THE HIRSCH EFFEKT: Interview mit Ilja John Lappin
26.09.2022 | 09:21Die Hannoveraner THE HIRSCH EFFEKT haben mit der Doppel-EP "Solitaer/Gregaer" ein feines Stück Artcore veröffentlicht. Höchste Zeit, mit Bassist John Ilja Lappin über die EP, das Touren und Loriot zu sprechen.
Hallo liebe Hirsche, schön wieder von euch zu hören und zwar in Form der Doppel-EP "Solitaer/Gregaer". Trotz der pandemiebedingten Live-Pause seid ja nicht inaktiv gewesen, sondern habt für "Solitaer" drei neue Songs geschrieben. Das Besondere: Jedes Bandmitglied hat einen Song komponiert. Wer hatte die Idee und mit welchem Hintergrund? Ist das tatsächlich ein Novum oder gab es in der Vergangheit quasi einen Hauptsongwriter? Und gab es ein paar Vorgaben oder lief es nach dem Motto "alles geht"?
Danke! Unsere orchestrale EP "Gregær" (2021) war ja schon sowas wie ein Plan B, da wir zur Zeit unseres Albums "Kollaps" (2020) aufgrund der Pandemie nicht touren konnten. Was natürlich niemand damals ahnen konnte: dass die pandemische Situation in 2021 noch lange nicht vorbei war und sich auf eine unbestimmte Zeit erstrecken würde.
So entstand also nach "Gregær" die Folgeidee "Solitaer" - ein weiterer Plan, um die Zeit sinnvoll zu nutzen und zu überbrücken. Anfangs haben wir noch Scherze über das Konzept gemacht, aber dann wurde aus Witz doch relativ schnell Realität, als klar wurde, dass unsere Tourneen erneut verschoben werden mussten und Social Distancing wieder an der Tagesordnung stand. So genau weiß ich gar nicht mehr wer zuerst die Idee hatte, aber wir waren auf jeden Fall derselben Meinung, dass es eine Art "Gegenwerk" zur vorherigen EP werden sollte: keine wirklichen Vorgaben oder einen gemeinsamen Konsens, der zur Vollendung des Songs nötig war.
Das Feedback der anderen Bandmitglieder war zwar erwünscht, aber stellte keine Bedingung dar. Man konnte natürlich auch die gängigen Instrumente von den anderen einspielen lassen, aber auch hier kam es zu ungewohnten Alleingängen. Die EP fokussiert sich auf die eigene Vision der jeweiligen Bandmitglieder. In Vergangenheit haben wir meistens eher in Zweierkonstellationen einen Großteil des Songwritings umgesetzt. Wir arbeiten natürlich aber auch zu dritt im Proberaum und hin- und wieder gibt es auch mal komplette Alleingänge im Songwriting. So ein spezielles Konzept wie auf „Solitaer“ haben wir bis dato allerdings noch nie realisiert, deshalb stellt es schon ein gewisses Novum dar. Es ist z.B. auch der erste Release, auf dem unser Drummer Moritz einen ganzen Song alleine singt und auch alle Instrumente gespielt hat.
'Palingenesis', 'Nares' und 'Amorphus' gehören sicherlich zu der härtesten Songs in euerem Repertoire, aber es finden sich auch wieder melodischere Aspekte, wie zuletzt auf "Holon : Agnosie" wieder. Was haben die letzten 2-3 Jahre in dir ausgelöst? Inwiefern findet es sich in
"deinem" Song auf dem Album wieder?
Ja - die EP geht definitiv wieder mehr in eine härtere und melancholischere Richtung.
Da es sich bei mir um eine lange Zeit der Isolation handelte und ich mit einer Selbstentfremdung in einer mir neuen Umgebung zu kämpfen hatte, spielen diese Dinge natürlich in meinem Beitrag 'Palingenesis' eine Rolle. Die letzten 2-3 Jahre waren eher von Unbehagen und einer gewissen Einsamkeit, sowie allgemeiner Unzufriedenheit geprägt. Ich denke für alle Mitglieder der Band war es nicht eine besonders leichte Zeit.
Über "Gregaer" müssen wir auch noch reden, denn die "Orchester-Versionen" der Stücke 'Natans', 'Domstol', 'Kollaps' und 'Gregaer' wurden ja schon letztes Jahr digital veröffentlicht, finden sich aber auf der neuen EP ebenfalls wieder. Wie kam es zu der Zusammenarbeit mit Anthony Williams, der die Stücke für Orchester arrangiert hat?
Die Idee entstand nach einer gemeinsamen Live-Session mit der Hannoverschen Band HAGELSLAG. Diese wiederum setzen hin- und wieder Features mit verschiedenen, musikalischen Gästen in einem Studio in der Nähe von Hannover um – zumindest war dies noch vor der Pandemie der Fall.
Anthony Williams war der Arrangeur der Songs, die dann also gemeinsam in neuem Gewand performt werden sollten. Bei uns war es unser Song 'Kollaps' vom gleichnamigen Album. Unsere Musik gefiel Anthony so gut, so dass er nach der Session Interesse an einer weiteren Zusammenarbeit zeigte und da wir ja damals nicht touren konnten, entstand die Idee des Crowdfunding-Projektes, welches dann letzten Endes die EP möglich machte.
Wie steht ihr eigentlich zu Loriot? Ich würde soweit gehen und sagen, dass in der teils satirischen Form des "Spiegel vorhaltens" eine gewisse Parallele erkennbar ist.
Es ist witzig, dass du das ansprichst, denn Loriots "Bundestagsrede" diente ein bisschen als Inspiration zu 'Amorphus'. Ich denke, wir alle in der Band haben ihn immer als einen sehr raffinierten Künstler wahrgenommen.
Eure Tour läuft lief ja gerade quer durch das Land. Was bedeutet es euch, wieder touren zu gehen?
Es ist gerade wie die Frucht nach einer langen Dürre doch noch zu ernten. Es gibt kein schöneres und wertvolleres Gefühl für eine Band, als gemeinsam mit den Fans die eigene Musik zu besingen und zu feiern - und natürlich auch die neuen Stücke zu präsentieren. Wir sind tatsächlich gerade sehr glücklich darüber, endlich wieder auf Tour fahren zu können unter "normalen" Umständen.
Ich habe mit Wohlwollen gesehen, dass ihr vermehrt auch für internationale Prog-Festivals wie das Tech-Fest oder das ArcTanGent-Festival in England gebucht wurdet. Wie war es für euch, dort aufzutreten?
Beide Festivals haben uns sehr wohlwollend aufgenommen, und obwohl wir uns etwas unsicher sind, ob sie auch die deutschen Lyrics wirklich immer zu 100% verstehen, singen aber doch erstaunlich viele mit – das freut uns natürlich. Sprache kann ja manchmal eine Barriere sein, selbst für die Art von Musik die wir machen – auf beiden Festivals in UK schien das aber nicht der Fall zu sein. Ein ausländisches Festival ist für uns immer eine sehr aufregende und bereichernde Erfahrung. Anderes Land, andere Mentalität, anderes Publikum als hier in Deutschland. Wir würden gerne noch viel mehr solche Festival-Shows spielen, da wir letzten Endes auch immer neue Fans und Follower über diesen Weg für uns gewinnen.
In den letzten Wochen haben einige Bands wie MANTRA Statements dazu abgegeben, dass viel zu wenig Vorverkaufstickets verkauft werden und Veranstalter damit in Schwierigkeiten kommen und Konzerte teils abgesagt werden müssen. Seht ihr das ähnlich kritisch?
Das ist leider ein Phänomen, welches nicht nur das Metal-Lager betrifft und die Entwicklungen sind natürlich für Veranstalter und Künstler besorgniserregend. Wir hoffen auf eine baldige Besserung der Lage und natürlich, dass mehr Menschen wieder den Vorverkauf nutzen würden. Dieser ist gerade nach den ersten Pandemie-Jahren und langen Durststrecken unabdingbar für die Realisation von Konzerten.
Ein Blick in die Zukunft: Was ist geplant im Hirsche-Lager? Was mich persönlich interessiert: Wird es 2023 ein Album geben?
Es stehen dieses Jahr noch einige Shows unserer SOLITAER-TOUR an. Der zweite Teil erfolgt im Februar und März 2023. Die Arbeit an unserem sechsten Album ist aufgrund unserer Touraktivität gerade unterbrochen, dennoch werkeln wir hoffentlich dann bald wieder daran. Wir wollen natürlich zu diesem Zeitpunkt noch nichts versprechen, aber die Chancen stehen tatsächlich gut, dass ein neues Werk nächstes Jahr erscheinen wird.
Danke für das Interview!
- Redakteur:
- Jakob Ehmke