Sziget 2008 (Online-Tagebuch)
13.08.2008 | 16:30Der Wahnsinn dürfte auch dieses Jahr in Ungarn Methode haben: Auf der 70 Fußballfelder großen Donauinsel Óbuda findet in der ungarischen Hauptstadt Budapest die 2008er Ausgabe des Sziget-Festivals statt. Ein kleines Team von POWERMETAL.de wird an dieser Stelle täglich aktuell die neuesten Eindrücke berichten.
Viel Spaß! (letzte Aktualisierung: 18. August, Abend)
Vom 12. bis 18. August kommen auf die Insel auch wieder viele Metalbands aus aller Welt: APOCALYPTICA, ICED EARTH, AVANTASIA, EXODUS und PRO-PAIN sind nur einige der Namen, die auf der Metal-Bühne des Festivals spielen. Doch natürlich gibt es beim Sziget noch viel mehr zu erleben: Sechs Tage lang herrscht Festivalstimmung auf rund zwanzig Bühnen. Die einzelnen Stages sind dabei über das ganze Gelände verteilt und auf geräumige Freiflächen gebettet, von Bars, Cafés und Shops umgeben. Gezeltet wird also irgendwo zwischen afrikanischem Dorf, Teezelt oder einem der vielen Theaterbühnen, überall. So entsteht für eine Woche eine Festivalstadt mit eigener Infrastruktur von Post über Bank bis hin zu Supermärkten. Für diesen Spaß ist der Preis in den letzten Jahren in die Höhe gegangen: Inzwischen kostet die Wochenkarte 150 Euro – was im Vergleich zu anderen Festivals dieser Kategorie aber immer noch preiswert ist. Dafür gibt es auch einen bunten Headliner-Zirkus auf der Hauptbühne zu bewundern. IRON MAIDEN und LAUREN HARRIS, R.E.M. und DIE ÄRZTE, die SEX PISTOLS und ANTI-FLAG, die BABYSHAMBLES: Auf dem Sziget gibt es musikalische Horizonterweiterung gleich mit dem Festival-Ticket dazu.
Erster Tag: MAIDEN-DAY
Erster Tag, es ist 23.21 Uhr - und zwanzig Minuten Zeit an diesem Computer.
Internet for free gibt es nämlich auf dem Sziget, aber nur begrenzt. Doch egal: Gerade spielten IRON MAIDEN. 'The Trooper' mit Bruce in der roten Weste, 'Wasted Years' bis in die letzte Reihe mitgesungen, rund 100 000 Ungarn und andere aus diesem lustigen Festivalvolk. Die Show glich der aus Wacken, mit Highlights wie 'The Number Of The Beast' mit Eddie am Keyboard, einem endgeilen 'Rime Of The Ancient Mariner' im blauen Buehnenbild und 'Powerslave' mit tausenden MAIDEN-Sklaven, die erbarmungslos den Kopf schüttelten. Besonders grandios war das Ende der Show: Nach 'Heaven Can Wait' und 'Run To The Hills' ein schickes Fürchten mit 'Fear Of The Dark' - und dann 'Iron Maiden', mit einem Eddie, der sich von der Sphinx zur Mumie verwandelt. Ebenso göttlich später 'Moonchild' und 'Hallowed Be Thy Name', MAIDEN haben einfach zu viele Hits.
Der Rest des Tages: Anflug, Supermarkt, Staublunge - und die etwas bittere Erkenntnis, dass dieses Festival immer, immer teurer wird. Dazu später mehr.
Zweiter Tag: ANTI-FLAG, VOLBEAT and many more ...
Zeit: 17.00 Uhr, Pegelstand: ein Weißwein.
Nach der anfänglichen Betroffenheit, wie stark hier innerhalb der vergangenen Jahre die Preise gestiegen sind, setzt sich langsam das übliche Sziget-Gefühl durch. Denn wo gibt es sonst solche Nächte wie die letzte? Nach IRON MAIDEN war nämlich ein Marathon durch geschätzte zwanzig (!!!!) Open-Air-Diskos fällig, von Metal über Reggae bis hin zu Techno und Alternative. Und dazu noch Dutzende, die irgendwo mitten auf der Straße auf Mülltonnen rhythmisch trommelten, voller Enthusiasmus und quasi wie bei den schon heilig gesprochenen SEPULTURA-Tribalklängen. Solch eine musikalische Bandbreite gibt es nirgends. Und heute früh das Aufwachen: Trotz dreißig Grad im Schatten erst gegen 12 Uhr, weil hier jeder eben unter Bäumen schlafen kann, irgendwo zwischen den Bühnen.
Der musikalische Teil des Tages nach der kostenlosen Dusche: ANTI-FLAG aus Amiland als erste Band auf der Hauptbühne ab 15.30 Uhr. Cooler Old School Punk mit Staub-Garantie, weil Tausende auf dem ausgedörrten Feld vor der Mainstage sprangen. Nur die Preise machen eben Sorgen: Zwar sind sie immer noch billiger als auf vielen deutschen Festivals, aber das trinkbare Bier aus der Dose kostet umgerechnet rund 2,30 Euro - vor fünf Jahren gab es das noch für 1,20. Und das Fassbier? Übereinstimmenden Berichten zufolge muss das mit Wasser gestreckt sein, weil es a) so schmeckt und b) nicht betrunken macht. Wir haben es probiert. Aber zum Glück lässt sich hier auch ohne Alkohol eine Menge Spaß haben, gerade heute sind die dänischen Elvis-Presley-Metalheads von VOLBEAT am Start.
Es ist kurz nach 23 Uhr, der Metal-Teil des Tages vorbei, die Finger auf der Tastatur aber noch flink. Denn VOLBEAT und AVANTASIA haben gerade Kräfte wach werden lassen, die nach dem Aufstehen mit einem steifen Steiß kaum noch möglich schienen. "We have no religion, we only believe in the spirit of heavy metal", hat Michael Poulsen von VOLBEAT eben gerufen. Er hat verdammt Recht gehabt - bei dem Gig, den seine Mannen zelebrierten. Denn da war bis zum abschließenden 'Rebel Monster' alles drin: eine Ode an die Schönheit der ungarischen Frauen und mancher ihrer Männer ("Wir dachten, Ungarn sind Aliens"), ein verbaler Tribut an Johnny Cash, kleine Verarschungen von Bands wie KISS, CANNIBAL CORPSE und MOTÖRHEAD sowie ein völlig losgelöstes Publikum. Die Fans konnten nach dieser Orgie des guten Geschmacks gleich dableiben: AVANTASIA ließen sich beim letzten Gig ihrer ersten Tour ganz mächtig feiern. "Danke, Tobi", sagte Uli Jon Roth für die wohl drei Wochen währende Reise. Und der Spaß für die Fans war gewaltig: 'The Seven Angels' war nur einer der Songs, die das fast zu drei Vierteln gefüllte Riesenzelt zum ekstatischen Mitsingen brachten. Neun Leute haben AVANTASIA für die Tour auf die Bühne gebracht, ein Aufwand der sich auch in Ungarn lohnt - und den Tobi mit einer großen Ungarn-Fahne, die er wie ein Wilder schwenkte, wieder zurückgab. Tausende Fans waren zufrieden. Und kaum einer dürfte wohl daran gedacht haben, wegen dieser beiden Kapellen solche Namen wie ALANIS MORISSETTE oder THE KOOKS verpasst zu haben. Nun klebt das Programmheft in der Arschtasche, rausgeholt sagt es: Heute geht noch einiges. Bis morgen(s).
Dritter Tag: KULTUR SHOCK, SABATON, ICED EARTH und viele mehr
19.00 Uhr, Ortszeit Budapest, Status: erwacht.
Eine lange Nacht liegt zurück. Zuerst gab es gestern kurz nach 23.00 Uhr mit KULTUR SHOCK eine Art amerikanische Variante von SUBWAY TO SALLY. Nett, aber viel interessanter war, was auf der Straße vor der A38-Szinpad-Bühne passierte. Denn dort spielte eine israelische Folk-Ska-Band ohne wirklichen Namen, aber mit einem lustigen Keyboarder, einem äußerst voluminösen Sänger und Dutzenden durchdrehender Fans, die lang und ausgelassen auf der Straße tanzten. Das ist genau das Feeling, das dieses Festival so einzigartig macht: spontane Aktionen und "open minded people". Ebenso überraschend gestaltete sich der Programmpunkt, der sich hinter dem Namen KISS ERZSI MUSIC verbarg: vier Musiker, die sich als lupenreine KISS-Coverband entpuppten und reichlich geschminkt solche Hits wie 'I Was Made For Loving You' zockten. Großartig, gerade im angetüterten Zustand kurz vor drei Uhr. Selbst der Schlaf danach ist erwähnenswert: Denn beim Sziget muss man nicht zwangsläufig im eigenen Zelt pennen, nein, es gibt zum Beispiel das Ambient-Zelt, in dem meditative Klänge hervorragend mit weichen Bodenkissen harmonieren, auf die sich das müde Haupt betten lässt.
Der heutige Tag war dagegen bislang ereignisarm: viel Zeit im nahen Supermarkt verbracht und versucht, der sengenden Hitze zu entkommen. Aber nun beginnt das Programm wieder: SABATON und ICED EARTH stehen auf dem Programm, auf der Hauptbühne spielen gleichzeitig die KAISER CHIEFS und JAMIROQUAI. Eine heiße Mischung für den Festival-Urlaub hier. Und ganz wichtig: Wir haben einen neuen Blogger...
[Henri Kramer]
Donnerstag, 22.57 Uhr.
Da ich in Sachen Metal eigentlich nur wegen CARCASS zum Sziget gekommen war, fühlte ich mich unter den vielen Melodic- und sonstigen nicht gerade Death-Metal-anmutenden Klängen geradezu verloren. Doch da ich einig andere interessante Eindrücke, die nicht metalllastig zu nennen sind, gesammelt habe, möchte ich euch auch damit nicht verschonen. Auf dem Weg durch das Sziget-Dorf, wie ich es nenne, fällt mir gestern durch Zufall NASMITH auf der Talent-Bühne ins Auge und Ohr. Der druckvolle Sound lässt mich mit meinem Stück Pizza in der Hand kurz verharren: schöner Drumsound, doch eine seltsam melodische Stimme, die von hohem Geschrei und überraschendem Gegrunze abgelöst wird. Etwas unausgegoren, doch ein Reinhören allemal wert. Weiter geht's mit Kunst in Form einer vietnamesischen Wasserpuppen-Performance, die einem vielleicht etwas zu aufgesetzt, aber dennoch sehr stimmungs- und liebevoll die Traditionen der vietnamesischen Bevölkerung über die Generationen hinweg erläutern soll. Da es 16.00 Uhr war, gehe ich davon aus, dass die 21.30-Uhr-Vorstellung bei Dunkelheit und Scheinwerfer- bzw. Kerzenlicht weitaus atmosphärischer daherkommt. Ein weiteres Highlight war dann am gestrigen Abend FLOGGING MOLLY, die in bester DROPKICK MURPHYS-Tradition auf der Hauptbühne die Massen zum Tanzen und Feiern brachten. ALANIS MORISSETTE besuchte ich mit Freundin, die, so viel kann ich sagen, begeistert war.
[Yazid Benfeghoul]
Donnerstag, 23.40 Uhr.
'We will rock you' - genau dieses Lied läuft gerade neben dem Internet-Zelt. Und es passt zu diesem Abend. ICED EARTH haben vorhin alles gerissen. Mit einer superschicken Show in rote und grüne Farbe getaucht, spielten sie solche Hits wie 'Watching Over Me'. Ohne Gnade gut war dabei Matthew Barlow, ihr wieder aus der Versenkung aufgetauchter Sänger, der die Oktaven hoch und runter brillierte. Tausende Fans an der Metal-Bühne brüllten, am Mischpult war ein Wert von 110 dBA angezeigt. Besonders schön war der letzte Teil der Show, weil solche Klassiker wie 'The Coming Curse' oder die Bandhymne 'Iced Earth' in den vergangenen Jahren viel zu selten zu hören waren. Fast schon aus dem Gedächtnis ist da die Zeit zuvor. Denn die KAISER CHIEFS waren zwar toll und hatten minutenlange Jam-Sessions zu bieten, aber waren dennoch zu viel Pop. Und SABATON zur selben Zeit? Ich dachte, das wäre harte Musik. Nur leider entpuppten sie sich als sehr konventionelle Heavy-Band mit EUROPE-Keyboard-Einsprengseln. Jetzt läuft gerade BRYAN ADAMS mit dem 'Summer of 69'. Tanzen.
Vierter Tag: Langsam sind die Knochen müde.
Freitag, 15. August, 15.00 Uhr herum, gefühlte 35 Grad.
Aber der Tag wird gut, Bands wie DIE ÄRZTE oder irgendwann nachts SEAR BLISS lassen hoffen. Wenn es nur nicht so warm wäre. Doch zum Glück haben wir hier einen klimatisierten Supermarkt. Und mein Kumpel Daniel hat in der taz auch seine Kolumne über das Sziget eröffnet. Lesen wir seine Eindrücke hier:
"Vergessen wir das Zauberland. Oder besser gesagt, vergessen wir eines nicht: Jede noch so feenhafte Gegend birgt in sich auch das Böse. In Peter Pans Land war es Captain Hook, in Narnia der böse Gott Tash und beim Sziget ist es das Bier vom Arany-Aszok-Stand.
Das Problem ist nicht, dass es dieses Jahr schon wieder teurer geworden ist. Nein, die ungarische Bierindustrie mit ihren sympathischen Angestellten soll durchaus an den Vorteilen der Globalisierung partizipieren. Aber dann soll es auch bitte Bier sein und nicht beer flavoured water. Um es kurz zu machen: Das Zeug ist gepanscht.
Braucht man sonst etwa acht halbe Liter Pils, um einen angenehm angetrunkenen Zustand zu erreichen, kann man vom Arany (sprich Oaran) zwölf, dreizehn, vierzehn trinken und wird nichts weiter spüren, als dass die Blase platzt. Wässrig war das Arany vom Fass schon immer, aber dieses Mal ist es Wasser. Es ist schon sehr bezeichnend, dass ein 0,5er Arany in der Dose mehr kostet als ein 0,6er vom Zapfhahn. Arany, du bist eindeutig der Darth Vader in diesem kleinen Epos.
Von Weitem mögen jetzt Stimmen ertönen, man könne ja auch ohne Alkohol Spaß haben, etc. pp. Aber das ist eine Lüge. Deswegen steigen immer mehr Festivalbesucher auf Weißwein um. Kostet etwa das gleiche, macht aber blau.
Nur so konnte es übrigens dazu kommen, dass einer meiner besten Freunde, Helmut, mich gestern fragte, ob ich nicht sein Trauzeuge werden wollte. Es war nachts um drei, und wir lagen beide im Ambient-Zelt. Da spielt 24 Stunden am Tag Eso-Musik, und man muss die Schuhe ausziehen, wenn man rein will. Viele, deren Zelt von den Massen niedergetrampelt wurde, schlafen da. Andere hoffen, dass sich eine schöne Frau oder ein schöner Mann neben sie legt und nach Intimitäten verlangt. Das passiert aber nach Auskunft des Barmannes nie. Jedenfalls kennt Helmut seit etwa fünfzehn Tagen eine Halbrussin, die demnächst für ein Jahr nach Odessa geht. Im Hintergrund ertönte die Zither.
Wir sind beide dann sehr bald eingeschlafen. Vorher versprach ich noch, ihm vor dem Altar beizustehen. Die drei Skinheads, die sich auf welche Weise auch immer ins Zelt verirrt hatten, werden seine Zeugen sein, mich an das Versprechen zu erinnern, dass ich ihm gab.
Heute Morgen erwachten wir dann schlagartig durch eine bekannte Melodei. Zwei Meter neben uns hatte eine Musikgruppe ihren Verstärker aufgebaut und spielte 'Donna Donna' in einer beschwingten Popversion. Ich lag zur Hälfte auf einem hölzernen Podest und hatte eine Paprika in der Hand. Die Tasche, die mir meine anbetungswürdige Freundin geborgt hat, lag zum Glück noch da. Ich werde meine Rückenschmerzen jetzt im Massagezelt auskurieren. Arany, du bist des Teufels Werkzeug."
Fünfter Tag: Schrecken und Freuden der Sziget-Welt
Entsetzen und tonnenhohe Erleichterung können verdammt nah beieinander liegen. Gerade hier. Denn eigentlich war der gestrige Abend ein genialer: Schon der Beginn mit den ÄRZTEN aus Berlin, die sich als wirklich internationale Band präsentierten und das riesige Publikum vor der Hauptbühne sogar dazu brachten, sich kollektiv zu setzen. Und vor allem das Ende ließ sich ganz großartig anhören: Erst der 'Schrei nach Liebe' gegen alle Nazi-Fratzen, dann 'Unrockbar' für die Metal-Heads... Und sie hatten zwischendrin sogar Masken von KISS auf ihren Gesichtern...
Nicht minder im Gedächtnis blieb der Auftritt der SEX PISTOLS danach: Drei Akkorde reichen für ein geiles Konzert, dem John „Johnny Rotten“ Lydon seine so markante Stimme verlieh - und seine Ansichten über die Welt. "Should George Bush be erased?", fragte er sehr oft. Und das tausendfache "YEAHHHH" zeugte davon, wie sehr viele Menschen diesem Typen im Weißen Haus die Ausradierung gönnen würden. Passend dazu, die Hits mehrerer Generationen: 'God Save The Queen', 'Anarchy In The UK', 'Pretty Vacant', die Liste der Hits war endlos. Und nicht nur gegen den aktuellen US-Präsidenen haben die Alt-Punks etwas: Mit einem klaren "Fuck the complete music industries" verabschiedeten sich die Briten...
Als nächstes musste eine Entscheidung getroffen werden: Erst (falsch) APOCALYPTICA oder (richtig) DANKO JONES. Warum die finnischen Streichinstrumenten-Musiker die doofe Wahl waren? Ihr Drumsound klang viel zu laut, die Celli waren kaum zu hören, selbst solche (geklauten) Hits wie 'Master Of Puppets' konnten da nix reißen. Umso cooler ließ sich das schon angetrunkene Erlebnis DANKO JONES ertragen, der während seiner Show solche Legenden wie Dimebag Darrell oder Cliff Burton grüßte. Doch wie gesagt: Betrunken war ich dann doch schon, alle anderen auch. Und irgendwie ist es da fast schon ein Wunder, dass wir noch SEAR BLISS und ihre hymnischen Black Metal-Posaunen vernahmen, die lange nach Mitternacht solche Songs wie 'Birth Of Eternity' regelgerecht zelebrierten... Danach wuchs allerdings nicht die Unendlichkeit, sondern nur der Grad des Müdeseins, der einen erschöpften Autoren aufs Gras sinken ließ. Und zuließ, dass ihm seine Brieftasche abgenommen wurde... Einige Anrufe und einen Polizeibesuch später - jaja, die deutsche Botschaft - tauchte das Portemonnaie zum Glück am "Lost and found"-Stand auf, zwar ohne Geld, aber mit allen Papieren außer dem Fahrzeugschein, der allerdings nicht gebraucht wird, weil das Auto in Deutschland steht... Glück gehabt. Bis zu den nächsten Tragödien...
Noch eine Theorie, bevor R.E.M. jetzt am vorletzten Tag als Headliner spielen und ich deswegen MESHUGGAH verpassen muss... SERJ TANKIAN, der Sänger von SYSTEM OF A DOWN, spielte gerade, eröffnete mit 'Empty Walls'. Aber viel wichtiger: Er hat im weinumschwängerten Haupt eine neue Verschwörungstheorie wachsen lassen. Denn so wie der im weißen Anzug und samt weißem Zylinder auftretende Sänger gegen die USA sprach, könnte sich fast denken lassen, dass mancher Künstler wirklich George W. Bush gewählt hat, alleine darum, um ganz viel kreatives Potential für Texte und Musik zu bekommen. Dies aber nur als Nebenanmerkung... Denn ansonsten war die Musik von SERJ TANKIAN super, sehr progressiv - und seine Stimme ist sowieso über jeden Zweifel erhaben. Und nun ab zu R.E.M...
[Henri Kramer]
Samstag, 20.00 Uhr herum...
Eine tolle Alternative zu dem ganzen Mainstream stellt die iwiw-(World Music Haupt-)Bühne dar, auf der man, wenn man auch auf etwas andere Rhythmen steht, tolle traditionelle Tanzmusik vorfindet. So zum Beispiel spielten dort unter freiem Himmel MORY KANTE oder SEUN ANIKULAPO KUTI @ FELA'S EGYPT 80 und begeisterten Tausende. MORY KANTEs Welthit 'Yeke Yeke' dürfte dem ein oder anderen sicher noch aus den ausklingenden 1980'ern ein Begriff sein. Dass dieses eine Lied für einige womöglich ausschlaggebend für den Sziget-Besuch war, lässt sich nicht bestreiten, und wohl jeder war überrascht, wie viele weitere mitreißende Lieder das 13 Köpfe umfassende Ensemble zum Besten gab. Die Ansagen hielten sich in Grenzen, und nach etwas über einer Stunde wäre man sicher bereit gewesen, noch länger zu bleiben. Das gleiche gilt für die KUTI-Band, nur dass hier einige Aussagen politischer Natur nicht fehlen durften.
Da das Sziget ein Festival und eine Kulturveranstaltung der Superlative ist, wird man selten Gefahr laufen, sich zu langweilen oder seinen Geist abstumpfen zu lassen. Man kann sich dann auch kurzerhand in eine schlecht klimatisierte Halle zu einer nicht unbeträchtlichen Anzahl an Menschen zu Drum 'n' Bass stopfen und den Beats lauschen. Im afrikanischen Dorf und den vielen weiteren Chill-Areas, die man ab und an dringend nötig hat, kann man sich entweder in eine Hängematte oder einen Liegesessel lümmeln und dabei den verschiedensten Musikrichtungen lauschen. Und man sollte es tunlichst vermeiden, in der Nähe der Partyarena oder der einschlägigen 24h-Party-Niederlassungen seine Zelte aufzuschlagen, da man sonst drei mal drei Tage wach ist - es sei denn, man möchte dies. Im Ambient-Zelt kann man sich auf jeden Fall von allen Nachwirkungen erholen (die Weine vor Ort sind die billigsten Alternativen, sich zu besaufen, wenn man es nicht einmal darauf angelegt hat, denn sie erwischen einen plötzlich und hinterhältig). Zurück zum Ambient-Zelt: Hier gibt es ganz wundervolle Entspannungsmusik, Liegematten, auch Live-Bands und eisgekühlten Tee, einfach mal so für zwischendurch.
Und nun was ganz aktuelles: Das am Samstag Mittag einleitende PANNONIA ALLSTARS SKA ORCHESTRA aus Ungarn hat mich als Metalhead echt überzeugt. Zwar aß ich gerade auf der Wiese hinter der Bühne und ersparte mir die Sandstürme davor, doch trug der Wind die vielseitigen und launemachenden Klänge zu mir hinüber und erweiterte meinen Horizont in der Hinsicht, dass ich nicht mehr grundsätzlich behaupten werde, ich möge keine Ska-Musik. Und "Ja", ich freue mich immer noch wie nur was auf CARCASS. Mein Gehirn ist also noch richtig gepolt und es hat weder was mit der Sonne, noch mit dem ungarischen Essen zu tun! [Yazid Benfeghoul]
Sechster Tag: Jeder Knochen ist ein Schmerz, gut so, wir sind hier nämlich nicht auf einem Kindergeburtstag
Sonntag, 17. August, später Nachmittag.
Langsam fordert das Festival seinen Tribut. Denn zwar ist die Reisegruppe erst gegen sieben Uhr im Bett gewesen, aber hat heute bis 16 Uhr gebraucht, um wieder in die Gänge zu kommen. Und nun spielen gleich die BABYSHAMBLES, wenn Pete Doherty nicht zu betrunken ist... Doch noch ein paar Sätze zuvor zum gestrigen Abend, unter anderem eben mit R.E.M., die vor allem neueres Material spielten. Und deren Auftritt vor allem von der beeindruckenden Stimme von Michael Stipe getragen wurde. Ein paar Klassiker gab es dazu, gerade 'Losing My Religion' und 'Man On The Moon' blieben im Ohr hängen... Danach war mit ADAM GREEN noch ein Musiker der ruhigen Töne vertreten - und mit umso versauteren Texten über das menschliche Sexualleben. Köstlich auch deswegen, weil Mr Green einfach mal hübsch betrunken war - und dennoch solche Stücke wie 'Tropical Island' oder 'Crackhouse Blues' mit cooler Elvis Presley-Attitüde herunterspielte... Der Rest des Abends war dann das übliche Sziget-Programm: Bars, Quatschen mit Leuten aus allen möglichen Ländern, Tanzen in lustigen Diskos, noch mehr Quatschen, noch mehr Trinken, noch mehr Tanzen. Eben bis um 7 Uhr. Die Knochen tun von diesem Job langsam weh, die Beine sind angeschwollen vom Laufen... Aber bald ist es ja vorbei.
Es ist 19.10 Uhr, die Kräfte sind wieder da: Dank den BABYSHAMBLES. Um es kurz zu machen: Ein 90-Minuten-Konzert von Kaputten für Kaputte. Grandios langsamer Rock'n'Roll, Pete Doherty komplett dicht, aber musikalisch voll auf der Höhe. Denn wie geil klangen diese Gitarrenmelodien oder die ellenlangen Mundharmonika-Passagen im Sound der Briten! Da war es auch egal, dass Dohertys Ansagen zu keiner Zeit verständlich klangen, das passt einfach zum Image des Ex-Freunds von Supermodell Kate Moss. Und auf seine Fans kann Pete stolz sein: Von der Bühnenkamera wurden unter anderem Bilder übertragen von Typen, die sich eine Pappkuh an einem langen Stock befestigt hatten, auf der "Me so horny" stand. Und es gab auch andere Verstrahlte mit ganz bunten Sonnenbrillen oder sogar ein Typ, der seinen Langhaar-Dutt in einen aufgesetzten Bierbecher gepackt hatte. Ebenso cool war die Reisegruppe, die sich den aufblasbaren Swimmingpoool aufs Gelände gebracht hat und dort drin rockte. Positive Anarchie... und super Musik dazu. Gleich spielen CARCASS und die KILLERS...
[Henri Kramer]
Daniel hat sich inzwischen grundsätzliche Gedanken gemacht:
Eines muss man über Zauberländer wissen: Sie überleben ohne fremde Hilfe nie. Wer weiß schon, was die Elfen in den ganzen Märchenbüchern oder in Tolkiens Herr der Ringe immer essen, aber Felder gibt es da kaum und Fabriken auch nicht. Immer nur Eichelbrot oder Lindenrindenpommes? Schwer vorstellbar, dass da keine Revolution ausbräche. Das gleiche Problem gibt es eben auch hier in Szigetanien. Weil hier nichts angebaut wird, ist das Essen recht teuer und wird es mit jedem Festival mehr.
Aber seit ein paar Jahren gibt es eine Einrichtung, die Abhilfe schafft: den Auchan-Markt. Jedenfalls würden die Verdammten ihn so profan nennen, denn sie haben ja keine Ahnung, was ER für die Bürger der Obudai-Insel tut. Wer also auch nur daran denkt, diese Insel eines Tages einmal zur Zeit des Sziget zu betreten, sollte in das Mirakel der Ernährung eingeweiht sein. Zu diesem Zwecke sei an dieser Stelle das erste Großmantra aus dem Vierten Buch Auchan zitiert. Nachts singen es die Erleuchteten an den Ufern der Donau und geben es so Generation für Generation weiter:
»Auchan, Du Tempel auf der Wiese,
gegrölt werden Deine Sonderangebote von Deinen Priestern in Metallerhemden.
Dein Menü mit halbem Hähnchen (für die wahren Gläubigen heißt er Broiler) kostet nur 549 Forint.
Wir nehmen es mit Orangensaft und Fruchtfleisch dazu.
Denn die Pepsi-Cola ist die Brause des Satans und nicht für uns bestimmt.
Und ebenso auch nicht die Pizza für 249 Forint, welche Du dem Heiden zum Fraße gibst.
Und deren Teig nicht durch ist in unserem Munde.
Und vergib uns, dass wir versuchen Deine Gaben zu schmuggeln
über die Brücke, welche da ist über dem Flusse.
Und ja, wir hatten die Wodkaflasche in Deinem täglich Brot versteckt,
doch Du führtest die Augen von Inkal Security und ließest sie den Frevel entdecken.
Doch warum führst Du uns auch in Versuchung?
Und glänzt mit breitem Angebote?
Erlöse uns doch von dem Bösen,
und vertreibe die falschen Priester des ABC-Marktes vom Gelände,
die gar bösen Zauber treiben und garstige Teuerung mit den Waren,
welche nur Dir gebenedeit entspringen.
Denn Dein ist die Paprikacreme,
der kleine feine Eiskaffee für nur ein paar Cent
und dieses Jahr auch dunkles Brot.
Wir sind Deiner nicht würdig,
und doch nimmst Du uns in Deinen klimatisierten Räumen auf
(aber nur, wenn wir nicht mit nacktem Oberkörper einkehren).
Wir danken Dir, oh Allgebender.
Auchan! Auchan! Auchan!«
[Daniel Schulz]
So. Letzter Tag. Sonntag.
Nun endlich der lange fällige reinrassige Metal-Blog. Da, auf CARCASS wartend, ein ständiges Abhängen an der Metal-Bühne sehr deprimierend sein kann, wenn man hofft, rein zufällig eine gute Band zu entdecken, lässt man eben davon ab und freut sich umso mehr darüber, eine gute Band zu entdecken, während man rein zufällig an dieser Stage vorbeistolpert. Zum Beispiel THE ETHS aus Frankreich, bei der eine Frau in bester HOLY MOSES-Tradition ihre Stimmbänder überreizte. Druckvoll, aggressiv, für meine Begriffe jedoch etwas zu langsam. Ein paar mehr Zweiviertel-Takte bewirken da manchmal Wunder. Die darauffolgenden AL-OM woher auch immer traten in ziemlich pompöser und cooler Kluft und mit viel Tamtam auf, beließen es jedoch dabei. Ihr Viking-Metal war uninspiriert und viel zu emotionslos, als dass er mich auch nur über ein weiteres Lied hinweg hätte fesseln können. Bei REMORSE aus Ungarn durfte man wieder Zeuge werden, dass Frauengesang im Death Metal durchaus seinen Platz haben kann. Ein Mann/Frau-Gespann teilte sich den Gesang, jedoch war die Frau für die gutturalen Laute zuständig, während der Mann die hohen Schreie von sich gab. Und schließlich stellten CARCASS mit ihrem sehnlichst erwarteten Auftritt (in der Ur-Besetzung!) den ultimativen Belastungstest für einen Sziget-geschädigten Metaller dar. Es war die letzte Station vor dem Exitus, um es mal vorsichtig auszudrücken. Hit um Hit wurde zelebriert. Angefangen von den ersten Grind-Knüpplern wie 'Genital Grinder', über Kult à la 'Exhume To Consume', bis zum "Necroticism"-Best of, wo auch 'Corporal Jigsore Quandary' nicht fehlen durfte, wurde kein Song ausgelassen. Es gab keinen Song, der die Massen nicht zum Toben brachte und in einem Pogo der extremsten Art - jedoch stets friedlich, wie sich das gehört - gipfelte. Eine Wonne, sich im Schweiß zu suhlen und jeden einzelnen Muskel zu spüren und auf den steifen Nacken am nächsten Tag zu warten. Das i-Tüpfelchen stellten schlussendlich die bekannten medizinischen Intros von den Alben dar, die vor fast jedem zweiten Lied eingespielt wurden. Nach etwas über einer Stunde wurde man mit einem weinenden Auge ohne Zugabe entlassen, nahm der Soundcheck doch fast 30 Minuten in Anspruch. CARCASS konnte man jedoch keinen Vorwurf machen. Sie gaben sich äußerst sympathisch und richteten oft Ansagen an das treue Publikum. Das wars. Jetzt kann einen so schnell nichts mehr erschüttern.
[Yazid Benfeghoul]
Siebter Tag: Abtransport der Kadaver
Nach Erlebnissen wie einem KILLERS-Konzert der Klasse "cool" und solchen Hits wie 'For Reasons Unknown' oder 'Somebody Told Me' war der gestrige Abend noch lange nicht gelaufen, Kollege Benfeghoul hat bereits zu Recht die Mächtigkeit von CARCASS gepriesen... Danach war zwar auch noch richtig viel Programm, aber die Reizüberflutung gewährte nur noch Cocktails, um auch den letzten ungarischen Forint auf den Kopf zu werfen. Heute nun der Abtransport der Massen, der Billigflieger zurück nach Deutschland wird danach eine schöne Lüftung gebraucht haben, spuckte er doch eine Stunde nach Abflug mehrere Dutzend dreckige und übel riechende Festival-Krieger aus, die sich dann den Widrigkeiten des Berliner Verkehrs stellen mussten. Die Realität hat sie alle wieder. Bis zum nächsten Besuch von Szigetanien, dem gelobten Land der unbegrenzten Festival-Möglichkeiten.
[Henri Kramer]
- Redakteur:
- Henri Kramer