STEVEN WILSON: Interview mit dem Artrock-Zauberer

26.02.2015 | 16:39

"Die haben einfach nicht verstanden, was ich da tue …" Großmeister STEVEN WILSON erklärt sein neues Album, rechnet mit der Musikindustrie ab und spricht über Beziehungs-Downloads.

Köln im Dezember 2014. Es ist Interview-Tag für STEVEN WILSON, und es ist für den deutschen Markt nur einer von mehreren. Der Andrang ist riesig - neben den üblichen Kollegen aus dem Online- und Print-Sektor sind es auch Tageszeitungen, Magazine und Radiosender, die den schüchternen Briten heute belagern.

"Ich glaube meine Musik ist etwas übergeschwappt zum Mainstream", beginnt Wilson das heitere PR-Treiben um seine Person zu analysieren. Ob ihn das verwundert? "Nein, ehrlich gesagt nicht. Denn ich habe meine Musik immer als leicht zu genießen betrachtet, nie als Nischen-Produkt. Letztendlich bin ich ein großer Fan von guten Melodien und von guten Songs." Dass seine Songs im Vergleich zur üblichen Radiokost gerne überdurchschnittliche Spielzeit und Komplexität aufweisen, verschweigt er hier dezent. Dass er mittlerweile Thema in den Feuilletons der Nation ist, schreibt er aber auch einer zunehmenden Offenheit der Medienlandschaft zu. "Mich freut diese Entwicklung sehr, ich hatte nie ein elitäres Bild meiner Musik. Jeder soll sie hören! Ob das ein Fan von Popmusik oder der 60 Jahre alte Hippie ist, ist mir dabei gleich."

Und so passiert es meistens, wenn man mit Steven Wilson spricht: Man landet bei Gott und der Welt, bevor man auch nur ein Wort zum neuen Album verloren hat. Nach einigen Exkursen über die T-Shirts seiner Konzertbesucher und Konzeptalben von THE WHO oder PINK FLOYD landen wi schließlich doch bei "Hand. Cannot. Erase.", dem neuen Magnus Opus des früheren PORCUPINE TREE-Frontmannes. "Was mir bei anderen Künstlern und insbesondere bei mir selbst am wichtigsten ist: Wiederhole dich nicht! Ich würde mich langweilen, wenn ich nach "The Raven …" noch einmal so ein ähnliches Album aufgenommen hätte. Die Musikindustrie mag das und sie verspricht sich großen Erfolg, weil die Leute den Stil ja bereits kennen. So gesehen setzt man sich einem gewissen Risiko aus, wenn man sich von Album zu Album neu erfinden will."

Allerdings kann man dem Vorgängeralbum "The Raven That Refused To Sing" und "Hand. Cannot. Erase." die musikalische Verwandtschaft kaum absprechen, weswegen Wilson es auch als logische Fortsetzung betrachtet. Nicht von ungefähr kommt die tonale Ähnlichkeit eines Songs wie 'Angestarrt', der während der letzten Tour geschrieben und damals noch namenlos bereits live gespielt wurde. "Mir gefällt der Gedanke, Musik erst live aufzuführen und sie erst danach aufzunehmen", wird mein Hinweis auf das eben geschilderte Live-Erlebnis in Bielefeld ergänzt. "Mit PORCUPINE TREE haben wir es damals auch so gehalten und teilweise ganze Alben gespielt, ehe sie veröffentlicht wurden. Leider machen so etwas nicht mehr viele Bands." Neben den beiden Nummern 'Ancestral' und 'Happy Returns' war das neue Album im Kopf schon weit gereift, weil ich das Konzept bereits verinnerlicht hatte."

Das Konzept, welches auf der wahren Geschichte der Britin Joyce Carol Vincent beruht, geistert schon eine Weile im Kopf von Steven Wilson herum, sodass sein nächstes Studioalbum unweigerlich davon handeln musste. "Ohne dabei prätentiös zu klingen, aber die Geschichte hat mich ausgesucht. Ich hatte nicht aktiv nach ihr gesucht, sie fand mich. Ich wusste es, als ich die ersten Gedanken aufschrieb und merkte, was für eine starke Verbindung ich zu diesem Thema habe!" Es geht um das Leben im 21. Jahrhundert im Herzen einer Großstadt. Wie eine junge attraktive Frau dennoch vollständig von ihrer Umgebung isoliert war. "Ich finde das dramatisch und sogar paradox in Zeiten der zahlreichen sozialen Netzwerke. Viele Menschen haben Freunde, die sie niemals treffen werden und zu denen sie gar keine richtige Bindung haben." Dass Wilson das für eine erschreckende Entwicklung der Moderne hält, wird niemanden wundern. Mit dem Gedanken, dass Menschen trotz vieler Verbindungen letztlich mehr isoliert werden, greift er schließlich eine der größten gesellschaftlichen Debatten unserer Zeit auf.

Dabei dient die ursprüngliche Geschichte lediglich als Kern der Erzählung, mehrere Songs entfernen sich in ihrem Narrativ und schlagen einen größeren Bogen. 'Home Invasion' behandelt beispielsweise das Internet, das Fluch und Segen sein kann. "Das Internet bringt dir alles. Du kannst alles herunterladen. Bildlich gesprochen sogar eine Beziehung. Mich beschäftigt dieses Thema schon lange und es gibt bereits auf mehreren PORCUPINE TREE-Alben Songs zu diesem Thema, aber hier ist es wieder zentraler Aspekt der Story." 'Happy Returns' führt hingegen die Geschehnisse um Joyce Carol Vincent ins Fiktive weiter, um dem Album im Gegensatz zur wahren Geschichte ein offenes Ende zu geben. "Ich hatte diese Idee, dass sie einen Brief an ihren Bruder schreibt, den sie aber nie beendet. Wir wissen zwar, wieso sie das nicht tat, aber das Album lässt diesen Punkt vollkommen offen. Sie verschwindet zwar, aber man weiß nicht genau, wieso."

Auch wenn Wilson den etwas mysteriösen Charakter der Geschichte erneut hervorhebt, ist es doch ein sehr bewegendes und trauriges Album geworden. "Ja das stimmt", ergänzt er meine Meinung zu 'Routine' und 'Perfect Life', die einen beide sehr tief berühren. "Ich hatte schon immer ein Faible für traurige und düstere Musik. Und wie du schon sagst, führt es dazu, dass wir ein tieferes Verständnis entwickeln und plötzlich merken, dass wir mit unseren Gefühlen und Gedanken nicht alleine sind. Als Musiker oder generell als Künstler ist man meiner Ansicht nach sogar dazu verpflichtet, den Zuhörer an dieser universellen Erfahrung teilhaben zu lassen. Niemand von uns ist alleine, wenn man Dinge teilen kann. Darin liegen doch eine gewisse Schönheit und ein Pathos, ich jedenfalls fühle mich damit besser."

"Hand. Cannot. Erase." ist insgesamt wesentlich mehr als eine Aneinanderreihung trauriger, nachdenklicher Songs. Nach den ersten zwei bis drei Durchgängen offenbart sich ein emotionaler Trip, der an Intensität kaum zu überbieten ist. Nicht ganz ohne Gefahr für den Konsumenten moderner Musik, wie er bemerkt: "65 Minuten Musik können lang sein, das weiß ich. Viele Menschen sind einfach nicht mehr daran gewöhnt, sich so lange am Stück auf etwas zu konzentrieren. Auf der anderen Seite sieht sich jeder gerne einen zweistündigen Film an oder liest ein Buch. Ich gebe also die Hoffnung nicht auf." Dazu gibt es wohl auch keinen Grund denn die Anhängerschaft Wilsons kennt vermutlich mehr als nur die Shuffle-Taste eines iPods, um Musik zu hören. Die versöhnliche These besorgt er flugs: "Das neue Album sollte man vielleicht als Film sehen, mit einer Handlung und einer Kontinuität, der man folgen sollte."

Trotz der angesprochenen Eingängigkeit auf "Hand. Cannot. Erase." ist das Album vielschichtig und nicht zu unterschätzen. Möchte man hinter die Fassade blicken, ist es schwieriger zugänglich als "The Raven That Refused To Sing", das sieht auch Steven Wilson so: "Das geht mir auch so. "The Raven …" war deutlich kürzer und es gab eine einheitliche musikalische Linie vom Anfang bis zum Ende. Hier habe ich die Extreme meiner musikalischen Persönlichkeit stärker ausgelotet. Es gibt alles von Death-Metal-Riffs, Popmusik, elektronischen Elementen über Ambient bis hin zu klassischem Progressive Rock. Mir macht aber genau so ein Album am meisten Spaß, auch wenn es vielleicht der Grund ist, weshalb ich früher nur als Spartenkünstler wahrgenommen wurde: Die haben einfach nicht verstanden, was ich da genau tue…"

Promo-Bilder: Ben Meadows, Lasse Hoile, Susana Moyaho

Redakteur:
Nils Macher
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