RENDEZVOUS POINT: Gunn-Hilde Erstad über biografische Parallelen zu DREAM THEATER und das Oslo-Syndrom.
14.06.2024 | 11:56Wie man als Band eine Pandemie übersteht und wie hart der Alltag nach einer Tour sein kann, erzählt uns die technisch versierte Bassistin der norwegischen Melodic-Progger.
Meine Prog-Überraschung des Jahres heißt RENDEZVOUS POINT und läuft wenige Wochen vor Erscheinen des neuen LEPROUS-Albums (genau, in beiden Bands sitzt Drum-Krake Baard Kolstad auf dem Hocker) im meinem Player rauf und runter. Völlig unverkopft und toll produziert darf "Dream Chaser" einfach kein Geheimtipp für Trüffelnasen bleiben.
Seit ich das Album vor einigen Tagen bekommen habe, läuft es rauf und runter. Insbesondere die großartige Produktion klingt toll. Habt ihr mehr Zeit als sonst in den Aufnahmeprozess investiert?
Wir haben die Zeit genutzt, um die Sachen genau so aufzunehmen, wie wir es haben wollten. Wir sind mit unserem Tontechniker in Oslo ins Studio gegangen, meinen Bass habe ich schon selbst bei mir aufgenommen. Und zwar sowohl als "wet" (mit Effekten etc. - NM) und "dry" (der reine, unverfälschte Bass-Sound - NM). So konnte ich dem Tontechniker genau zeigen, wie es letztlich klingen sollte. Das Abmischen hat mit Adam Noble einer unserer Lieblingsmischer übernommen. Wir waren ehrlich gesagt sehr überrascht, dass er überhaupt mit uns zusammenarbeiten würde. Wir freuen uns wahnsinnig, dass ihm das Material so gut gefiel, dass er den Job angenommen hat.
Im Gegensatz zu eurem letzten Album sind die Texte auf "Dream Chaser" sehr persönlich ausgefallen. Wer schreibt bei euch die Texte?
Es ist hauptsächlich unser Sänger Geirmund, der sich um die Texte kümmert. Wir besprechen die Themen der Songs aber gemeinsam, damit jeder sich auch mit den Themen identifizieren kann bzw. einverstanden ist. Die meisten Songs sind also das Ergebnis unserer Gespräche darüber, wie wir uns als Musiker und Menschen im Moment fühlen, denken. Es gibt beispielsweise diese Figur des gequälten Künstlers, der Träume hat und dennoch einen Kampf mit sich selbst austragen muss, um sie zu erreichen. Das ist ein Gefühl, das uns alle verbindet. Es landen solche Themen auf dem Album, von denen wir alle denken, dass sie wichtig sind.Wie kann ich mir das Songwriting bei euch vorstellen? Probt ihr zusammen, tauscht ihr hauptsächlich Files aus?
Wir tauschen tatsächlich Files aus. Wir benutzen die Software Logic, um unsere Ideen zu skizzieren und den anderen in der Band zur Verfügung zu stellen. Dann treffen sich einige von uns und arbeiten mit diesen Songideen. So hatten beispielsweise Petter (Gitarrist - NM) und ich einige Arbeitswochenenden, an denen wir an den Songs gewerkelt haben. Natürlich machen wir auch viel über Zoom, da wir in verschiedenen Teilen Norwegens leben. Baard (Kolstad, Drummer - NM) und unser Keyboarder Nicolay leben in Oslo, Petter ganz oben im Nordwesten und ich ganz im Süden, in Kristiansand. Deswegen hat es auch so lange gedauert, dieses Album fertigzustellen.
Hat sich denn der Entstehungsprozess auch anders angefühlt als bei euren ersten zwei Alben?
Es war in gewisser Weise anders, weil es das erste Album war, welches wir so erarbeitet haben. Ich denke, dass jeder so ein bisschen mitreden kann, wie die Songs am Ende aussehen sollen. Jeder hatte die Dateien bekommen und wir haben mit verschiedenen Versionen gearbeitet, manchmal bis zu zehn Stück. So konnte sich jeder äußern und versuchen den Song nach seinen Wünschen zu bearbeiten und gewissermaßen zu verfeinern. Ich würde sagen, dass die Songs also ein bisschen von jedem aus der Band darstellen.
Welche Rolle spielen die Bands, in denen eure Band Mitglieder sonst so spielen? Viele aus der Band spielen ja auch in Black Metal Bands, zumindestend live.
Keine große. Wir haben uns damals alle an der Universität getroffen, als wir Musik studiert haben. Wir haben also alle entweder einen Bachelor- oder einen Master-Abschluss in Musik. Und an der Uni muss man sich quasi in jedem Genre etwas vertiefen. Nicolay ist zum Beispiel auch mit großen Popstars hier in Norwegen auf Tournee. Ich glaube, es haben nur Petter und ich diesen klassischen Prog-Background. Bevor ich angefangen habe, Bass zu spielen, habe ich Querflöte gespielt. Ich war so eine klassische Musikerin. Vielleicht mag ich deshalb auch Progressive Metal, weil es in gewisser Art und Weise wie klassische Musik ist. Man kann das gut im letzten Song hören, wo wie viel orchestrale Elemente verwenden.
Stichwort Universität: Ich habe bei meiner Recherche ein Video bei YouTube gefunden, wo du anlässlich deines Examenskonzerts mit einigen deiner heutigen Mitmusikern spielst. Dort spielt ihr DREAM THEATERs 'Metropolis'. Eine wirklich schöne Version. Eine schöne Geschichte mit DREAM THEATER-Bezug, deren Kern hat sich ja auch an der Uni kennengelernt. Nur habt ihr auch den Abschluss gemacht?
Ja, wobei ich mir nicht ganz sicher bin, ob Baard wirklich mit Abschluss von der Uni gegangen ist.Und so schließt sich der Kreis dann doch. Kommen wir wieder auf das Album zurück. Euer Ansatz ist sehr Song-orientiert und melodisch, im Grunde gar nicht so typisch für Prog. Ich höre da viel HAKEN, aber auch VOYAGER aus Australien raus. Legt ihr euch selbst Beschränkungen auf, wie technisch die Musik sein darf?
Wir denken nicht viel darüber nach, ob das, was wir spielen, schwierig ist oder nicht. Ich glaube, wir möchten einfach nur das spielen, was für uns gut klingt. Und wenn das etwas Schwierigeres ist, dann werden wir das so spielen. Aber wenn nicht, dann ist das auch kein Problem. Es ist also eher eine Frage des Geschmacks. Es gibt aber auch ein paar schwierige Dinge, wie zum Beispiel den Song 'Wildflower'. Wir arbeiten viel am Timing, da liegt bei unserem Material eher die Schwierigkeit. Wir experimentieren viel mit ungewöhnlichen Rhythmen, genauer gesagt mit Quintolen (eine Gruppierung von fünf Noten auf einem Schlag im Takt - NM), das ist unsere Art, Prog zu sein.
Über eure Hauptstadt Oslo gibt es auch einen Song, den ihr frei nach MUSE 'Oslo Syndrome' genannt habt. Worum geht es dort?
Wenn man auf Tour ist, führt man eigentlich ein ganz anderes Leben. Wenn man in so einer Stadt mit vielen Menschen ist, bekommt man einen sehr hohen Adrenalin- und Dopaminspiegel, alles ist irgendwie aufregend. Und dann kommt man nach Hause und somit ins normale Leben zurück. Es ist schon eine Art der Verführung, in der Großstadt zu sein, unter Menschen zu sein. Um dieses Gefühl geht es.
Dieses Motiv kommt mir bekannt vor. Letztes Jahr habe ich mit dem KATATONIA-Bassisten ein Interview gemacht, in dem wir über ähnliche Dinge gesprochen haben. Ist dieses Motiv der Entfremdung immer da, wenn man viel unterwegs ist?
Ja, es gibt diese Depression nach der Tour wirklich. Ich glaube, es ist auch der richtige Begriff. Wir haben viel darüber geredet, weil wirklich viele der tourenden Künstler, die ich kenne, genau das erlebt haben. Und wir müssen alle irgendwie damit umgehen. Wir haben nicht die perfekte Lösung, aber wir versuchen es. Die erste Woche zu Hause ist immer besonders schwierig, denke ich.
Ihr befasst euch gleich in mehreren Songs mit mentaler Gesundheit und mit Depression. Ist die Musik auch eine Art, sich damit zu beschäftigen?
Ich denke, es ist wirklich wichtig - und das denkt der Rest der Band auch - offen über solche Themen zu sprechen. Um diese Themen zu enttabuisieren. Auch wenn es nach Außen hin in Ordnung zu sein scheint, erleben wir Menschen ja tiefere innere Gefühle wie Depressionen oder Angstzustände.Euer zweites Album wurde kurz vor der Pandemie veröffentlicht. Viele Bands war die Pandemie tatsächlich auch ein Trennungsgrund. Wie war das für euch? Wenn ich das richtig gelesen habe, wart ihr damals am Anfang einer Tour?
Ich glaube, das war ein wirklich großer Rückschritt für uns. Wie du schon sagtest, wir waren auf Tour. Und es war eine ziemlich große Tour im Vorprogramm von ANATHEMA. Es war so eine Art Bruchstelle für uns, weil wir sofort aufhören mussten. Als wir zu Hause waren, hat es sehr lange gedauert bis sich die Dinge wieder normalisiert hatten. Da hatten wir den Schwung nicht mehr, es war auch schwierig, wieder auf Tour zu gehen. Deshalb hat es mit dem Album auch so lange gedauert. Natürlich wollten wir keine Konzerte spielen, ehe wir das neue Album fertig hatten.
Wenn ich mich richtig erinnere, wurde ANATHEMA genau nach dem Abbruch dieser Tour aufgelöst, oder?
Ja genau. Wir waren mit ihnen ein paar Tage, vielleicht sieben Tage, auf Tour. So gut haben wir uns dabei nicht kennengelernt. Wir waren auch nicht im selben Bus unterwegs. Genaueres kann ich dazu also gar nicht sagen.
Wie habt ihr es denn geschafft, das Bandgefüge aufrechtzuerhalten?
Im Grunde waren wir schon alle sehr lange befreundet. Wir kennen uns teilweise seit wir 14 oder 15 Jahre alt sind. Dann haben wir zusammen studiert. Es gibt also dieses starke Wir-Gefühl, das uns als Band ausmacht. Es gibt nicht diese eine Hauptperson in der Band, sondern wir haben alle den gleichen Anteil an ihr.
Apropos Hauptperson. Ich würde vermuten, nach eurem Drummer Baard bist du als weibliche Bassistin diejenige, die viel Aufmerksamkeit erfährt. Ist das im Jahr 2024 noch eine gute Sache, wenn du aufgrund deines Geschlechts Aufmerksamkeit erfährst? Wie ist deine Meinung hierzu?
Mir macht es überhaupt nichts aus, wenn die Leute sagen, dass ich eine explizit weibliche Bassistin bin. Was mich hingegen nervt, ist wenn sie anfangen, mein Aussehen zu kommentieren. In den Kritiken wird bei den Jungs immer gesagt: Guck mal der Junge mit der guten Technik, der spielt richtig gut Schlagzeug. Der Gitarrist spielt auch gut. Da wird also das Spiel der Jungs kommentiert. Wenn sie über mich schreiben, dann geht es auch schon mal um meine blonden Haare oder meine Beine, und das finde ich persönlich schwierig. Ich habe auch viele Erfahrungen gemacht, wo Leute nach den Shows zu mir kommen und sagen, dass sie positiv überrascht sind, weil sie eigentlich schon zur Tür hinaus wollten es als hieß, die Band habe eine Bassistin.
Damit bedanken wir uns für das intensive Gespräch und hoffen, dass die Band ihre Zweifler demnächst auf der Bühne überzeugen kann. Völlig unabhängig vom Geschlecht der Mitwirkenden.
Photo-Credit: Jonathan Vivaas Kise
Oslo Syndrome
https://www.youtube.com/watch?v=GeTmK6jhKrU
- Redakteur:
- Nils Macher