MASTER BOOT RECORD: Interview mit Victor
17.11.2024 | 16:10"Wir können mit Hilfe von Maschinen bessere Menschen werden, aber sie brauchen uns immer noch, um zu glänzen."
Seit vielen Jahren sticht das italienische Projekt MASTER BOOT RECORD mit seiner Herangehensweise, aber natürlich auch dem Klang seiner Musik heraus. Das aktuelle Album "Hardwarez" enthält zum ersten Mal echte Gitarren, über die wir einiges von Gründer und Mastermind Victor erfahren.
Victor, du bist mit MASTER BOOT RECORD (MBR) 2016 als reines Digitalprojekt ohne jegliche Infrastruktur gestartet und jetzt seid ihr auf Tour, nachdem ihr das dritte Album auf Metal Blade veröffentlicht habt. Ein riesiger Erfolg für eine solche Nischenmusik, nicht wahr?
Ich habe meine Musik einfach auf Bandcamp veröffentlicht und es hat ohne jegliche Art von Promotion funktioniert, sondern nur durch Mundpropaganda. Zu der Zeit war ich vom Musikgeschäft desillusioniert, also beschloss ich, meine Musik an niemanden mehr zu schicken, weder an Labels noch an Magazine oder irgendwelche Geschäftskontakte. Nach der Veröffentlichung auf Bandcamp war die Resonanz so groß, dass das Album "C:\>CHKDSK /F" nach einer Woche auf Platz eins der Metal-Seiten auf Bandcamp stand. Von da an habe ich einfach weiter Musik und Coversongs veröffentlicht und live gestreamt, während ich komponierte, und das Projekt wuchs weiter. Dann fing ich an, mit Data Airlines zusammenzuarbeiten, einem Label mit Wurzeln in der Crack-Gruppe Razor 1911, und sie veröffentlichten meine Vinyls und CDs. Danach habe ich drei Alben bei Blood Music veröffentlicht und mich schließlich 2020 für Metal Blade entschieden. Ich habe einfach abgewartet und die Schritte nach vorne zur richtigen Zeit gemacht, anstatt mich zu stressen. "Hardwarez" ist das drittes Album auf Metal Blade, aber es gibt noch weitere 9 Alben in voller Länge und 5 EPs davor sowie über 44 Coversongs, die man kostenlos herunterladen kann auf mbrserver.com/warez.zip .
Ich bin mir nicht wirklich sicher, ob man das als Nische bezeichnen kann, um ehrlich zu sein, denn angesichts der vielen Einflüsse ist es sehr breit gefächert. Was wir machen, ist eine Mischung aus verschiedenen Metal- und Chiptune-Elementen und die große Mehrheit der Metalheads scheint darauf zu stehen, weil wir sowieso alle mit Heavy Metal und Videospielen aufgewachsen sind, zumindest die große Mehrheit.
Wo wir gerade von den Anfängen sprechen, wie genau kam es denn zur Gründung von MASTER BOOT RECORD?
Es war 2016, als ich dieses Projekt ins Leben rief, um im Wesentlichen den Soundtrack für "VirtuaVerse" zu schreiben, ein Point-and-Click-Adventure, das erst einige Jahre später veröffentlicht werden sollte. Ich habe daran zusammen mit Elder0010 gearbeitet, der die Programmierung übernommen hat, und mit Valenberg, der die gesamte Pixelgrafik und Animation gemacht hat. Ich schrieb die Geschichte, die Rätsel und machte den Soundtrack. Während der Arbeit an dem Soundtrack schrieb ich schließlich einige Stücke, die mehr nach Metal klangen, und da diese für das Gameplay zu schwer waren, beschloss ich, sie separat zu veröffentlichen und in der Zwischenzeit dieses neue Projekt zu erstellen. Also habe ich zwischen dem 1. September und dem 22. September 2016 drei EPs und ein Album veröffentlicht und es boomte einfach auf Bandcamp, ohne dass ich mich darum kümmern musste. Der lustige Fakt ist, dass der Soundtrack von "VirtuaVerse" im Jahr 2020 herauskam, aber es ist eigentlich das erste MBR-Album.
Welche Art von Musik beeinflusst dich? Ist es Synthwave und Metal gleichermaßen?
Um ehrlich zu sein, bin ich nicht sonderlich von Synthwave beeinflusst, denn für jemandem in meinem Alter ist Synthwave so ziemlich ein Remake von 80er Jahre Musik. Es ist eine Sache, die eine sehr kurze Zeit andauerte, aber ich bin mir nicht sicher, ob sie noch relevant ist. Ich habe seit dem ersten Tag immer versucht, den Leuten klar zu machen, dass das, was ich mache, nichts mit Synthwave zu tun hat, aber anscheinend ist das für manche Leute nicht so einfach zu verstehen. Bei der Musik, die ich mit MBR mache, bin ich hauptsächlich von Chiptune und Demoszene beeinflusst, was etwas völlig anderes ist, auch wenn es manchmal ähnlich klingt, weil es einfach Musik aus der gleichen Ära ist. Vor allem die ganze Crack- und Keygen-Musik über all die Jahre auf verschiedenen Computern und natürlich die Videospielmusik, vor allem auf dem Commodore 64, Amiga und PC MS-DOS. Das und Thrash/Death Metal sind meine Haupteinflüsse, ebenso wie die klassische Musik, die in alle Kompositionen einfließt.
Am Anfang war eure Musik nur ein Synthesizer. Heutzutage sind echte Gitarren auf dem Album zu hören. Hat sich deine Herangehensweise an das Songwriting im Laufe der Zeit verändert?
Ja, das neue Album ist das erste mit echten Gitarren-Overdubs, die im Einklang mit den Gitarrensynthesizern stehen. Das bedeutet, dass der essentielle MBR-Sound immer noch da ist, aber es gibt nur eine zusätzliche Schicht von echten Gitarren. Natürlich wurde der Sound der Gitarrensynthesizer angepasst, um besser mit den echten Gitarren zusammenzuarbeiten. Der Grund, warum ich das getan habe, ist, dass es einfach besser klingt und diese Menschlichkeit und Energie hinzufügt, die das Ganze irgendwie lebendiger macht. Das ist eine Sache, die natürlich während des Tourens gereift ist, denn im Grunde genommen ist das, was wir live machen, so ziemlich dasselbe, da wir unisono mit Synth-Gitarren spielen. Ich spiele alle Rhythmusgitarren mit einer F# gestimmten Baritone Les Paul, während Shreddy alle Soli mit seiner normal gestimmten Ibanez spielt.
Beim Songwriting hat sich nicht viel geändert, weil ich die Alben zuerst mit allen Synthies geschrieben habe, so wie ich es bei allen anderen gemacht habe, während ich auf Youtube gestreamt habe. Ich kann also nicht sagen, dass sich viel geändert hat, aber natürlich habe ich die Projekteinstellungen, Schlagzeug-Samples und andere Dinge stark aktualisiert. Ich bin sehr zufrieden mit der Produktion und ich glaube, es ist sogar die beste bisher. Ich mische auch alles selbst, während ich das Mastering auslagere.
Eure Fans heben besonders die Arpeggios in der Musik von MBR hervor. Ist alles von Grund auf neu geschaffen?
Ja, du kannst es sogar live auf Youtube sehen, während ich streame. Es gibt auch einige nicht gelistete Streams unter mbrserver.com/streams vom Vorgängeralbum, aber bald werde ich auch die Streams vom neuen Album "Hardwarez" freischalten. Für mich ist die Pianorolle so etwas wie das Griffbrett der Gitarre, da ich weiß, wo jede Note liegt und ich benutze einfach Tastatur und Maus, um alles zu schreiben. Das ist auch für das Komponieren beim Streaming von größter Bedeutung, weil es alles viel schneller macht.
Auf dem Album von 2018 gab es auch Gesang. War das ein einmaliges Experiment?
Ja, ich habe ein Experiment mit Oxxo XooX, dem ehemaligen Sänger von IGORRR, gemacht und es war ziemlich cool, aber es gab auch Songs ohne Gesang. Um ehrlich zu sein, obwohl mir das am besten gefallen hat, denke ich immer noch, dass MBR instrumental besser funktioniert. Es gibt bereits so viele Leads und "Stimmen" in der Musik, dass das Hinzufügen von Gesang irgendwie mit ihr kollidiert.
Normalerweise neigen die Leute dazu, Texte zu lesen, um einen umfassenderen Einblick in die Botschaft des Künstlers zu bekommen. Glaubst du, dass Instrumentalmusik den gleichen Grad an Identifikation bietet?
Um ehrlich zu sein, kenne ich nur sehr wenige Leute, die sich über die Texte mit Metalbands identifizieren. Ich meine, es gibt andere Musikgenres, in denen Texte eine deutlich wichtigere Rolle spielen, aber das ist nicht der Fall beim Metal, wo die Musik meiner Meinung nach eine größere Rolle spielt. Texte können eine Rolle spielen, um ein Konzept zu vervollständigen, aber meistens wird es durch Visuals, Artworks und so weiter transportiert. Nehmen wir zum Beispiel extreme Metal-Genres, bei denen die Texte eher eine Rolle spielen, um die Botschaft zu vervollständigen, als dass sie selbst besonders poetisch sind. Ein Beispiel: Gestern war ich bei der Show von MOLCHAT DOMA, und ich schätze, dass 99,9% der Leute dort keine Ahnung haben, was sie in ihren Texten sagen, aber dennoch klingen sie erstaunlich und mitreißend, weil die ganze Stimmung und das Konzept dahinter stimmt. Ehrlich gesagt weiß ich auch nicht, worum es in den Texten geht, aber gleichzeitig sind ihre Visuals, Artworks und ihr Konzept als Ganzes wirklich stark.
Abgesehen davon gibt es in jedem MBR-Album auch eine ganze Menge Text, wenn man tiefer gräbt. Jedes Album hat eine Krypto-Herausforderung und diese beginnen fast immer mit einem versteckten Text in ASCII oder Binär, der im Wesentlichen ein Text in Reimen ist. Auch die Song- und Albumtitel selbst erzählen eine Geschichte und sind Teil der Erzählung. Der größte Teil der Botschaft besteht darin, alte Hard- und Software zu verbreiten, um die neue Generation für die Geschichte der Computer und Videospiele zu sensibilisieren und sie mit der Demoszene, der Crack-Szene, der ASCII- und Pixel-Kunst und der BBS-Underground-Szene bekannt zu machen. Ich habe auch selbst eine BBS und einen IRC-Server. Allerdings war die instrumentale Seele des Projekts der Schlüssel zu seinem positiven Feedback. Viele unserer Fans sind Programmierer, Designer, Kreative oder Leute, die in Büros arbeiten, und mir wird immer wieder gesagt, dass die Musik ihre Aktivitäten irgendwie anregt und die Tatsache, dass es keinen Gesang gibt, hilft, sich besser zu konzentrieren.
Was hat sich durch das Spielen mit einer kompletten Band für MBR geändert?
Zunächst einmal hat es die Entscheidung beeinflusst, echte Instrumente auf das neue Album zu packen, und ganz allgemein hilft uns die Live-Aktivität dabei, unsere Fangemeinde zu vergrößern. Unsere aktuelle Tour ist fast ausverkauft und es scheint ein enorm positives Feedback zu geben. Das war irgendwie zu erwarten, aber um ehrlich zu sein, habe ich nicht damit gerechnet, dass es so groß werden würde. Das gemeinsame Touren und der Schritt nach oben als Band hat auf verschiedenen Ebenen viel dazu beigetragen. Das Projekt in der realen Welt zu präsentieren, hilft dabei, das Wort zu verbreiten und bietet eine völlig andere Version der Musik, weil wir das Gleiche wie auf "Hardwarez" auch bei anderen Songs machen, indem wir echte Instrumente über den Synthesizern spielen und das Schlagzeug ist komplett akustisch, also ist es im Grunde eine völlig andere Erfahrung im Vergleich zum Album. Ich denke, das ist eine großartige Sache, die unsere Live-Show zu etwas Besonderem macht, ganz zu schweigen von all den visuellen Teilen, die damit verbunden sind, den zusätzlichen Synthesizern mit Commodore 64 und Amiga 500 Sounds usw.
Woraus besteht eure Fangemeinde? Sind es hauptsächlich technikaffine Männer um die 40, die seit den späten 80er Jahren Computer benutzen?
Es gibt natürlich auch ein ähnliches Publikum in den 30ern, das genauso von Computern beeinflusst wurde, und es gibt viele junge Leute und auch Frauen, besonders bei Liveshows. Ich bin wirklich überrascht, wie viele verschiedene Leute zu unseren Liveshows kommen und der Musik zuhören und wie oft es zum Beispiel wirklich junge Leute gibt, die sich für alte Computersachen und Retrogaming interessieren und das ist wirklich cool zu sehen.
Der Sound und das ganze Feeling von MBR ist natürlich retro. Interessierst du dich in gleichem Maße für neumodische Technologie? Wäre der Einsatz von GenAI jemals eine Option für dein kreatives Schaffen?
Ich habe mich schon immer für jede Art von Technologie interessiert, und wir bringen tatsächlich eine Menge moderner Technologie auf die Bühne. Bei MBR geht es nicht nur um alte Computer, sondern um Technologie im Allgemeinen. Wir haben SO VIELE Gadgets und Geräte, das kannst du dir gar nicht vorstellen. Wir sind alle große Nerds, nicht nur in der Band, sondern auch in unserer Crew. Außerdem produziere ich die ganze Musik mit der neuesten Version von Cubase, der neuesten Version von Superior Drummer 3 und ich habe eine riesige Menge an verschiedenen modernen Softwares und spiele Videospiele sowohl aus der Vergangenheit als auch aus der jüngsten Zeit. Ich warte gerade darauf, von einer Tournee zurückzukehren, um Frostpunk 2 zu spielen, das gerade erschienen ist. Andererseits mag ich auch retro-moderne Sachen wie Spiele wie Vampire Survivors, für die ich gerade zehn Tracks für ihren neuen Castlevania-DLC in Zusammenarbeit mit Konami gemacht habe. Es handelt sich um zehn Coversongs von Castlevania-Hymnen, die ich mit meinem Nebenprojekt KEYGEN CHURCH aufgenommen habe. Es wurde gerade an Halloween veröffentlicht.
Apropos KI: Ich verwende sie derzeit hauptsächlich als bessere Suchmaschine, weil sie ziemlich gut funktioniert. Was die Musik angeht, wäre es interessant, neue VSTs oder andere Plugins zu sehen, die von KI angetrieben werden und die das Leben von Komponisten viel einfacher machen könnten. Mein Ziel war es schon immer, die potenzielle Geschwindigkeit bei der Erstellung von Musik zu erhöhen. Das ist auch der Grund, warum ich dazu übergegangen bin, Musik ausschließlich über MIDI zu programmieren. Manchmal ist es aber trotzdem sehr langweilig und zeitaufwändig, damit zu arbeiten. In KEYGEN CHURCH [MBR-Nebenprojekt - NM] habe ich zum Beispiel auch echte Chöre, aber die sind sehr komplex zu programmieren. Man muss alle richtigen Silben herausfinden, und die Software ist ziemlich fehlerhaft. Ich stelle mir eine Zukunft vor, in der ich einfach eine Midi-Melodie eingeben und der KI sagen kann, dass ich sie mit einem echten Chor unterlegen möchte, und sie würde sie sofort produzieren. Das wäre schon ziemlich cool. Natürlich gibt es auch negative Aspekte, wie z.B. Leute, die tonnenweise durchschnittliche Spam-Musik produzieren. KI-Musik und -Kunst werden der neue Spam sein. Wir werden von so viel schlechtem, durchschnittlichem Material überschwemmt werden, dass es wahnsinnig wird. Andererseits wird die Musik, die von talentierten Menschen gemacht wird (eventuell auch teilweise durch KI ergänzt), immer hervorstechen. Ich bin also nicht wirklich besorgt. Es ist wirklich aufregend, aber wie bei allem werden wir auch eine Menge willkürlichen Bullshit bekommen.
Schließlich können wir mit Hilfe von Maschinen bessere Menschen werden, aber sie brauchen uns immer noch, um zu glänzen. Das ist irgendwie auch das Konzept des neuen Albums und hat damit zu tun, dass echte Instrumente es besser klingen lassen.
Photo-Credit: Stephanie Cabral
RAM
https://www.youtube.com/watch?v=OJQ2UT-7h_o
- Redakteur:
- Nils Macher