lieblinge.
Note: 7,5/10
[Marcel Rapp]
So langsam nähern wir uns mit großen Schritten dem Jahresende, und die Highlights der einzelnen Genres kristallisieren sich immer deutlicher heraus. Und quasi auf den letzten Metern meldet plötzlich noch jemand Anspruch auf eine Topplatzierung an, den ich zuvor überhaupt nicht auf dem Schirm hatte. OF MICE & MEN führt mir mit Nachdruck vor Augen, dass Metalcore (oder das, was davon noch übrig ist) aus Übersee immer noch richtig begeistern kann und lässt meine diesjährigen I PREVAIL-Erlebnisse im Nu verblassen.
Das neue Album "Another Miracle" strotzt nur so vor Selbstvertrauen und einer Vielfalt, die ich aktuell beispielsweise bei "Limit" von DEVIL MAY CARE etwas vermisse. Dabei verliert sich die Band zu keiner Sekunde, sondern wirkt jederzeit genau wissend, was sie tut. Auf einzelne Songs einzugehen, ergibt kaum Sinn, denn dann müsste man im Grunde alle Stücke einzeln sezieren und insbesondere auf ihre Wechselwirkung untereinander eingehen.
Auch mir gefallen die alternativen oder nachdenklicheren Momente deutlich besser als das Metalcore-Fundament. Allerdings bin ich im Gegensatz zu Martin der Meinung, dass gerade diese Kombination das Besondere ausmacht und beide Ebenen sich gegenseitig kontinuierlich befruchten. Ohne Frage ist das ein Top-3-Album im Bereich Metalcore/Post-Hardcore und damit eine absolute Empfehlung für alle auf modernere Sounds konditionierte Ohren.
Ach übrigens, Marcel: 'Flowers' und 'Swallow' sind alles, aber keine mittelklassigen Nummern. Du hörst schlicht zu wenig wirklich mittelklassigen Metalcore.
Note: 9,0/10
[Stefan Rosenthal]
Bei OF MICE & MEN und allen, die stilistisch in dem Genre unterwegs sind, ist mir der erste Höreindruck besonders wichtig. Oder besser, der Eindruck insgesamt, den das Gepumpe sofort hinterlässt. Zum guten Ton gehört unhinterfragt eine klare und üppige Produktion, in der die Gitarren wie unerbittliche Maschinen ballern, die Drums von hinten drücken, für die Melodien, die Schimmer, Sterne, Harmonien dürften dann die Sängerinnen und Sänger sorgen. So meine Sicherheit, wenn es nach Metalcore oder Deathcore oder Irgendwas-Core dembelt. Den Hardcore nehme ich als Ursprung mal heraus. Der kommt aus dem Punk. Hat Sonderstatus. Deswegen nehme ich das Core-Anhängsel bei OF MICE & MEN unhingebungsvoll auch so hin. Schubladendrop. Nicht so meins.
Der metallene Anteil in Alben wie "Another Miracle" aber ist entsprechend hoch, wird mit allerlei Keyborderei gewürzt und auch hier ist es vor allem der Gesang, der mich überhaupt in der Platte zu halten vermag. Schnell ist bemerkbar, wie abwechslungsreich das Quartett hier im Angebot steht. Fast manisch die Hintergründe, wenn das Anzählen "Eins Zwei Drei" aus dem Demo es in 'A Waltz' sogar bis zum Schluss des durchoperierten Openers geschafft hat. Ich erinnere mich, wie ich selbst im Walzer mitgezählt habe, um nicht der Dame an den Händen auf die Ballerinas zu steigen.
'Safe & Sound' spielt auch mit einem solchen durchgängigen Motiv, wenn die abschmierende Sirene sich von Beginn bis zum letzten Ton wie um das melodische Stück schlängelt. Aber das passt gut zusammen. 'Wake Up' setzt auf Wiedererkennbarkeit, was die Band auch ganz gut vermag, ohne in den großen Schmalztopf zu fallen.
Mir fällt zudem im Laufe des Albums auf, dass es auch musikalisch weiteres zu entdecken gibt. Das Schlagzeug pendelt und probiert, und die Gitarrenwand scheint sich ab und zu auch nicht recht sicher zu sein, ob sie besonders kräftig oder abwartend agieren soll. Insgesamt ein ganz spannender Höreindruck.
Ich meine zu wissen, dass es bei Alben dieser Art zumeist Mittelwerte in den Bewertungen gibt und geben wird. Weil die Gleichförmigkeit droht. Das Glatte. Erwartbare. OF MICE & MEN darf ich aber getrost eben wegen der Abwechslungen in das obere Bewertungsdrittel pimpen.
Weil sich der erste Höreindruck bisher viermal wiederholt hat.
Note: 7,0/10
[Mathias Freiesleben]
Alle reden hier von Abwechslung. Trotzdem kann ich mich des Eindrucks nicht erwehren, dass alle Songs sehr ähnlich klingen, mal mit mehr, mal mit weniger Luft. Ein bisschen geht es mir also wie Martin: Ich bekomme hier den Fuß nicht in die Türangel, die Musik entgleitet mir in den glatten, flächigen Passagen, schreckt mich, wenn ich angeschrien werde. Und wenn dann doch mal wieder eine schöne Melodie wie in 'Troubled Water' auftaucht, erfindet die Musik immer wieder etwas, das meine Stirn runzeln lässt. Herr Scheurer, ich verstehe Sie, auch die Kollegen Stehle, Dahl und Reiser.
Doch es kommt beim Hören auch immer wieder ein Gedanke auf: Ich sollte mal wieder 30 SECONDS TO MARS hören. Die guten Passagen auf "Another Miracle" erinnern mich an die ersten Alben von Jared Letos rotem Planeten. Allein das hievt das Album dann doch schon mal in die obere Hälfte der Notenskala, wenn auch nicht in den "Gut"-Bereich.
Note: 6,0/10
[Thomas Becker]
Fotocredit: Carissa Dugoni (Bandfoto) und Frank Hameister (vom Konzert in der Stuttgarter Schleyerhalle 2018)
- Redakteur:
- Thomas Becker





