ANATHEMA - Potsdam
06.10.2009 | 10:2918.09.2009, Waschhaus
Verträumt, melancholisch, aber auch kraftvoll und wie immer voller Energie - die Musiker von ANATHEMA machen jeden Konzertabend zu einem Erlebnis.
Er steht vor der Bühne, er hört genau hin. Läuft nach links, geht nach rechts, seine Miene unter den kurzen Locken wirkt konzentriert. Ehe Danny Cavanagh beim Soundcheck mit dem Klang wirklich zufrieden ist, dauert es eine Zeit. Und er kokettiert mit diesem Perfektionismus: Im Potsdamer Waschhaus steht der Gitarrist von ANATHEMA schließlich sogar beim atmosphärischen Intro seiner Band vor der Bühne und lächelt in verdutzte Gesichter von Fans neben ihm. Die kleine Geste macht deutlich, dass das ein wohl sehr familiäres Konzert wird - weil Danny Cavanagh ohne Probleme durch die wenigen Zuschauerreihen laufen kann. Rund 150 Gäste sind bloß gekommen.
Was für ein Unterschied! Als Danny und sein Bruder Vincent Cavanagh zuletzt im Juli eine deutsche Bühne betraten, war es drei Uhr nachts. Die Briten grinsten breit, obwohl die Situation schwierig schien: Nach drei Tagen Festival sollten ANATHEMA als letzte Band auf dem With-Full-Force-Open-Air in der Nähe von Leipzig spielen, bekannt als härtester Acker Ostdeutschlands. Denn nicht nur die Uhrzeit, auch die Musik von ANATHEMA machten das in der Theorie nicht leicht - haben sich die Engländer doch schon vor Jahren vom düster-schweren Doom-Sound ihrer Anfangstage hin zu atmosphärischem Alternativ-Rock verabschiedet. Und bekanntlich gilt solches in der Metal-Szene leider schnell als Verrat an Grundsätzen. Umso erfreulicher für die fünf Liverpooler und ihre Gastsängerin Lee Douglas, dass sie beim Full Force dennoch gefeiert wurden wie Könige. Im Waschhaus haben sie trotz der wenigen Gäste ähnliches Glück und das Können auf ihrer Seite.
Denn das Publikum in Potsdam zeigt sich offen für experimentelles Spiel und Emotionalität, lässt sich mitreißen von akustischen Sphären, an denen auch schon PINK FLOYD ihren Spaß hatten - 'Closer' ist da ein schönes Beispiel. Melancholie gibt es ebenso im Überfluss, 'Lost Control', aber auch kraftvolle Passagen wie anschließend 'Deep' oder später das sich beinahe überschlagende 'Panic'. Es ist eine Reise durch die Geschichte der Engländer, die einst als reine Doom-Death-Metal-Band starteten. Dies ist die einzige Phase, die im Waschhaus kaum angespielt wird. Die Zeit ab "Alternative 4" steht im Mittelpunkt: mehr Melodien, mehr Keyboards, mehr Experimente. Und eine Stimme, die so klar und ergreifend klagt, dass ständig neue Gänsehäute wachsen wollen.
Zwischen diesen Momenten akustischer Größe präsentiert sich die Band locker und gelöst, scherzen Danny und Vincent über den ihnen wohlbekannten Unterschied von "Das Wasser" und "Das Bier". Und während der Musik zelebrieren sie ihre Musik wie eh und je: mit viel Herzblut, mit ausladenden und dramatischen Gesten - und Vincent wie immer in seiner engen Bündchen-Lederjacke samt schmaler Jeans-Hose. Die Mode an ihm ist noch die von früher, so sehr sich die Musik seiner Band auch verändert hat. Für solche Geschmacksfragen bleibt freilich wenig Zeit, weil solche großartigen Stücke wie 'Hope', 'Flying' oder 'Judgement' völlig die Aufmerksamkeit fesseln. Zwei Stunden vergehen so, 'One Last Goodbye' und 'Fragile Dreams' voller Offenbarungen sind in diesen zu kurzen 120 Minuten zu vernehmen - bis leider das Oberlicht angeschaltet wird. Das Publikum ist paralysiert und begeistert. Und mit einem Scherz muss Vincent Cavanagh manche wieder in den tristen Alltag zurückrufen: "That's the sound when the tekkno disco starts ..."
- Redakteur:
- Henri Kramer