AYREON: Live Beneath The Waves - Tilburg, NL
06.10.2023 | 14:1916.09.2023, 013 Poppodium
Eine "Once In A Lifetime Experience"
Ich glaube, jeder von uns hat diese Live-Momente, die man aus diversen Gründen leider verpasst hat und sich dafür sein Leben lang in den Allerwertesten beißen wird. Bei mir gehört zu den Top drei der verpassten Möglichkeiten sicherlich die einmalige Live-Variante von "The Human Equation" – immerhin eine meiner unbestrittenen Insel-Platten. Ich Narr vermutete hinter der Album-Adaption tatsächlich mehr Theaterstück als Konzert und wurde mit der später veröffentlichten DVD "The Theater Equation" eines Besseren belehrt. Seitdem stand fest, dass mir das im AYREON-Kontext nicht wieder passieren wird. Somit war ich selbstverständlich im September 2017 in Tilburg am Start und feierte eine Live-Premiere nach der nächsten ab. Unter dem Banner AYREON Universe gab es ein Best-Of Programm der Extraklasse von Songs, von denen niemand auch nur im Ansatz geglaubt hätte, sie mal live hören zu können. Mit unzähligen Instrumentalisten und bis zu 16 Sängern und Sängerinnen entstand ein Manifest für die Ewigkeit. Selbst Arjen Lucassen himself konnte sich für zwei Songs durchringen und trat trotz bekannter Panik vor das ekstatische Publikum.
Dass die Fans nach den drei ausverkauften Konzerten scharf auf mehr waren, versteht sich von selbst, aber auch der Meister hatte offenbar Blut geleckt. Anders ist es nicht zu erklärten, dass es bereits 2019 mit der Live-Aufführung des "Into The Electric Castle"-Meilensteins in Form von vier Konzerten Nachschub gab. Und natürlich war auch ich wieder in Tilburg dabei und durfte erneut einen Konzertabend der puren Perfektion erleben.
Da Arjen somit den beiden offensichtlichen Meisterwerken ihre Momente geschenkt hatte und der Rest durch die umfangreichen Best-Of Auftritte auch zelebriert wurde, wäre es nicht überraschend gewesen, wenn das Thema AYREON und Live-Auftritte nun der Vergangenheit angehört. Aber Pustekuchen. Ich jedenfalls staunte nicht schlecht, als die Ankündigung für "Live Beneath The Waves", was ja eine Komplettaufführung von "01011001" bedeutete, durch das Internet geisterte. Das 2008 veröffentlichte Doppelalbum ist aber eine fast schon plausible Wahl für den nächsten Event, da es ein heimlicher Fanfavorit ist und insbesondere die etwas metallischere Variante der Band herauskitzelt.
Also gut – alle guten Dinge sind drei und es geht wieder nach Tilburg, ins Wohnzimmer von AYREON, dem 013 Poppodium. Diesmal wird die Anzahl an Aufritten zwar sogar auf fünf aufgestockt, doch auch diese sind innerhalb von ein paar Minuten ausverkauft. Ich jedenfalls darf am Samstag zu der sogenannten Matinee-Show, also einer Show, welche gegen 13:30 Uhr beginnt und dementsprechend um ca. 16:00 Uhr wieder enden soll. Dieselbe Mannschaft muss dann abends das gleiche Konzert nochmal in dem regulären Slot spielen. Aus wirtschaftlicher Sicht ist diese Form der Auslastung natürlich wunderbar, doch der Musikfan fragt sich zu Recht, ob insbesondere das Gesangsensemble, nicht doch etwas mit Halbgas performt, um die Körner für abends noch in der Tasche zu haben. Auf der anderen Seite könnte man aber auch gerade im Instrumentalbereich zugutehalten, dass man sich so natürlich noch deutlich tighter eingrooven kann. Spoiler-Alarm vorab – ich merke bei keinem der Künstler qualitative Schwankungen zu regulären Konzerten.
Bevor ich aber auf das Konzert selbst eingehe, muss ich zwingend noch ein paar Worte zum Rahmenprogram sagen, denn Arjen und seine Crew fahren das volle Programm. Vom mittlerweile obligatorischen Pop-Up-Store, eigenen für den Anlass gebrauten Bieren (zur Qualität kann ich noch nichts sagen, da die Dosen noch ungeöffnet sind), Kunstausstellungen und einem Camping Ground vor Ort, gibt es alles, was das Fanherz begehrt. Hinzu kommt, dass jeden Morgen im Pop-up Store noch Gratis-Akustikkonzerte von den einzelnen Teilnehmern (z.B. Damian Wilson oder Wudstik) stattfinden. In meinem Fall soll Micheal Mills auftreten (TOEHIDER), aber ich lasse lieber den Fans den Vortritt, denn bei einer solchen Gratisveranstaltung platzt der Pop-Up-Store aus allen Nähten und viele Besucher gehen traurigerweise leer aus. Da muss sich nicht noch ein Onlineredakteur vordrängeln. Da viele für dieses Event auch aus Übersee angereist sind, sieht man in der Schlange auch viele enttäuschte Gesichter aus Australien oder südamerikanischen Ländern. Das ist insbesondere bitter da es sich teilweise um Menschen handelt die ebenfalls Karten für die Matinee-Show haben und somit extra auf einen guten Stehplatz bei der Hauptshow verzichtet haben, da sich auch dort schon eine gigantische Schlange vor dem Haupteingang gebildet hat. Dort stehen die ersten Hardliner nämlich schon seit 8:00 Uhr in der Früh und warten auf Einlass. Ja, die Ayreonauts sind mehr als nur heiß auf die Veranstaltung. Die kleinen Gigs sind auch nicht die einzigen zusätzlichen Live-Auftritte im Rahmen dieser AYREON-Festspiele. Ebenfalls besuchen einige Künstler den Campingground und geben dort kleine Auftritte. Besonders der Auftritt von Marcela Bovio (STREAM OF PASSION) sorgt für große Begeisterung, da sie im Rahmen der "Live Beneath The Waves"-Aufführung eher eine kleinere Rolle bei den Backing-Vocals bekleidet. Aber glaubt mal nicht, das war es mit dem Rahmenprogramm. Als absolutes Highlight erweist sich die AYREON-Stadtkarte, welche ein Gutscheinheft beinhaltet und in Zusammenarbeit mit der Stadt Tilburg und vielen Einzelhändlern des Ortes entstanden ist. Da gibt es im Burgerladen plötzlich AYREON-Menüs oder man bekommt in einem Modegeschäft plötzlich einen limitierten und nur dort erhältlicher AYREON-Beutel. Das hat zur Folge, dass es für Besucher kaum Leerlauf gibt, egal wie früh sie anreisen, oder sie bleiben halt deutlich länger als es normalerweise der Fall ist. Wie kleine Ameisen wuseln die Besucher durch den Ort und man sieht an jeder Straßenecke Fans mit der Karte in der Hand oder solche, welche es sich gerade in einem Straßencafe gutgehen lassen. Echt ein tolles Gimmick. Zwar kenne ich natürlich keine offiziellen Zahlen, aber es müsste schon mit dem Teufel zugehen, wenn das kein großer Erfolg für die Stadt wird. Ich muss schon sagen, dass sich das Gesamtkonzept nicht hinter Giganten wie METALLICAS "72 Seasons"- Rahmenprogramm in Hamburg verstecken muss und eher mit noch vielen kleinen Details punktet.
Aber wie sagt man so schön, "was zählt ist auf dem Platz" und hier geht es um die Musik. Somit hört man sogar kleine "Jubelarjen", als um 12:00 Uhr endlich das 013 die Tore öffnet und die Fans in die Halle strömen. Gerade für die ersten Gäste heißt es jetzt nochmal Geduld aufbringen, da die Show selbst erst um 13:30 Uhr beginnt und es keinerlei Support-Acts gibt. Stattdessen gibt es passenderweise Meeresrauschen zu hören, die Halle ist in ein tiefes Blau getaucht und auf dem Bühnenvorhang werden abwechselnde Binär-Codes projiziert. Kurz vor dem Beginn startet dann Michael nochmal dem Publikum einen Besuch ab und spricht nochmal das "No Pictures"-Konzept an. Heute herrscht nämlich ein absolutes Foto-Verbot und ich muss gestehen, ich habe noch nie sich so viele Menschen dranhalten sehen. Es geht ja doch, möchte man rufen. Natürlich wissen alle Beteiligten, dass es im Nachgang auch von diesem Wochenende wieder eine ziemlich fette Blu-ray-Auswertung geben wird. Da ich mich selbstverständlich auch drangehalten habe, möchte ich mich an dieser Stelle noch für die zur Verfügung gestellten Fotos von Bert Treep bedanken. So ganz ohne Fotos wirkt so ein Bericht dann doch etwas mau.
Und dann geht es endlich los. Und Surprise, Surprise, mit 'Age Of Shadows/We Are Forever'. Das ist zwar von der Dramaturgie nicht so richtig spannend aber was nun folgt ist natürlich das komplette Album "01011001" am Stück. Somit gibt es auf den ersten Blick bis zum letzten Ton von "The Sixth Extinction" keine Überraschungen. Es gibt auch keine Reprise-Sektionen, wie von "The Theater Equation" bekannt, sondern AYREON bleibt bei einer werksgetreuen inhaltlichen Wiedergabe des Konzepts. Bevor man jetzt denken kann, dass es somit eher semi-aufregend ist, gebe ich direkt mal Entwarnung. Wie bisher üblich, haben Arjen und vor allem sein Mann für die Live-Umsetzung, Joost van den Broek, die Songs auf die entsprechende Situation angepasst und umarrangiert. Es gibt andere Übergänge, angepasste, längere musikalische Passagen und natürlich auch Solos, welche bisher so nicht beinhaltet waren oder nun von anderen Instrumenten umgesetzt werden. Und ja, es ist wieder geil geworden - was hier an der Instrumentalfront abgefeuert wird, ist aller Ehren wert.
Aber man darf es Fans natürlich nicht verübeln, wenn deren Fokus insbesondere auf den Sängern und Sängerinnen liegt und dort die Abweichungen am prägnantesten wirken. Da der Cast viele Originalteilnehmer berücksichtigt, bekleiden auch hier fast alle Teilnehmer die bekannten Rollen. Da der Teilnehmerkreis aber schon vorab veröffentlicht wurde, wusste man, dass zum Beispiel die Rollen von JORN LANDE oder Steve Lee (GOTTHARD) neubesetzt werden mussten. Hier gibt es auch keine 100%-gen 1:1 Wechsel, sondern die Parts werden von unterschiedlichen Stimmen übernommen. Wenn zum Beispiel ein Damian Wilson die Rolle von Jorn Lande übernimmt, dann verändert es die Stimmung eines Songs durchaus schon nachhaltig. Sehr interessant. Ein kleines frühes Highlight ist dann sicherlich 'Connect The Dots', wo Arjen in die Figur von Ty Tabor (KING'S X) springt und direkt mal zeigt, wie souverän er mittlerweile auf der Bühne agiert. Sehr stark. Aber es gibt sogar einige Momente wo die Gesangsrollen, obwohl die Personen vor Ort sind, neu verteilt werden. Als Beispiel sei einfach mal 'Comatose' genannt. Das mag auf den ersten Blick irritieren, macht erzählerisch aber durchaus Sinn und berücksichtigt auch den Faktor, dass ein solcher Song auch bereits im Rahmen der AYREON UNIVERSE-Veranstaltung performt wurde. Dann hat man später zwei Liveversion des gleichen Songs, welche sich nicht in die Quere kommen. Ich könnte jetzt jeden einzelnen Song analysieren, möchte aber niemanden die Vorfreude und Überraschung auf die DVD-Auswertung nehmen. Wenn ihr Fans des Projekts oder sogar des Studioalbums seid, dann ist diese Investition eine Pflichtanschaffung für euch. Einzig Jonas Renkse, Tom Englund und Brittney Slayes als Floor Jansen-Ersatz muss ich separat erwähnen, da alle drei wirklich outstanding unterwegs waren und mich nachhaltig geflasht haben. Insbesondere wenn im Finale, analog der Studioversion, der Bombast durch die Decke knallt und die Bühne so voll wird, dass man einfach nicht mehr weiß, worauf man sich konzentrieren soll, muss man konstatieren: Es war einfach wieder Weltklasse.
Bei aller Begeisterung gibt es aber auch ein kleines Haar in der Suppe. Und das betrifft die Zugaben. Hier gibt es dieses Jahr nämlich nur drei an der Zahl. Klar ist die Live-Premiere von 'The Day That The World Breaks Down' ein echtes Highlight und punktet neben den wahnwitzigen Prog-Abfahrten vor allem auch mit einer Länge von fast 13 Minuten. Aber die anderen beiden Vertreter können die Stimmung des Hauptteils nicht mal ansatzweise aufrechterhalten. 'This Human Equation' gibt Simone Simons nochmal den erwartbaren Solo-Moment, ist aber nur ein guter Song eines schwachen Albums ("Transitus") und das STAR ONE Cover 'Fate Of Man' wirkt geradezu deplatziert. Ich verstehe den Ansatz, dass man nochmal drei Live-Premieren umsetzen möchte, muss aber gestehen, dass es im Zugabenblock gerne auch mal ein Hit werden darf, denn man schonmal gehört hat. Auch hier hätte man durch ein Stimmenkarussell nochmal für Abwechselung sorgen können. Aber das ist wirklich nur Kritik, der Kritik wegen und beinahe schon vernachlässigungswert. In Summe war es wirklich wieder ein fantastischer Live-Abend…ähm Nachmittag. Auch wenn ich die bisherigen Auftritte aufgrund des Songmaterials noch etwas stärker fand, bin ich mit einer der ersten, welcher sich wieder ein Ticket besorgt, wenn AYREON erneut ruft. Dafür spielt AYREON mittlerweile einfach zu sehr in seiner eigenen Liga.
Setliste: Age Of Shadows/We Are Forever; Comatose; Liquid Eternity; Connect The Dot; Beneath The Waves; Newborn Race; Ride The Comet; Web Of Lies; The Fifth Extinction; Waking Dreams; The Truth Is In Here; Unnatural Selection; River Of Time, E=MC²; The Sixth Extinction; Zugabe: This Human Equation; Fate Of Man; The Day That The World Breaks Down
Fotos: Bert Treep
- Redakteur:
- Stefan Rosenthal