OVERKILL und "The Atlantic Years" - Wir blicken zurück

24.10.2021 | 21:41

Kurz vor Veröffentlichung des hoffentlich bald kommenden "The Wings Of War"-Nachfolgers hauen uns Bobby und Co. mit voller Breitseite einen nicht ganz unerheblichen Part ihrer Historie um die Ohren. In dem folgenden Artikel geht es um "The Atlantic Years" von OVERKILL, ein Boxset, das die Alben "Taking Over", "Under The Influence", "The Years Of Decay", "Horrorscope", "I Hear Black" sowie "W.F.O" auf acht schwarzen 180g LPs beinhaltet, aber auch als CD-Sammlerbox bereithält.

Als eine der besten Live-Bands dieses Planeten habe ich OVERKILL erst recht spät, nämlich zur "Ironbound"-Veröffentlichung kennen und lieben gelernt. Doch danach gab es für mich kein Halten mehr, kamen doch direkt im Anschluss "Feel The Fire", "The Killing Kind" und das superbe Zweitwerk "Taking Over" dazu und sorgten für viele schmerzende Nackenwirbel. Doch das habe ich keine Sekunde bereut, hatte OVERKILL mit Bobbys unnachahmlichem Gesang, D.D.'s tollem Bassspiel und diesen messerscharfen Riffs doch das, was ich bei vielen anderen Bands vermisst habe.

Und so bietet sich mit dem vorliegenden Boxset eine wunderbare Gelegenheit, nicht nur die Alben von 1986 bis 1994 einmal Revue passieren zu lassen, sondern auch genauer auf die Songs, die Wucht, den Sound und die Umstände der Alben einzugehen.

Der Startschuss macht mit "Taking Over" auch gleich meine liebste OVERKILL-Scheibe, ist diese doch bespickt mit unsterblichen Klassikern und genießt gemeinsam mit dem famosen "Feel The Fire" bei Fans nach wie vor einen besonderen Stand. 1987 standen Blitz und Co. noch bei Megaforce Records unter Vertrag, hatten eine sehr verheißungsvolle Tour mit MEGADETH, ANTHRAX und AGENT STEEL absolviert und sollten am 1. September ein wirklich bahnbrechendes Album an den Thrasher von einst bringen.

Schon das beginnende 'Deny The Cross' hätte als Machtdemonstration das Album nicht besser einleiten können. Nicht minder spielfreudig ist 'Wrecking Crew' - eine Abrissbirne vom Feinsten, die gemeinsam mit dem vor Kraft nur so strotzenden 'Powersurge' und der ultimativen Live-Hymne 'In Union We Stand' nach wie vor bei vielen Shows die Quintessenz der OVERKILL-Power darstellt. Das Album ist von Anfang bis zum zweiten 'Overkill'-Ende eine Blaupause des Power Thrashs, das mich beim ersten Mal, als ich die Scheibe hörte, komplett wegblies. An Kraft hat "Taking Over" aber nach wie vor nichts verloren, reiften auch das bissige 'Fear His Name', der Demoklassiker 'Fatal If Swallow' und das knackige 'Electro-Violence' mit all den Jahren wie guter Wein. Die US-Ostküste bebte also nicht nur durch ANTHRAX und NUCLEAR ASSAULT, es sollte sich der Status der Band auch in den kommenden Jahren noch verfestigen.

Nach der "Fuck You"-Live-EP und einer nicht minder erfolgreichen Tour mit HELLOWEEN im Gepäck machten sich Blitz, D.D., Bobby Gustafson und Sid Falck, der Rat Skates an der Schießbude ersetzte, an die Arbeiten zu Album Nummer drei: "Under The Influence" kam am 5. Juli auf die Welt und verpasste OVERKILL eine neue Facette, denn anstatt Songs, die gleich von Anfang an die Schädel ihrer Fanschar spalteten, sorgten auf dieser Scheibe auch längere Songs für die langfristige Freude. Waren die ersten beiden Alben noch etwas deutlicher vom Punk beeinflusst, setzten die New Yorker auf dieser Scheibe fast alles auf die Thrash-Metal-Karte. Sie zerschreddern mit 'Shred' alles, was sich ihnen in den Weg stellt, zeigen sich bei 'Never Say Never' und 'End Of The Line' von ihrer melodischen Seite, grooven sich bei 'Mad Gone World' und 'Head First' in einen Rausch und verpassen ihrer 'Overkill'-Saga einen mehr als gelungenen, dritten Teil. Die Highlights dieses über lange Sicht gesehen sehr gehaltvollen Albums sind aber selbstverständlich die Live-Abgehnummer 'Hello From The Gutter' und das knackige 'Drunken Wisdom', die jedoch, wie viele andere "Under The Influence"-Songs, selten die Bühnenaufmerksamkeit bekommen, die sie verdienen. Geile Soli, eine gewisse Nachhaltigkeit und die einen oder anderen Ohrwurmrefrains machen auch OVERKILL-Scheibe Nummer drei zu einem absoluten Highlight. Und viel Zeit wollte sich das Quartett danach auch nicht lassen…

…denn nur 16 Monate später stand mit "The Years Of Decay" die nächste OVERKILL-Vollbedienung in den Startlöchern. Es sollte das letzte Album mit Gustafsons Bobby als alleiniger Gitarrist bei OVERKILL sein, der auf diesem, für Bandverhältnisse sehr düsteren und melodischen, Album noch einmal ein paar mehr als schmucke Riffs auf Parkett zauberte. Gleich zu Beginn wird der Spannungsbogen mit 'Time To Kill' gespannt, ehe der absolute Albumhöhepunkt 'Elimination' – bis heute ein Live-Garant – gemeinsam mit dem wieder punkigeren 'I Hate' und den reinrassigen Thrashern 'Nothing To Die For' und 'Birth Of Tension' alles in Grund und Boden mosht. So macht New Yorker Thrash Metal Spaß, so präsentieren sich die OVERKILL-Jungs in ihrer Paradedisziplin. Aus ihrer Liebe zu BLACK SABBATH haben sie bekanntlich auch nie einen Hehl gemacht, sodass die Doom-Nummer 'Playing With Spiders/Skullcrushers' noch ein paar Farbtupfer mehr auf die Leinwand bringt und der melodische Aspekt im superben Titelstück seine Krönung findet. Bleiben am Ende mit 'Who Tends The Fire' die Groove-Stampfhymne sowie dem abschließenden 'Evil Never Dies' noch einmal ein waschechtes Thrash-Brett, das "The Years Of Decay" gemeinsam mit besagtem 'Time To Kill' einen bockstarken Rahmen verleiht. Zugegeben, die Platte flog viele Jahre etwas unter meinem Radar, doch eignet sich dieses Boxset doch hervorragend dazu, sich die eine oder andere Perle von einst noch einmal anzuhören, nicht nur in Erinnerungen zu schwelgen, sondern auch sträflich vernachlässigte Songs noch einmal mit Wucht, Präzision und Spielfreude durch die Boxen zu jagen.

Wie schon erwähnt, sollte das 1989-Album das letzte mit Bobby Gustafson sein, verließ er nach der Tour mit TESTAMENT die Band und OVERKILL erweiterte sich um einen zusätzlichen Klampfer. So gab es im Line-up der New Yorker mit Merrit Gant und Rob Cannavino gleich zwei neue Gesichter, die mit den alten OVERKILL-Hasen die "Horrorscope"-Scheibe eintüteten. Auch hier – Hand aufs Herz – habe ich das fünfte OVERKILL-Abenteuer jahrelang nicht angerührt. Ein grober Fehler, wie ich jetzt weiß, gab es auf dieser Scheibe doch wieder für Freunde kürzerer und aggressiverer Songs leckere Appetithäppchen. Ohja, retrospektiv betrachtet würde ich sogar sagen, dass dieses Boxset dafür sorgte, dass sich "Horrorscope" rasch in die Top-5 meiner liebsten OVERKILL-Scheiben katapultierte. Warum? Zum einen sorgt die zeitlose Terry Date-Produktion für ein absolutes Sahneerlebnis in Sachen Sound, zum anderen reiht sich hier Hit an Hit, Ohrwurm an Ohrwurm, Schädelspalter an Abrissbirne, Riffgewitter an Schlagzeugtrommelfeuer – vom harten 'Coma'-Beginn bis zum abschließenden hochatmosphärischen Albumhighlight 'Soulitude' fließt das Album wie aus einem Guss. Zum zehnjährigen Geburtstag der Band hat sie sich selbst mit diesem Album übertroffen. 'Infectious', das zum Niederknien geniale 'Blood Money', das EDGAR WINTER-Instrumentalcover von 'Frankenstein' oder das kaltschnäuzige 'Nice Day…For A Funeral' gehören mit zum Besten, was der Thrash Metal 1991 veröffentlichte. Kritiker werden sagen, dass man Anfang der 1990er Jahre eh nicht viel von seinem einstigen Lieblingsgenre erwarten konnte, doch blickt man einmal auf Alben wie "Horrorscope" und Songs wie das knallharte 'Thanx For Nothing', das unheilvolle Titelstück-Ungetüm oder 'New Machine' mit all seiner Kraft, fügen sich hier die einzelnen Mosaiksteinchen zu einem kleinen Meisterwerk zusammen. Voller Atmosphäre, Energie und Biss, stellt "Horrorscope" das Highlight der OVERKILL'schen Thrash-Metal-Jahre dar. Ideenreich und brachial, so muss die Erde beben.

Natürlich war es anschließend schwierig, ein Album wie "Horrorscope" noch einmal mit der bekannten Erfolgsformel übertreffen zu wollen. Also räumte OVERKILL, ähnlich wie SLAYER nach "Reign In Blood", das Feld von hinten auf und zeigt sich auf "I Hear Black" von 1993 von einer etwas anderen Seite. Wieder musste OVERKILL einen kräftigen Dreh am Besetzungskarussell hinnehmen, ersetzte der einstige M.O.D.-Schlagzeuger Tim Mallare Sid Falck nach nur drei Jahren. Und anstatt wie gewohnt im wohlig warmen Teich des Thrash Metals zu plantschen, setzte OVERKILL leider zu viel auf die Doom-Metal-Karte. Ein ums andere Mal blitzt auf OVERKILL-Album Nummer sechs noch die Bissigkeit älterer Tage auf und 'Dreaming In Columbian' setzt gleich zu Beginn die Messlatte schon angenehm hoch. Doch im weiteren Verlauf dieser am 25. April erschienenen Scheibe hat sich zu viel Mittelklassigkeit zwischen Abräumern wie dem Titelstück, 'Feed My Head' und nach sehr viel Leerlauf 'Ignorance & Innocence' und 'Undying' geschmuggelt. In der Nachbetrachtung ist "I Hear Black" ein Album mit Licht und Schatten, das im direkten Vergleich zu den bärenstarken Vorgängern zwar deutlich den Kürzeren zieht, aber nichtsdestotrotz sowohl den Ideenreichtum OVERKILLs unterstreicht als auch indirekt dafür sorgte, dass es nach 1993 und einer Tour mit SAVATAGE im Vorprogramm wieder ordentlich abgehen konnte. Denn mit der letzten Scheibe dieses Boxsets gibt es noch einmal ein richtiges Schmankerl zu bestaunen.

Ladies & Gentlemen, "Wide Fucking Open" – oder auch "W.F.O." war wieder ein mehr als verheißungsvoller Schritt in die richtige Richtung und ließ die Ohren am 15. Juli 1994 wieder ordentlich klingeln. Diesmal blieb das Quintett Infernale seit dem vergangenen Album unverändert und dennoch ging ein ordentlicher Ruck durch OVERKILL: Es wird wieder gethrasht! Nicht selten kommen Déjà-vus auf, nicht selten wird man Zeuge gewisser "Feel The Fire"-, "Taking Over"- und auch "Horrorscope"-Querverweise, nicht selten riffen, sägen und hämmern die OVERKILL-Jungs, was das Zeug hält. Gleich zu Beginn zeigt 'Where It Hurts' unmissverständlich, in welche Richtung es geht. Einmal mehr ist die Produktion eine Wucht, einmal mehr sind die halsbrechenden Riffs, der pumpende Bass und nicht zuletzt auch Bobbys unnachahmliches Geshoute jene Grundpfeiler, auf die das "W.F.O."-Monument gebaut wird, einmal mehr werden wir Zeuge des OVERKILL'schen Sprungs in den Jungbrunnen. Und den haben wir schon öfter in ihrer Karriere sehen können. Doch zurück zum 94er Paukenschlag, der mit 'Fast Junkie', 'What's Your Problem', dem Hardcore-Kracher 'Supersonic Hate', dem kraftmetallischen 'The Wait - New High In Lows'-Ungetüm und dem brutalen 'They Eat Their Young'-Kinnhaken absolute Sahneschnittchen im OVERKILL-Gewand parat hält. Ja, selbst das etwas luftigere 'Bastard Nation' ist eine Hymne vom Allerfeinsten, die jenen früheren Datums in nichts nachsteht. So kann man es drehen und wenden, wie man will, aber mit "W.F.O." hat OVERKILL wieder ein Thrash-Statement vor dem Herrn in Zement gegossen, zugegeben jedoch in einer Zeit, in der unser geliebter Haudrauf-Stahl gewisse Problemchen hatte. Doch an OVERKILL lag es keinesfalls, haben die Jungs Mitte der 1990er Jahre wie schon zuvor astreine Kost an den Metaller von Welt gebracht.

Und so sind wir schon am Ende dieser kleinen Zeitreise durch die Atlantic-Years von OVERKILL angekommen. Zusammengefasst sind es gerade diese Nostalgie- und Aha-Effekte, die den Reiz solcher Boxsets ausmachen, vervollständigen sie nicht nur die vorhandene Sammlung, sondern sorgen für wunderbare Abende, an denen man sich an die alten Zeiten erinnert. Man denke nur an die Kettenreaktionen, die "The Atlantic Years 1986 – 1994" auslösen könnte, wenn von New York aus der Bogen zur Bay Area gespannt wird, dieser auch nach Deutschland kommt und man so in den Genuss längst vergessener 1990er-Jahre-Perlen kommt. Und hiervon gab es sehr viele, auch von unseren Freunden von OVERKILL.

Also macht euch selbst ein Bild davon, "The Atlantic Years 1986 – 1994" ist ab dem 3. Dezember erhältlich.

Redakteur:
Marcel Rapp
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