Amphi Festival 2015 - Köln

29.09.2015 | 19:04

25.07.2015, Lanxess Arena

Für alle Freunde der düster-elektronischen Musik ein unbedingtes Muss.

Herzlich Willkommen in Köln zum 11. Amphi Festival. Vom 25. bis 26. Juli versammeln sich hier die Größen der internationalen Elektro-Szene. Tausende Fans der schwarz-bunten Musik sind von Nah und Fern angereist, um zwei sonnige Tage in der Lanxess Arena zu verbringen. Doch von Sonne weit und breit keine Spur.

Stattdessen eine Sturmwarnung für das Rheinland und ein daraus resultierendes Verbot von Open-Air-Veranstaltungen. Zum Glück betrifft dies nur die beiden Außenbühnen des Festivals, denn in der Lanxess Arena können die Bands auftreten. Allerdings nicht ganz wie geplant, denn die Veranstalter versuchen, so viele Bands wie möglich in die Halle und auf den Sonntag zu verlegen, wenn das Außengelände wieder geöffnet werden soll. Dies führt zu teilweise großen Überschneidungen von Bands, die ich eigentlich alle eingeplant hatte zu sehen. Ebenfalls fallen einige Bands aus, was zahlreiche enttäuschte Fans und Musiker zur Folge hat. Überraschend sind auch einige Spielzeiten, denn CENTHRON steht auf der Bühne, bevor das Festival überhaupt offiziell anfängt. Es folgt nun ein etwas konfuser Bericht, immer wieder renne ich von A nach B und zurück zu A, um hier den Anfang, da die Mitte und dort den Schluss mitzubekommen. Eine sich ständig ändernde Running Order führt dazu, dass ich dann doch unabsichtlich den einen oder anderen Act verpasse. Und am Ende weiß ich nicht mal wirklich, ob ich die Band nur verpasst habe oder ob sie einfach ausgefallen ist. Auch wenn viele Besucher, die CENTHRON verpasst haben, sehr sauer waren und die neue Spielzeit weder durch die sozialen Medien des Festivals noch auf der Homepage kurzfristig bekannt gegeben wurde, so haben die Veranstalter unter den gegebenen Umständen sehr effektiv und nach deren Möglichkeiten gehandelt.

Nur durch einen glücklichen Umstand bin ich dann am Samstag rechtzeitig vor Ort, um CENTHRON live erleben zu können. Das Glück hatten nicht viele und so spielen die Bremer vor nur wenigen Zuschauern. Dafür rockt diese kleine, aber feine Party ganz gewaltig. Die Liederauswahl ist großartig und die Band ist so gut gelaunt, wie ich sie selten erlebt habe. Der Bühnenaufbau ist ebenso spartanisch wie bei den letzten Konzerten. Zwei Ständer mit Werwolfsmasken säumen ein Keyboard. Viel ansehnlicher ist aber Anette, die ganz in Latex gehüllt hinter dem Keyboard für Stimmung sorgt. Der Höhepunkt bei dieser Live Perfomance ist für mich, wie jedes Mal auch, 'Cunt' mit dem live gesprochenen: " Beiß mich, *** mich, *** mich zärtlich, mach schon ***! *** mich fertig." Leider ist diese unerwartet frühe Party viel zu schnell wieder vorbei und ein wenig wehleidig freue ich mich auf das nächste Mal. Da ich nicht zum Außengelände rennen muss, kann ich ganz entspannt die Umbaupause vor der Bühne verbringen.

Als nächstes folgt nun SCHÖNGEIST. Musikalisch wird es nun viel ruhiger, regelrecht gotisch. Melodisch und voll tönend schwebt Timurs Stimme durch den Raum. Die Band tritt optisch einheitlich in gut gepflegter, schwarzer Kleidung auf. Die Melodien liegen irgendwo zwischen WOLFSHEIM und L'AME IMMORTELLE mit Herzschmerz-Texten für junge Mädchen. Musikalische Abwechslung verspricht die Geige, welche live auf der Bühne gespielt wird und nicht aus der Konserve kommt. Das verdient meine Achtung, denn die junge Dame macht das sehr souverän vor einem ganz und gar heterogenen Publikum. Während sich Herr Karakus seiner Musik sehr introvertiert mit geschlossenen Augen hingibt, findet einige Meter weiter eine ganz andere Party statt: Bassist Andreas zeigt, dass Headbangen und Gothic sich nicht unbedingt ausschließen müssen und powert sich die gesamte Länge der Show intensiv tänzerisch auf der Bühne aus. Da macht es gleich doppelt so viel Spaß, den Münchnern beim Musizieren zuzuschauen. Die Ansage allerdings, dass beim nächsten Song kein Stein mehr auf dem anderen bleiben wird, finde ich dann etwas gewagt. Die wenigen KREATOR-Shirt-tragenden Menschen um mich herum freuen sich wahrscheinlich schon darauf, die Lanxess Arena zerlegen zu dürfen und rüsten sich für den Mosh-Pit ihres Lebens. Allerdings dürften sie darauf heute noch warten. Es sind halt doch zwei verschiedene Maßstäbe, mit denen man hier messen muss. Mehr als hüpfen ist nicht und auch ein etwaiges Aggressionspotential ist nicht messbar.

Nach dem Auftritt betritt "Der Tod" die Bühne, um uns als Jörg Kachelmann das mit der Sturmwarnung und den ganzen Programmänderungen zu erklären. Aber auch die lustige Vortragsweise ändert nichts an der traurigen Tatsache, dass nicht alle Bands wie geplant auftreten können.

Nachdem "Der Tod" sich verabschiedet hat, betritt CHROM die Bühne und liefert einen soliden Mix irgendwo zwischen PROJECT PITCHFORK und VNV NATION ab. Das Duo wirkt motiviert und die Lieder sind dank leicht orientalischer Einflüsse abwechslungsreich und unterhaltsam. Mittlerweile ist der Saal halb voll und die Stimmung ist gut. Der Bass ist allerdings extrem gut. Generell habe ich die Erfahrung gemacht, dass der Sound in der Lanxess Arena immer spitzenmäßig ist. Das lässt für die Morgen noch auftretende Band PATENBRIGADE:WOLFF noch Großes hoffen. Aber dazu später mehr.

Erstmal gibt es jetzt RABIA SORDA. Das Soloprojekt des HOCICO-Sängers Erik Garcia kommt etwas punkiger und verspielter daher als die mexikanische Ursprungsband. In Anbetracht der teils heftigen Texte und der Ernsthaftigkeit der behandelten Themen fällt die "Gute-Laune-Punk-Musik" streckenweise sehr schwer. Auch wenn die Beats zum Mittanzen einladen und Garcia auf der Bühne selbst einige Kilometer zurücklegt, so ist ein großer Teil der Menge eher mit stillem Zuhören beschäftigt. Die Klassiker 'Deaf' und 'Out Of Control' fehlen natürlich nicht und hier kommt dann auch eine verhaltene Tanzperformance zustande. Als Ausklang gibt es denn noch das ruhige und besinnliche 'Hotel Suicide'. Nach diesem leichten Elektro-Pop-Ausklang folgt dann etwas gänzlich Anderes.

Nach einer kurzen Umbaupause geht es mit THE OTHER weiter. Gruselig verkleidete Gestalten betreten gut gelaunt die Bühne, welche sich optisch dem Horror-Szenario angepasst hat. Und dann ertönt etwas, was man auf dem Amphi wohl eher selten hört: Fette Gitarren-Riffs. Und dann diese Stimme, clean und melodisch, wie aus dem Powermetal-Himmel. DIE ÄRZTE meets AVANTASIA. Kein Wunder, dass viele Menschen um mich herum nun still und mit aufgerissenem Mund die Rheinländer anstarren. Zu ausgefallen wirkt das Ganze denn doch, einzig eine kleine Gruppe fröhlich hippiemäßiger Alternativer hat sich zum gemütlichen Rumhüpfen, Pogen und Headbangen zusammengefunden. Da falle ich doch gleich mal mit ein und fühle mich tänzerisch in einer anderen Dimension. "Einige hatten wohl was anderes erwartet", witzelt Sänger Rod. Chöre zum Mitsingen, Drums, die an HAMMERFALL erinnern und ein Elan und eine Freude, die keinem Punk-Konzert in irgendwas nachstehen: All das macht THE OTHER für mich zum Überraschungshit des Festivals. Die Fans, die die ganze Show  bleiben, freunden sich nach und nach mit der charmanten Art der musikalischen Außenseiter an und werden langsam etwas tanzfreudiger und enthemmter. Es gibt den ersten Crowd-Surfer des Tages. Herzlichen Glückwunsch. Es wird auch lange Zeit der einzige bleiben. Dass THE OTHER sehr vielfältig ist, zeigt sich, als es plötzlich seeeehr doomig wird. Das hätte ich nun nicht erwartet, aber es ist großartig. Zur allgemeinen Freude gibt es dann Luftballons mit Eingeweide-Motiven. Leider ist die Zeit viel zu kurz und auch dieses Konzert muss ein Ende finden. Ein bisschen betrübt und unter den immer noch ungläubigen Blicken meiner Truppe hüpfe ich zum Kuchenstand.

Gesättigt und glücklich geht es nun zu THE CRÜXSHADOWS. Wer die 90er nicht im Winterschlaf sondern in einer gut sortierten Diskothek verbracht hat, wird zumindest ein, zwei Lieder kennen. Die Bühne wird voll: Eine so großartige Band braucht auch etwas mehr Raum: Suzy und Brittney als Tänzerinnen, Jessica an den Percussions, David und Johanna an den beiden Violinen, Mike an der Gitarre, Jen am Keyboard und natürlich Sänger Rogue sind unglaublich gut eingespielt. Auch wenn anfangs der Gesang noch etwas zu laut eingestellt ist, ist diese Combo live einfach eine Wucht. Die Stimmung wird nostalgisch und das Publikum etwas älter. Von romantischen Balladen bis hin zu härteren Synthie-Klängen ist für jeden Geschmack etwas dabei. Der Sound erholt sich langsam wieder und die Halle wird immer voller, da jeder die Amerikaner einmal live sehen möchte, auch wenn diese eher in der europäischen statt der amerikanischen Szene berühmt sind. Ich jedenfalls genieße mein erstes Live-Erlebnis mit THE CRÜXSHADOWS ganz gewaltig. Natürlich kann ich mich nicht beherrschen, ein wenig zu tanzen. Aber zum Rumstehen bin ich ja auch nicht hier. Aber ganz offen gestanden warte ich nur auf ein Lied: 'Deception'. Das Lied, was ich in meiner Jugend sooft gehört habe, Herzschmerz pur. Sanfte Klänge zu noch sanfterer Stimme. Liebliche Violinen zu milde gestimmten Percussions und doch kräftig und nachdrücklich wie eine nicht enden wollende Aufforderung zu tanzen. Und mit großem Wehmut tue ich genau das: Ich singe inbrünstig den Text mit, während ich auf meinem kleinen Flecken Hallenboden hin und her schwebe. Hach, das Lied könnte von mir aus eine halbe Stunde lang sein. Ist es aber leider nicht und so werde ich irgendwann wieder in die Arena zurückgeholt.

XR-X

Die Spannung steigt, denn nun sind die Elektro-Helden X-RX an der Reihe. Von sanftem Dahinschweben zu Höchstform in zwei Sekunden. Und was dann kommt, kann man leider keinem Beschreiben, der nicht dabei war. Ich versuche es doch mal irgendwie: Wir bekommen vier (in Zahlen: 4) Lieder. Dank des Sturmes hat X-RX nur 20 Minuten. Und es zählt jetzt alles! Tausende Fans vor der Bühne, bis zur Hallenhälfte am Mischpult ein gewohntes Bild. Menschen stehen dicht gedrängt und schauen auf die Combo. Die Menge ist einheitlich schwarz gekleidet und wiegt ganz sanft von links nach rechts und wieder zurück. Und dann der hintere Teil der Halle: Hunderte, wenn nicht Tausende quietsch-bunt gekleidete Cyber und Cybergothics, Jumpstyler, Hardstyler und alle, die tanzen wollen, eher gesagt: Tanzen müssen. Ich kenne fast alle Lieder und egal was kommt, ich bin vorbereitet. Die Tanzchoreo wurde schon zig mal in der Disco und zu Hause geübt. Ich habe einen guten Platz, mitten bei meiner Gruppe, mitten in der Halle. Um mich herum viele bekannte Tänzer und Tänzerinnen. Die Stimmung steigt. Arme und Beine nochmal kurz lockern, konzentrieren, Augen schließen und auf den ersten Ton warten. Drei Sekunden Intro, dann die ersten tanzbaren Fieps-Töne. Weitere 20 Sekunden, dann fängt der Text an und der eigentliche Tanzpart. Es ist perfekt. Alles läuft synchron, man sieht nur noch tanzende Menschen. Kurze sanfte Verschnaufpausen im Lied, als der Bass ruht und dem Synthesizer die Vorherrschaft überlässt. Sofort geht es aber mit 200% Kraft wieder los. Die Stimmung ist einfach unbeschreiblich und obwohl ich schon nach drei Minuten völlig verausgabt bin, kann ich nicht aufhören. "Welcome to Stage two..." sagt eine liebliche, gesampelte Frauenstimme so in die Halle. Wieder 20 Sekunden Zeit, seinen Neuronen zu sagen, was gleich passieren wird: Mehr Sport als Tanzen und nur kurze Erholungsphasen von maximal vier Sekunden. Keiner wagt zu sprechen, alle sind damit beschäftigt, die zwanzig Minuten zu den krassesten Tanzminuten ihres Lebens zu machen. Und so bekomme ich kaum mit, dass 'Hard Bass Hard Soundz' läuft. Mit 'A to A and D to D' als letztes Lied geht es dann etwas ruhiger (das ist nun relativ zu sehen) zu. Was auch immer FADERHEAD selber mit der Aussage "Wenn du beim Tanzen noch nie Gott g***t hast, dann hast du noch nie getanzt" verbindet, so habe ich es für mich in dieser Nacht herausgefunden. Sprachlos und auf allen Endorphinen, die es so gibt, ist der letzte Ton der Show wie ein kalter Entzug. Droge weg, aus und vorbei und auf Monate kein Nachschub.

DAF

Da ja heute alles auf einer Bühne stattfindet, nutze ich die Chance, mich ein wenig auszuruhen und die nun folgende Show der Wuppertaler DAF etwas ruhiger angehen zu lassen. Ein guter Vorsatz, der nicht lange währt. Seit nun fast 40 Jahren sind die Wegbereiter des Electro-Punk, teilweise mit Electronic-Body-Music, aber auch teilweise mit der Neuen-Deutschen-Welle in Verbindung gebracht, in der ganzen Welt unterwegs. Ihre Texte sind provokativ, aber regen dadurch auch zum Nachdenken an. Die Jungs bieten auf der Bühne eine sympathische Show, bei der viele Kilometer an Tanzbewegungen zusammenkommen. Auch die Fans vor der Bühne, die hier wohl ihren höchsten Altersdurchschnitt des Festivals erreicht haben, kommen in Schwung. Ein Marsch-Pit der ganz großen Art entsteht. Für wen das Bild neu ist: Viele schwarz-weiß gekleidete Gestalten, teilweise in Uniformen bzw. Kostüm, marschieren zackig vor der Bühne im Takt auf und ab. Dabei rempeln sie sich erstaunlich wenig an, obwohl schon mal dezent der Ellbogen zur Hilfe genommen wird, um sich Platz zu verschaffen. Wenn es auch martialisch aussieht, so verraten doch die Gesichter, dass es sich um eine freundschaftliche Invasion des gegnerischen Tanzbereiches handelt. Alle großen Kunstwerke, die DAF seit Ende der 70er geschrieben hat, werden dargebracht: 'Verschwende deine Jugend', Der Mussolini' und natürlich 'Alle gegen Alle'. Einzig die neu eingekleidete Version von 'Der Sheriff' klingt etwas ungewohnt. Aber dafür bin ich ja hier live dabei. Die CD-Version kann ich zu Hause und in der Disco so oft hören, wie ich will. Es sollte auch nicht die letzte Neu-Interpretation eines berühmten Liedes auf diesem Festival sein. Es sei nur soviel gesagt, dass DAS ICH da später für einige Überraschung sorgen wird. Auch wenn es zwischendurch ein wenig dadaistisch anmutet, so ist DAF als Gesamtkunstwerk eine feste Institution in der Szene. Die Lieder haben großartige Pionierarbeit auf dem Gebiet des Electro-Punk geleistet und live-Darbietungen sind immer eine charismatisch und enthusiastisch gespielte Erfahrung, ohne dass es gezwungen wirkt. Da merken die Fans den Urgeist des Punk, der über allem wacht.

AGONOIZE

Ganz unpunkig kommt dann AGONOIZE daher. Hier sind Arroganz, Blut und Aggressionen in knackige Lieder und ekelerregende Shows gepackt. Blut, Blut und noch mehr Blut werden in den ersten Reihen verspritzt. Hab ich schon das ganze Blut erwähnt? Für die Novizen des Fan-Clubs gibt es keine größere Belohnung, als mit dem Mix aus synthetischem Blut und Sperma benetzt zu werden. Das pathetische Intro wird dazu genutzt, die beiden Synthesizer und das Mikrophon zu besetzen. Sobald die Berliner in Position sind, ertönen auch schon die ersten klaren elektronischen Klänge von 'Glaubenskrieger'. Ein wenig verloren auf der doch sehr großen Bühne wandert Chris ziellos umher, während er in sein Mikro brüllt. Nicht umsonst heißt es ja "Aggrotech" oder manchmal auch "Hellelectro". Ich bin mir sicher, dass der Fürst der Finsternis sich ob eines solchen Krachs in seinem flammenden Wohnzimmer gehörig erschrecken würde. Aber um den geht es hier nicht, sondern um die überwältigende Fan-Menge, die begeistert "*** mich" brüllt. Ja, es ist Zeit für 'Koprolalie' und das Publikum rastet aus. Der Rest der Show ist eine routinierte Abfolge von grenzwertig ästhetischen Körpersekret-Attacken, einem emotionsbeschränkten Protagonisten und grimmig-militanten Gesangseinlagen. Textlich ist das Trio bei manchen Liedern ja eher auf Sex und Gewalt beschränkt und so kommt auch diese Setlist sehr klassisch daher. Bei 'Femme Fatale' fühlen sich dann auch alle beschwingt, den sehr nicht jugendfreien Text laut mit zu singen. Diese Wörter darf man ja da draußen nicht so einfach benutzen. Aber hier so unter sich, da ist das etwas anderes. Und jetzt alle zusammen: "*** *** ***".

GOETHES ERBEN

Und dann steht der krasseste musikalische Wechsel des Abends an. Wenn es eine Band auf diesem Planeten gibt, die den Begriff der Kunst in der Musik etabliert hat und gleichzeitig das Prädikat "tiefsinnig" führen darf, dann spreche ich natürlich vom lyrisch gewandten Großmeister Herrn Henke und seinem Projekt GOETHES ERBEN. Als ich Mitte der 90er das erste Mal ein Stück von ihm hörte, war ich sofort angetan. Das war etwas abseits des Mainstreams und hatte genau deswegen so viel Potential, die Gedanken der Zuhörer zu verändern. Philosophisch anspruchsvolle Botschaften begleitet von stilvoller, klassischer, aber gleichzeitig dezenter musikalischer Begleitung entführten mich in fremde Reiche. Auch 20 Jahre später hat die Kraft der atmosphärischen Musik absolut nichts eingebüßt. Es ist mein erster Besuch eines GOETHES ERBEN Konzertes und nach so langem Warten, live bei diesem Ereignis dabei sein zu können, zaubert schon die Pause eine Gänsehaut auf meine Arme und kann nicht still stehen bleiben. Gehe ich nach vorne und sehe es mir aus der Nähe an? Oder bleibe ich hinten stehen und genieße es im Stillen für mich? Bevor ich diese Frage allerdings klären kann, betritt das Ensemble aus Musikern und Tänzern die Bühne, welche liebevoll und mit großer Sorgfalt dekoriert wurde. Nichts steht dort ohne Grund und alle Skulpturen werden ihre Rolle spielen. Ein riesengroßes Lob geht an die Unterstützenden der Live-Performance, wie den Streicherinnen, Musikern, Tänzerinnen und Tänzern, die durch eine überzeugende, ergreifende und bewegende Darbietung die Aufführung sehr bereichern. Herr Henke bietet eine schonungslose und ungeschützte Einsicht in seine Seele, indem er die Lieder per Gestik und tänzerischen Bewegungen untermalt. Zwanzig Jahre habe ich darauf gewartet und schon beim zweiten Lied 'Nichts bleibt wie es war' weiß ich, dass mich diese Erfahrung nachhaltig prägen wird und ich alle nachfolgenden Konzerte nun mit anderen Augen sehen werde. Diese Spielzeit wurde zu meiner Freude nicht gekürzt:"Ich darf 60 Minuten bleiben. Und ich bleibe 60 Minuten." Das klingt sehr zuversichtlich. Bei 'Tage des Wassers' erscheint eine Dame als Engel verkleidet, welche um den Sänger herum tanzt. Die klassischen Ballett-Figuren sind eine gelungene Kontradiktion zu den abgehackten und krankhaft-verzweifelten Bewegungen des Protagonisten. Das liebliche Wesen stellt die Textzeilen des Liedes plastisch dar und gibt mir die Möglichkeit, neben meiner eigenen Textinterpretation auch eine zweite Einsicht zu bekommen. Es ist herzergreifend. Bei 'Kopfstimme' zeigt sich, dass die Verzweiflung des Sängers mit dem Fortschreiten der Performance zunimmt. Die Gesten werden flehentlicher und nachdrücklicher, die Stimme höher und kreischender und die Haltung demütiger und zerbrechlicher. Selbst Tage später, als ich nun diese Zeilen rückblickend schreibe, habe ich das Bühnenbild noch vor Augen und kann mich seiner Kraft nicht entziehen. Es ist der letzte Abschnitt meines Berichtes, den ich verfasse. Die abschließenden Worte meiner Heimfahrt sind schon längst geschrieben, aber dieser Bericht über GOETHES ERBEN fordert einfach alles von mir. Als ich über 'Mensch sein' schreiben muss, höre ich das Lied immer und immer wieder, und kann mich nicht losreißen. Mein Herz pocht und wünsche mich so sehr zurück, zurück zu der zarten Violine, die nicht nur mich berührt hat. Es betreten einheitlich weiß gekleidete Gestalten die Bühne und tanzen zu 'Ironie im Plattenbau'. Alle tanzen im Gleichschritt, der Text handelt vom Angepasstsein und wer anders ist, ist selber schuld. Die Tänzerinnen denunzieren sich per Farbe aus der Dose gegenseitig und werden aus dem Ensemble eliminiert. Zum grandiosen Abschluss besprüht Herr Henke die Übrigen mit der gleichen Farbe, signalisiert so, dass die Übrigen nun eine Gruppe gleicher Roboter sind und initiiert daraufhin eine gemeinsame Lobeshymne. Applaus und Vorhang. Ein Meisterwerk.

FRONT 242

Zum Glück gibt es erst einmal eine Pause. Ansonsten hätte ich den Übergang zu FRONT 242 nicht verkraftet. WAGNERs 'Ritt der Walküren' dröhnt zu eingespielten Kriegsvideos durch die mittlerweile rappelvolle Halle. Alarmsirenen wühlen das Szenario zusätzlich zu dem wummernden Bass und den Stimmen aus dem Video auf. Es ist hektisch, verstörend, ein bisschen wie "Apocalypse Now" auf Koks. Und es wird mir ein bisschen zu viel. Gerade, als ich erstmal etwas Abstand zwischen mich und das Ganze bringen möchte, ist das Intro jedoch vorbei. Aber dann steht auch schnell fest: FRONT 242 zeigt sich von seiner belgischen Schokoladenseite. Seit den 80ern hat sich wenig geändert. Gut, die Technik ist etwas ausgefeilter, moderner und zeitgemäßer. Aber der Geist der ersten Elektronik-Welle schwebt ungebrochen über unseren Nachbarn. In dem Maße, wie sich die Welt in den letzten Jahren gewandelt hat, hat sich auch der Stil der Musik angepasst. So sind live die vielen Facetten einer klanglichen Evolution zu bestaunen. Nur eines ist in 30 Jahren konstant geblieben: Der einzigartige Tanzstil von Jean-Luc. Die Auswahl der Lieder hält bei diesem Konzert allerdings eine kleine Überraschung bereit. Nach 'Happiness (More Angels)' kommt nicht etwa 'Headhunter', welches dann völlig im Set fehlt, sondern 'W.Y.H.I.W.Y.G', zum ersten Mal seit 1987. Ich fühle mich schlagartig so, als würde einem besonderen, geschichtlichen Ereignis beiwohnen. Etwas, von dem ich meinen Nichten und Neffen noch berichten kann. Das Publikum nimmt diese Songauswahl genauso dankbar an wie ich und feiert FRONT 242 mit einer gebührenden Tanzperformance.

So neigt sich dank Unwetter dieser Abend für mich etwas vorzeitig dem Ende zu, denn schon beim ersten AND ONE Song 'Steine sind Steine' muss ich mich um meinen Heimweg kümmern. Aber Morgen, nach einem schönen Frühstück, bin ich wieder vor Ort.

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Redakteur:
Yvonne Heines

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