PRYMARY: Interview mit Chris Quirarte

19.12.2006 | 23:09

PRYMARY aus Kalifornien haben mit ihrem aktuellen Album "The Tragedy Of Innocence" eine herausragende Progressive-Scheibe herausgebracht. Schlagzeuger Chris Quirarte, der auch die meisten Texte des Albums geschrieben hat, beantwortete mir ausführlich einige Fragen über die Band und ihre Musik.

Stefan Kayser:
Respekt. "The Tragedy Of Innocence" ist nach meiner Meinung eines der besten Prog-Metal-Alben des Jahres. Ihr habt eine großartige Arbeit abgeliefert, sowohl als Komponisten wie auch als Musiker. Und das ist erst euer zweites Album. Wo habt ihr die ganze Zeit gesteckt?

Chris Quirarte:
Zuerst Danke für deine freundlichen Worte. Wir sind sehr stolz auf dieses Album und spüren, dass wir einen großen Sprung vorwärts gemacht haben. Uns gibt es seit 2000, als sich die Band erstmals zusammenfand. Davor waren wir alle in verschiedenen Bands. Eigentlich begann unsere Gruppe als DREAM THEATER-Coverband, bevor wir uns entschieden, etwas Eigenes zu werden. Wir veröffentlichten unser Debütalbum unabhängig, und dann machten wir eine dreijährige Phase durch, die ich als ständig steigenden Frust bezeichnen würde. Wir waren jung und lernten noch so einiges über das Musikgeschäft. Dabei schrieben wir an unserem aktuellen Album. Um ehrlich zu sein, war unser neues Album "The Tragedy Of Innocence" bereits innerhalb eines Jahres fertig, aber wir hatten Schwierigkeiten und nahmen schlechten Rat von Leuten aus dem Musikbusiness an, die wir respektierten. Das alles behinderte unsere Fortschritte und drosselte jeden Antrieb, den wir aus unserem ersten Album zogen. Es war echt eine schwere Prüfung, dieses fertige Album in Händen zu halten und es aus verschiedenen Gründen nicht veröffentlichen zu können. Außerdem hatten wir noch einige Auseinandersetzungen innerhalb der Band, die geregelt werden mussten, weshalb wir schließlich James Sherwood [der aber noch auf dem Album zu hören ist - d. Verf.] aufforderten, die Gruppe zu verlassen, und einen anderen Bassisten fanden.

Stefan Kayser:
Da ihr noch eine neue Band seid, von der man fast nur die Stilrichtung "Progressive" kennt, erzähle unseren Lesern etwas über eure musikalischen Ideen.

Chris Quirarte:
Ich würde sagen, dass wir eine Progressive-Rock-Band sind, aber was meiner Meinung nach so einzigartig an diesem Stil ist, ist, dass er auch viele andere Stile in sich tragen kann. Sean (Entrikin, g.) und Mike (DiSarro, v.) zum Beispiel bringen Heavy-Metal-Einflüsse mit, während ich mehr der Prog-Rock-Typ alter Schule bin, der ausgedehnte Kompositionen und ungewöhnliche Songstrukturen mag. Smiley (Sean, k.) bringt modernere Einflüsse und auch klassische Rockspielarten mit. Außerdem haben Smiley und Sean Musik studiert und tragen klassische und Jazzeinflüsse ein. Da wir diese Stilrichtungen nicht direkt verwenden, sind sie doch in unserer Musik andeutet und zu entdecken. Insgesamt habe ich kein Problem damit, als Progressive Band bezeichnet zu werden.

Stefan Kayser:
Was bedeutet euer Bandname PRYMARY mit dieser besonderen Schreibweise mit den zwei y?

Chris Quirarte:
Ich wünschte, ich könnte sagen, es gäbe eine Bedeutung und eine ungewöhnliche Geschichte dahinter, aber tatsächlich gibt es da keine Bedeutung. Ich startete die Band als PRIMARY 1992 mit meinem Bruder, als ich noch zur Schule ging. Jahre später schlug irgend jemand vor, dass wir das i durch ein y ersetzten, genau so wie QUEENSRYCHE ein y haben. Ich weiß nicht warum, aber diese Änderung blieb. Ach ja, jetzt ist es zu spät, daran noch was zu ändern.

Stefan Kayser:
"The Tragedy Of Innocence" ist ein Konzeptalbum über das Thema Kindesmissbrauch. Warum habt ihr dem Album diesen Namen gegeben?

Chris Quirarte:
Der ursprüngliche Titel sollte "What Little Girls Are For" lauten, aber uns wurde gesagt, dass dieser Titel zu heikel sein dürfte. Die Plattenfirmen würden uns mit so einem Namen nicht mal mit der Kneifzange anfassen. Eigentlich aber scheinen Shawn Gordon und Prog Rock Records sehr offen zu sein für alles, was wir taten. Deshalb werden wir auch gerne weiter mit ihnen arbeiten. Wir hätten vermutlich auch den Albumtitel behalten können, aber... na gut. Nach langen Überlegungen entschieden wir uns, den Namen zu ändern. Mike war eigentlich derjenige, der mit der Idee ankam. Wenn ich darüber nachdenke, empfinde ich den neuen Namen als gute Zusammenfassung der Geschichte auf dem Album. Die Geschichte handelt vom Verlust der Unschuld in einem so jungen Alter und wie dieser Verlust wirklich den Rest des ganzen Lebens durcheinander bringen kann. Ich glaube, dass der Moment immer eine Tragödie ist, wenn du aufwachst und erkennst, dass du deine Unschuld verloren hast, und das ist ein natürlicher Teil des Lebens. Wir werden älter und sehen das Böse in der Welt und verlieren diese Unschuld. Aber in der Regel geschieht das, wenn wir alt genug sind, mit dieser Veränderung umgehen zu können. Aber die Unschuld in so einem frühen Alter und dann durch Missbrauch zu verlieren, ist eines der schlimmsten Dinge, die eine Person einem anderen Menschen antun kann. Das ist "Die Tragödie der Unschuld".

Stefan Kayser:
Die Geschichte endet mir einem Selbstmordversuch der Frau, nach dem sie und ihr Mann erkennen, dass sie immer noch einen Weg finden müssen, die Dämonen der Vergangenheit endgültig abzuschütteln. Warum lasst ihr das Album so aufhören?

Chris Quirarte:
Ich hatte echt einige Zeit mit mir zu kämpfen, wie ich die Geschichte enden lassen sollte. Ich sollte wohl erwähnen, dass die Geschichte teilweise autobiographisch ist und auf dem Leben meiner Frau Valerie beruht. Sie musste wirklich viele der schlimmen Dinge auf dem Album durchmachen, und das Lied 'What Little Girls Are For' ist ihr eigenes Zeugnis davon. Das Leben meiner Frau wurde glücklicherweise wieder besser, und ihr gelang es, mit ihren Dämonen fertig zu werden. Ich hätte das auf dem Album genau so nachvollziehen können, aber ich wollte nicht erst diese ganze Tragödie haben und sie dann nett mit einem Happy End wie in einem Disney-Film beschließen. Gleichzeitig wollte ich sie auch nicht sterben lassen und so völlig negativ aufhören. Also endete ich damit, dass die Hauptfigur an einem Scheideweg in ihrem Leben ankommt und sich selbst die Wahl lässt. Wird sie ihre Erfahrungen nutzen, um ihr Leben zu ändern und sich selbst stark zu machen? Oder wird sie auf demselben destruktiven Weg weiter abwärts gehen? Ich überlasse dem Hörer die Entscheidung.
Der Ehemann ist nur ein weiterer Dämon, den sie loswerden muss. Sein physischer Missbrauch und seine Selbstsucht sind Teile des gesamten Problems, dem sie endlich ins Gesicht sehen muss. Wird sie endlich die Stärke finden, gegen ihre Dämonen aufzustehen und etwas Wertvolles zu empfinden? Ich würde mir das gerne so vorstellen. Für mich erschien das gewählte Ende realistischer, eben als die Tatsache, dass das Leben eine nie endende Serie von Entscheidungen mit der Hoffnung ist, die richtigen zu treffen. Ich wollte den Leuten auch Hoffnung geben, ohne ihnen vorzugaukeln, dass es eine schnelle fertige Lösung gäbe.

Stefan Kayser:
Im Beiheft der CD wird der Verein R.A.I.N.N. erwähnt. Was kannst du über diese Organisation berichten?

Chris Quirarte:
R.A.I.N.N. ist das Nationale Netzwerk gegen Vergewaltigung, Missbrauch und Inzest. Es ist die größte Organisation gegen sexuelle Gewalt in den USA. Sie haben eine Menge Programme, Vergewaltiger der Justiz zuzuführen und Opfer zu beraten, einschließlich einer 24-Stunden-Hotline. Ich hatte ein Jahr, bevor das Album veröffentlicht wurde, eine E-Mail von einer jungen Frau bekommen. Ich wünschte, sie würde wieder Kontakt mit mir aufnehmen. Sie fragte, wann das neue Album von PRYMARY veröffentlicht würde. Ich vermute, sie hatte von dem Thema des Konzeptalbums gehört und wollte es hören. Sie sagte, damit würde sie sich nicht so allein in dem Kampf fühlen, damit fertig zu werden. Ich erkannte, dass dieses Album andere Menschen auch so etwas empfinden lassen könnte, und ich wollte, dass diese Menschen eine Anlaufstelle haben, wo sie Hilfe bekommen können. Ich versuche nun absolut nicht, mich als Kreuzritter aufzuspielen, aber andererseits: Wenn das Album etwas Gutes tun und trotzdem noch die Leute unterhalten kann, wer bin ich, das aufzuhalten?
Es ist schon komisch, aber neulich ließen wir jemanden das Album rezensieren. In der Kritik hieß es dann sinngemäß: "Warum schreiben PRYMARY über Missbrauch? Es passiert doch weiterhin." Als ob ich mir eingebildet hätte, mit dem Schreiben dieses Albums würde aller Missbrauch in der Welt aufhören. Ich bin nicht so selbstgefällig zu glauben, ich hätte die Antwort. Ich hoffe jedoch, dass mit dem Darstellen dieses Problems wir alle offener darüber reden können und als Gemeinschaft etwas Verständnis erhalten. Letztendlich soll das Album aber unterhalten. Ich bin Musiker und kein Sozialarbeiter.

[In Deutschland gibt es ähnliche Vereine, die Betroffenen helfen, wie z.B. http://www.zartbitter.de und http://www.dunkelziffer.de - d. Verf.]

Stefan Kayser:
Die Musik ist von allen Bandmitgliedern zusammen geschrieben worden. Vermutlich ist sie auch deshalb so abwechslungsreich. Wie wichtig ist die gemeinsame kreative Arbeit für euch?

Chris Quirarte:
Kreativ zusammenzuarbeiten ist in dieser Band sehr wichtig. Das ist der Grund, warum wir dazu tendieren, lange Stücke zu schreiben, so kann jeder seine Ideen unterbringen. Selten kommt einer von uns mit einem fertigen Lied an. Ich schreibe bewusst in der Absicht, dass die anderen Jungs noch eigene Teile dazu tun werden. Das heißt, ich komme mit dem Rohbau eines Stücks an, der noch nicht fertig gemauert ist. Die anderen machen es genau so, und damit scheint jeder glücklich und musikalisch zufrieden zu sein. Manchmal kann das schon sehr zu Kompromissen zwingen, aber wir kommen damit so gut zurecht, dass wir nie ein Problem dabei haben.

Stefan Kayser:
Ihr habt sogar eure CD selbst produziert. Wie kam es dazu?

Chris Quirarte:
Ich habe im Laufe der Zeit die Ansicht gewonnen, dass diese Band nicht produzierbar ist. Wie gesagt, stimmt beim Schreiben die Chemie zwischen uns allen. Außerdem spielen wir diese Art Musik, weil wir die Freiheit bei dem, was wir tun, genießen. Ich sehe für uns keinen Vorteil darin, jemanden von außen mitreden zu lassen. Wir tun, was wir tun wollen, und wir tun es für uns selber. Wir sind nicht daran interessiert, massenhaften Erfolg durch andere Mittel als unsere eigenen zu erringen. Wir sind selbstgenügsam und machen Musik aus egoistischen Gründen, hauptsächlich damit wir selbst zufrieden sind. Wir hoffen, dass andere Leute unsere Musik mögen, aber wir arbeiten in dem Glauben, dass Musik, die für uns aufregend und inspirierend ist, auch für unsere Hörer aufregend und inspirierend sein wird. Uns selbst treu zu sein, ist der einzige Weg, in diesem Geschäft und dieser Musikrichtung zu bestehen. In dem Moment, in dem du anfängst, Trends nachzujagen, oder versuchst vorwegzunehmen, was das Publikum hören möchte, liegst du tot im Wasser.

Stefan Kayser:
2003 habt ihr bereits im Eigenverlag euer selbstbetiteltes Debüt herausgebracht? Was kannst du über dieses Album sagen? Inwieweit unterscheidet es sich von dem aktuellen?

Chris Quirarte:
Wir sind immer noch sehr stolz auf unser erstes Album. Es wurde in den Jahren, bevor Mike und Smiley in die Band einstiegen, geschrieben. Sean, James und ich jammten immer in einer früheren Besetzung von PRYMARY zusammen. Das meiste von dem Album wurde in dieser Zeit geschrieben. Zu der Zeit, als Mike und Smiley dazukamen, war das Album fast fertig geschrieben. Es war sehr aufregend, die Platte zu machen, da wir fühlten, dass wir uns musikalisch in die richtige Richtung bewegten. Die Kompositionen waren sehr lang und konnten, im Nachhinein betrachtet, noch einige Verfeinerungen gebrauchen. Bei den Texten war ich ziemlich philosophisch und daran interessiert, mehrdeutige Formulierungen hinzukriegen. Aber wir waren jung und gewöhnten uns noch daran, miteinander zu arbeiten. Mike und Smiley lieferten noch einige Beiträge, und Sean entwickelte sich noch als Komponist, also entfiel ein Großteil des Schreibens auf James und mich. Verglichen mit unserem neuen Album leidet es definitiv an mangelnder Produktionsqualität. Wir wollten einen kräftigeren Gitarren- und Drumsound, aber wir kriegten es aufgrund unserer zeitlichen und finanziellen Beschränkungen nicht hin. Wir reden immer davon, das Album zu remixen, weil ich glaube, das würde einige dieser Probleme lösen.
Aber insgesamt bin ich immer noch stolz auf das, was wir geleistet haben. Es macht einen offeneren und experimentierfreudigeren Eindruck als unser neues Album, weil wir an keinem durchgängigen Thema, keiner Geschichte festhalten mussten wie bei "The Tragedy Of Innocence". Manchmal kann es ziemlich schwer sein, unter den Beschränkungen eines Konzeptalbums zu schreiben. Oft schrieben wir Musik, nur um dann festzustellen, dass wir in der Geschichte keinen Platz für genau diese Passage hatten. Bei unserem ersten Album hatten wir keine Grenzen und warfen alles hinein, was wir hatten.

Stefan Kayser:
Ich habe gelesen, dass ihr schon eine Menge Liveerfahrung gesammelt habt, z.B. auf Prog-Rock-Festivals. Wie kamt ihr zu diesen Auftritten?

Chris Quirarte:
Ich bin dankbar, dass wir in der Band Leute haben, die mit anderen Leuten und Bands netzwerken. Es kommt einfach nur darauf an, danach zu fragen, spielen zu können, die richtigen Kontakte zu knüpfen und dranzubleiben. Bei ProgPower USA flogen wir zum Festival und verbrachten das ganze Wochenende damit, Demos zu verteilen und Leute in dem Interesse anzusprechen, Interesse an der Band zu wecken. Mike tat etwas Ähnliches, als er allein nach Amsterdam flog und die Band bekannt machte, indem er mit Leuten sprach. Im folgenden Jahr spielten wir auf dem Headway Festival. Es braucht harte Arbeit, Ausdauer und die Fähigkeit, mit den Fans zu sprechen. Aber wenn du es wirklich willst, dann musst du rausgehen und es zum Laufen bringen.

Stefan Kayser:
Wer sind eure musikalischen Vorbilder und hat euch beeinflusst?

Chris Quirarte:
Wie gesagt, fingen wir als DREAM THEATER-Coverband an, also nenne ich sie und RUSH als gemeinsames Band, das die ganze Gruppe zusammenhält. Wir lieben PAIN OF SALVATION, PORCUPINE TREE, ANDROMEDA, OPETH, FATES WARNING, QUEENSRYCHE, YES und KING CRIMSON, um nur einige zu nennen.

Stefan Kayser:
Werdet ihr in Deutschland, Österreich oder der Schweiz live zu sehen sein?

Chris Quirarte:
Wir würden liebend gerne in Deutschland, Österreich oder der Schweiz spielen, aber wir haben im Moment keine Pläne. Hauptsächlich, weil uns noch keiner gefragt hat, dort zu spielen. Alle ihr Promoter, bitte ruft uns an! Wir sind schon ganz gut im Radio gespielt worden, also freuen wir uns schon darauf. Ich glaube, irgendwann werden wir es rüber schaffen, weil das Publikum dort offener zu sein scheint als hier in den Staaten.

Stefan Kayser:
Danke für das Interview. Ich hoffe, dass wir noch viel von euch hören werden.

Chris Quirarte:
Vielen Dank.

Redakteur:
Stefan Kayser

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