Im Rückspiegel: BLIND GUARDIAN (Teil I: "Battalions Of Fear" - "Follow The Blind")

30.08.2019 | 10:54

Zweimal guter alter Speed Metal

Am 8. November wird es aller Voraussicht nach so weit sein: Das seit Äonen immer wieder angekündigte, geheimnisumwitterte Orchesteralbum von BLIND GUARDIAN erscheint. Die Einzelheiten dazu können hier nachgelesen werden. Nun handelt es sich dabei um eine Band, die sich im Laufe ihres mittlerweile 35-jährigen Bestehens  - je nach Sichtweise - stark verbessert oder verschlechtert, in jedem Fall jedoch verändert hat. Dass die Krefelder dabei stilprägend gewirkt haben, lässt sich nicht zuletzt an den enormen Verkaufszahlen und an ihrer Popularität erkennen. Man sollte mit solchen Begrifflichkeiten ja immer vorsichtig sein, aber im Falle von BLIND GUARDIAN scheint es angebracht, von einer deutschen Metal-Institution zu sprechen. Höchste Zeit und der perfekte Zeitpunkt also, sich eingehend mit der Diskographie zu beschäftigen, was der Kollege Jonathan Walzer und ich hiermit tun. Berücksichtigt werden dabei neben den regulären Studioalben noch die drei Live-Veröffentlichungen, sowie die Compilation "The Forgotten Tales". Auf weitere Zusammenstellungen und Singles wurde aus Relevanzgründen verzichtet.

 

Battalions Of Fear (1988)

Wir schreiben das Jahr 1988. Eine junge Band aus dem äußersten Westen der Bundesrepublik lässt unter dem massiven Einfluss von HELLOWEEN ein Album auf die Menschheit los, das von Speed Metal-Puristen auch heute noch hemmungslos abgefeiert wird. Und das sicherlich zu Recht. Für den heutigen Leser muss man vielleicht anmerken, dass die großen Vorbilder aus Hamburg zum Zeitpunkt der Aufnahme von "Battalions Of Fear" lediglich eine EP, das Debüt "Walls Of Jericho" und "Keeper Of The Seven Keys: Part I" veröffentlicht hatten. Es geht hier also (zumindest überwiegend) nicht um arg an der Grenze zur Poppigkeit rangierenden Happy Metal al la "Keeper II", sondern um puren und (für damalige Verhältnisse) rasend schnellen Speed Metal.
Nun begehe ich bewusst ein Sakrileg und behaupte, dass das erste BLIND GUARDIAN-Album mindestens auf Augenhöhe mit der hanseatischen Blaupause anzusiedeln ist, wenn nicht sogar besser. Warum das meiner Meinung nach so ist, werde ich im Folgenden darlegen.

Zunächst mal: Ich habe diese Zeit mit meinen zwei Jahren schwerlich bewusst miterleben können und blicke also mit einem rückwärtsgewandten Blick auf die Sache, das sei zum besseren Verständnis dazugesagt. Neben allen Nachteilen, die daraus resultieren, verschafft mir das eventuell einen von Verklärung und allzu subjektiven Erinnerungen freien Zugang. Und so wirkt "Battalions Of Fear" auf mich wesentlich moderner (im positiven Sinne!), frischer und nachvollziehbarer als "Walls Of Jericho", das ich allerdings ebenfalls sehr mag.

Trotz aller Gradlinigkeit dieses Debüts habe ich immer den Eindruck, die Band liefere hier - wenn auch in homöopathischen Dosen - bereits sehr vieles von dem, was sie später so ungemein grandios machen sollte. Anders gesagt: Ich bilde mir ein, hier schon Spuren der folgenden Progressivität zu erkennen. Zwar waren Olbrich, Siepen und Co. damals keine besonderen Virtuosen an ihren Instrumenten, aber es ist doch eine Eigenständigkeit, ein Drang des Sich-Ausprobierens und ein Wille zur Detailverliebtheit erkennbar. Doch dazu mehr bei der Einzelliedbesprechung.

Davor noch ein paar Details des Albums, die zur Brillanz beitragen: Da wäre zunächst mal das Coverartwork von van Waay Design, das herrlich unbedarft zwischen einer gewissen Trashigkeit und zielgenauer Tabletop-Fantasy-Romantik pendelt. Der von den BEE GEES entlehnte Schriftzug des Bandnamens fängt genau diese Stimmung kongenial ein. Kalle Trapp hat die knapp vierzig Minuten Hochgeschwindigkeit sauber und druckvoll produziert und so Raum für alle Instrumente geschaffen. Vom späteren Spuren-Overkill war man ja ohnehin noch Lichtjahre entfernt. Nicht zuletzt das macht dieses Debüt ungemein zugänglich und ermöglicht es, dass man "Battalions Of Fear" auch heute noch ganz ohne "Vergangenheitsbonus" hören kann. Auch die zeitgenössische Presse hat das Album wohlwollend bis erwartungsfroh aufgenommen und - wie etwa das Rock Hard - konstatiert, dass diese Band "keine Vergleiche zu scheuen" braucht. Die Kompositionen stammen mehrheitlich aus der Feder von Olbrich und Kürsch und datieren in ihrer Entstehung noch in die LUCIFER'S HERITAGE-Tage zurück. Ansonsten haben wir es hier mit der "klassischen" Besetzung zu tun, die neben Hansi Kürsch (Bass, Gesang), Marcus Siepen (Rhythmus-Gitarre) und André Olbrich (Lead-Gitarre) noch Thomen Strauch (Dritter von links) am Schlagzeug umfasst.

 

Nun also zu den einzelnen Stücken: Das Album beginnt mit 'Majesty' und dieses wiederum mit auf den ersten Blick unerwarteten Klängen: Eine Leierkastenversion von Johann Strauss' 'An der schönen blauen Donau'. Ein Blick auf HELLOWEEN kann Aufklärung schaffen, begannen doch auch die Alben der Hanseaten stets mit einem pseudoklassischen Keyboardintro. Doch es mag noch einen anderen Grund geben: Die bereits von Kubrick in "2001: Odyssee im Weltraum" verwendete Melodie wirkt nun einmal, gerade in dieser Version, unheimlich bieder und schunkelig. Was für ein Bruch also, wenn nach 20 Sekunden die harschen Gitarren über den ahnungslosen Hörer hinwegfegen! Dazu gesellen sich einzelne Schlagzeugschläge und gebellte Vocals, dann mündet das Intro, von einem schnellen Beat untermauert, in einem heftigen Riffgewitter. Die folgende Strophe behält die Geschwindigkeit bei und trumpft mit einer unverschämten Eingängigkeit auf. Andere Bands würden aus sowas einen Refrain machen, ein Umstand, der bei BLIND GUARDIAN in Zukunft noch häufiger auffallen wird. So ist der Opener für viele Fans der Höhepunkt des Albums, der völlig zurecht bisweilen auch heute noch seinen Platz im Live-Repertoire findet. Auch textlich wird eine Tradition begründet, ist die Beschäftigung mit Mittelerde doch eines der Markenzeichen der Krefelder. Aber zurück zur Musik: Wie anfangs schon angedeutet, wird hier eine Art von Progressivität deutlich, die auf den Nachfolgealben immer weiter ausgebaut wird: Tempo- und Taktwechsel, Breaks, abwechslungsreiche Soli und anspruchsvolle Gesangsleistungen. Apropos: Auch wenn Hansi das englische "th" noch nicht so sauber über die Lippen kommt, wirkt das - gerade im Vergleich zu anderen Bands - fast gar nicht peinlich oder provinziell. Auch hat man schon bedeutend schlechtere Texte deutscher Bands gelesen... Wie auch immer: Siebeneinhalb Minuten allerbesten Speed Metals später folgt dann 'Guardian Of The Blind', und das Niveau wird locker gehalten. Hier zeigt zunächst Thomen, was er drauf hat, woraufhin es beinahe thrashig wird. Noch eine Ecke schneller als zuvor preschen die Gitarren vor und Hansi faucht darüber hinweg. Inhaltlich wird Stephen King und dessen Roman "Es" gehuldigt. Alles niederwalzender Höhepunkt der Quasi-Bandhymne findet sich bei Minute 4:45, wenn zum letzten Refrain angesetzt wird und André mit der Gitarre so dermaßen genial darübersoliert. Bei wem das nicht mindestens ein fettes Grinsen hervorruft, der ist - mit Verlaub - innerlich tot. Auch das wieder ein Beweis für die hohe Musikalität dieses Albums.
'Trial By The Archon' ist das erste von drei Instrumentalstücken und lebt von der fast schon erzählenden Leadgitarre. Was bei anderen Bands oft zum Ärgernis avanciert, kann hier durchaus überzeugen. Zudem geht das Zwischenspiel nach knapp eineinhalb Minuten nahtlos in 'Wizard's Crown' über, welches sich mit Aleister Crowley auseinandersetzt und, naja, irgendwie wohl auch eine Verbeugung vor den offensichtlichen Vorbildern darstellt. Zumindest hat man den ursprünglich geplanten und naheliegenden Titel 'Halloween' abgeändert (Ein Lied gleichen Namens war ja inzwischen auf dem ersten Keeper-Album erschienen). Ein starker Song, der aber nicht ganz mithalten kann.
Anders das folgende 'Run For The Night', das den Beginn der B-Seite repräsentiert und überaschenderweise in Mittelerde spielt. Wieder eine klare HELLOWEEN-Schlagseite in den Strophen, der Refrain ist aber BLIND GUARDIAN pur. Mit nicht einmal dreieinhalb Minuten handelt es sich hierbei auch um das kürzeste und sicher nicht schlechteste reguläre Stück auf 'Battalions Of Fear'. 'The Martyr' dagegen ist doppelt so lang und thematisiert das Leben von Jesus. Ob hier die protochristlichen Kürbisköpfe oder QUEEN (Eine Band, die sich ja zu einem bedeutenden Einfluss für BLIND GUARDIAN mausern sollten und auf ihrem Debüt ebenfalls ein Stück über den Religionsstifter hatte) inspirierend waren, bleibt offen. 'The Martyr' jedenfalls ist eine überzeugende Speed Metal-Granate mir mächtigem Refrain und feinen Ohoho-Chorpassagen. Die 'Battalions Of Fear' persönlich geben sich dann die Ehre und stellen den progressiven Höhepunkt dar: Das Stück hätte auch auf das wesentlich vertracktere Nachfolgealbum gepasst.
Von Zeit zu Zeit beschäftigen sich die Krefelder jedenfalls mit etwas, das man allgemeinhin Realität nennt. Auch dafür wird durch diese Abrechnung mit Ronald Reagens Verteidigungspolitik hier der Grundstein gelegt. Kein Klassiker, aber ein sehr solides und beeindruckendes Lied. Den Abschluss des Albums bilden zwei instrumentale Stücke namens 'By The Gates Of Moria' und 'Gandalf's Rebirth'. Letzteres war auf der ursprünglichen Schallplatte nicht enthalten und ist somit ein CD- bzw. Kassetten-Bonus-Track. Über deren Sinnhaftigkeit kann man natürlich streiten, ich mag diesen ungewöhnlichen Albenabschluss und finde die (natürlich) tolkiensche Thematik jeweils interessant umgesetzt. Erwähnenswert ist noch, dass 'By The Gates Of Moria' von Antonín Dvořáks Symphonie Nummer 9, nun ja, "inspiriert" ist.
Fazit: Auch heute noch ist "Battalions Of Fear" ein erstklassiges Debütalbum, das zwar noch klar im Fahrwasser großer Vorbilder schwimmt, aber das enorme Potential dieser Band bereits hinreichend aufblitzen lässt und damit weit davon entfernt ist, als reine Kopie abgestempelt zu werden.

 

Follow The Blind (1989)

Vieles spricht dafür, die beiden ersten Alben in einem Atemzug zu nennen und daher also auch gemeinsam abzuhandeln. So handelt es sich hier um die einzigen 80er Alben der Band, es wird ein sehr ähnlicher Stil dargeboten und auch das noch ein bisschen schickere Coverartwork entstammt der gleichen Feder. Dennoch gibt es im Detail einige Unterschiede, auf die ich jetzt genauer eingehen möchte. Ganz wichtig: Kein einziges Lied befasst sich thematisch mit Mittelerde. Ein Fakt, der eventuell dazu beigetragen hat, dass für mich persönlich 'Follow the Blind' lange Zeit das am wenigsten beachtete Werk der Krefelder war. Zu Unrecht. Wahrscheinlich liegt es auch an einem weiteren Unterschied, so ist dieser Zweitling trotz des großen Überhits 'Valhalla' um einiges unzugänglicher, vertrackter und sperriger als das Debüt. Eigenen Aussagen zufolge haben die vier Musiker in dieser Zeit viel Thrash Metal konsumiert und in der Tat trennen sich hier die Wege von HELLOWEEN und BLIND GUARDIAN, da die Hamburger ja bekanntlich einen deutlich kommerzielleren Weg einschlugen. Dazu passt auch, dass der von ebenjener Entwicklung nicht allzu begeisterte Ex-Kürbis Kai Hansen einen bemerkenswerten Beitrag zu "Follow The Blind" liefert. Weitere Besonderheiten: Neben dem Intro gibt es diesmal "nur" ein Instrumental, dafür zwei Coverversionen. Bei der Presse ist das Album etwas weniger gut aufgenommen worden als der Vorgänger, was an der gebrochenen Erwartungshaltung und der erschwerten Zugänglichkeit liegen dürfte. Der große Durchbruch gelang an dieser Stelle also nicht, auch wenn es mit Platz 51 der deutschen Charts geringfügig erfolgreicher war als "Battalions Of Fear".

 

Damit genug der Vorrede, es folgt die Einzelbesprechung:

Es beginnt bedeutungsschwer mit 'Inquisition', das den Hörer mit monastischen Requiemgesängen einstimmt. Begeisterte "Die Ritter der Kokosnuss"-Fans werden sich an der Referenz erfreuen und sich ihren Teil denken. Das folgende 'Banish From Sanctuary' behandelt Johannes den Täufer und hätte musikalisch auch noch gut auf den Vorgänger gepasst. Hohe Geschwindigkeit trifft auf mitsingkompatiblen Refrain und headbangfähige Strophen. Bei 'Damned For All Time' wird dann allerdings klar, dass sich die Band verändert hat. Es wird wesentlich härter, thrashiger und wüster. Das spiegelt sich übrigens auch in der etwas raueren Gesamtproduktion wieder. Inhaltlich beschäftigt man sich hier mit dem für Metalbands wohl sehr inspirierenden "Eternal Champion"-Universum. Hansi Kürsch brüllt sich, im Chorus von Gangshouts unterstützt, durch die intensiven fünf Minuten. Das hohe Tempo allerdings wird beibehalten. Ganz anders bei 'Follow The Blind': Erstmalig in der Geschichte von BLIND GUARDIAN wird im mittleren Tempo, teilweise geradezu langsam gerifft. Nach einem eher melodischen Vorspiel, das Parallelen zur späteren "Somewhere Far Beyond"-Phase erkennen lässt, folgt ein über sieben Minuten langer Brocken. Ständige Tempowechsel, harte Thrash-Riffs und nicht gerade die eingängigsten Gesangslinien machen den Titeltrack zur echten Hürde. Irgendwann verliert man sich in der fast schon hypnotischen Wirkung dieses Songs, damals dürfte das aber für verstörte Gesichter gesorgt haben. Immerhin steigert sich das Tempo der Gitarren zum Schluss hin, auch wenn das Schlagzeug nicht mitzieht. Seltsam. Auch 'Hall Of The King' bleibt mächtig thrashig, zieht aber geschwindigkeitsmäßig an und weist auch sonst einige bandtypische Elemente wie Chöre und latent bekannte Melodien auf. Interessant auch der wiederholte Einsatz von Keyboards, um einen irgendwie industriell wirkenden "Orchester-Hit-Sound" einzubauen (nachzuhören etwa bei Minute 3:40). 'Fast To Madness' könnte fast als Derivat aus 'Damned For All Time' (gebellter Refrain) und 'Valhalla' (einige Gesangsmelodien in den Strophen) bezeichnet werden. Das ohne Hansis Stimme auskommende 'Beyond The Ice' besitzt meiner Meinung nach nicht den Charme der früheren Instrumentalstücke, wirkt etwas unfertig und hätte auch weggelassen werden können. Dafür entschädigt das mächtige 'Valhalla'. Ein unsterblicher Klassiker auf Konzerten und dort zur Mitsinghymne aufgebläht, umfasst es in der Urversion gerade mal gute viereinhalb Minuten. Der sich scheinbar endlos hinziehende Mitsingteil wird hier nur am Ende angedeutet. Dennoch: Ein großartiges Stück Musik, das durch den Gastgesang Kai Hansens noch einmal auf ein höheres Level gehievt wird (Mr German Metal hat zudem hier und auf 'Hall Of The King' ein Solo beigesteuert). 'Don't Break The Circle', ein Cover der NWoBHM-Band DEMON, bildet einen CD-Bonus, ist aber durch die härtere Ausrichtung eine lohnenswerte Aufwertung. Den Abschluss macht die Coverversion des BEACH BOYS-Hits 'Barbara Ann', das schließlich in 'Long Tall Sally' von LITTLE RICHARD mutiert. Hier begründet die Band die Tradition von Pop-Covern im typischen BLIND GUARDIAN-Stil, die sich bis in die Gegenwart durchzieht und zwischenzeitlich auf "The Forgotten Tales" ihren Höhepunkt fand.

Damit endet der erste Teil dieser Rückschau, ich freue mich mit euch auf den zweiten Teil meines hochgeschätzten Kollegen!

Redakteur:
Jakob Schnapp

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