Bolt Thrower - Leipzig
16.01.2006 | 09:1006.01.2006, Hellraiser
Ein Fan auf der Bühne des Hellraiser-Clubs in Leipzig. Der Typ springt, lässt sich tragen, sein Gesicht ist verzerrt vor Extase. Weitere Fans springen hinterher. Ein Riesenadrenalinkick für jeden, für nur 14 Euro. Die Tour von BOLT THROWER und Konsorten hat spätestens an diesem Punkt ihr Ziel erfüllt: Begeisterung zu erzeugen, das Lebensgefühl Death Metal wieder einmal erblühen zu lassen. Noch Tage später starten die Glückshormone ein Fest, denkt das Metal-Hirn jauchzend an diesen wahnsinnig genialen Abend: An ein Konzert, das es in dieser Güte lange nicht mehr gab und lange nicht mehr geben wird...
Doch schon vor der britischen Kampfgeschwader-Legende BOLT THROWER bebt der Hellraiser mehr als nur einmal. So viele Fans haben seine Mauern lang nicht mehr gesehen, gleich durch zwei Eingänge strömen die Gäste herein. Wer erst um neun Uhr kommt, hat Pech: Gut 300 Leute werden nach Hause geschickt, weil die Karten vergriffen sind. Die rund 1000 Leute drin können zuerst einen genialen Auftritt von NECROPHAGIST genießen. Denn zu dieser Musik moshen geht eigentlich kaum, zu komplex ist diese Art von Death Metal. So bleiben die meisten Fans auch stehen - manche mit ungläubigem Blick - und lassen die perfekte Riff-Melodie-Orgie von Muhammed Suicmez und seinen drei Mitstreitern durch ihre Synapsen rauschen. Der NECRO-Sound steht auch an diesem Abend für ästhetischen Todesblei, die Songs der Wunderscheibe "Epitaph" glänzen im druckvollem Klanggewand der Hellraiser-Technik. Und so spielen die Instrumente von NECROPHAGIST rund 30 Minuten lang gegeneinander, übereinander hinweg und doch zusammen. Spätestens nach dem "Epitaph"-Titelsong bangen die Fans in den ersten Reihen voller Inbrunst, zumindest versuchen sie ihre Haare halbwegs rhythmisch im wechselhaften Takt zu schwingen. Zwischendurch immer wieder Riesenbeifall. Die Zugabe-Rufe am Ende des Sets sind in jedem Fall gerechtfertigt, auch wenn die Band in Sachen Bühnenpräsenz und Bewegung noch viel, viel zu tun hat - zur Zeit fallen NECROPHAGIST besonders durch gekonntes Stehen im grün-roten Licht auf. Dennoch: Im Vergleich zu ihrem Gig im vergangenen Herbst in der Leipziger Moritzbastei ist alles besser, besonders der Sound.
Kurz nach dem Gig herrscht Wartezeit. Anstehen in der Schlange vorm T-Shirt-Stand. Nicht ohne Grund stehen da so viele Leute: Schon immer gibt es BOLT THROWER-Shirts eigentlich nur auf Tour und da besonders billig. Acht bis zwölf Euro kosten die Shirts, bis zu 15 Euro die Longsleeves. Die Band verkauft die Dinger noch selbst. Gitarrist Barry Thomson sammelt das Geld der Fans ein und gibt ab und an noch ein Autogramm auf ein neu erworbenes Stück BOLT THROWER-Textil. "Wenn die T-Shirts ausgehen, bekommt jede Band eine neue Lieferung", erzählt Muhammed von NECROPHAGIST, der auch bei dem Stand steht. Dass ständig Neuware kommen muss scheint nur logisch, denn angesichts des günstigen Preises stehen pausenlos neue Leute am Merchandise und kaufen ein. Überhaupt, dank des billigen Ticketpreises - BOLT THROWER verzichten schon immer auf die Hilfe geldgeiler Agenturen und halten so ihre Kartenpreise unten - scheint die Tour ein Megaerfolg zu sein. "In Hamburg waren gestern glaube ich 1600 Leute, es soll dort wohl das bestbesuchte Death-Metal-Konzert seit mehreren Jahren gewesen sein", staunt Muhammed. Und natürlich sei er sehr froh mit NECROPHAGIST auf dieser Tour dabei zu sein. Ob diese Einschätzung auch die zweite Band NIGHTRAGE teilt? Leichte Zweifel klingen bei Muhammed an: "Sie haben mit ihrem Sound einen schweren Stand, schlagen sich aber gut."
In der Tat können die Schweden das vorgelegte Niveau von NECROPHAGIST nicht ganz halten - was aber wohl auch jeder anderen Band schwer fallen dürfte. NIGHTRAGE spielen schwedisch gestylten Death Metal mit einem Schuss moderner Metalcore-Attitüde. Die Stücke wie 'Release' oder 'Being Nothing' sind schön groovy arrangiert, flott gespielt und bestechen mit einigen schönen Melodie-Ideen. Bis vor kurzer Zeit hieß der Sänger Tomas "Tompa" Lindberg, heute Jimmie Stridell: Schwund ist eben immer. Doch das Fehlen des Ex-AT THE GATES-Shouters macht nicht so viel aus. Denn der neue Mann am Mikro besitzt zwar nicht ganz die unvergleichliche Bühnenausstrahlung von Lindberg, macht seinen Job aber ebenso sauber und gut: Beim Keifen treten die Adern an seinem Glatzkopf hervor, so sehr strengt er sich an. Seine drei Mitstreiter an den Gitarren und Bass scheinen ebenfalls höchst motiviert, ständig lassen sie ihre langen Haare beim Spielen kreisen - optisch ist der Unterschied zum Gig von NECROPHAGIST enorm. Dennoch werden die Fans mit der Musik nicht so warm wie noch bei dem infernalischen Technik-Overkill zuvor, bei aller Spielfreude klingen NIGHTRAGE in so einem hochkarätigen Package einfach noch zu konventionell. Trotzdem: Genügend Beifall für ihre Leistung bekommen auch sie.
Inzwischen ist das Gedränge vor der Bühne noch größer geworden, denn saßen und standen vorher noch viele Fans in den Vorräumen des Hellraisers, strömen sie spätestens ab MALEVOLENT CREATION alle vor die Bühne. Es scheint, als sei die gesamte sächsische Death-Metal-Szene inzwischen da. So begrüßen geschätzte eintausend Leute den originalen MALEVOLENT CREATION-Sänger Brett Hoffman, der es für diese Tour geschafft hat, einmal nicht im Knast zu sitzen oder unter Drogen zu stehen. Nach solch einem warmen Empfang haben es die Florida-Boys leicht, die Massen mit ihren brachialen Stampfgeschossen weiter anzuheizen. Brutal as fuck, so lässt sich der Auftritt in drei Worte fassen. Während des tonnenschweren Todesblei-Sounds versinkt die Bühne zum ersten Mal an diesem Abend komplett im Kunstnebel, der von den Deckenleuchten zum blau-grünen Strahlen gebracht wird. Ab und an tauchen die Schemen der Musiker dahinter vor, moshend, mit konzentrierten Gesichtern. Der Sinn von so viel Nebel? Ein Schelm könnte denken, damit niemand auffällt, wie verbraucht Brett Hoffman gegen seine viel jünger wirkenden Mitmusiker aussieht. Doch die Fans scheinen die Bühnenschwaden anders aufzufassen, als eine Art Schlachtfeld, auf dem es um die Ehre des Moshens geht. Und so bangen die Reihen, etwas mehr als ein Viertel des Publikums trainiert seine Nackenmuskeln, die ersten Fans benutzen die Bühne als Absprungrampe in die tobenden Massen. Hoffman feuert sie dabei an, brüllt wie ein wütender Berserker ins Mikro, lässt die unbändige Brutalität des Sounds von MALEVOLENT CREATION noch roher und derber wirken. Doch auch hier gilt wie schon bei den beiden Bands zuvor: Zugaben gibt es nicht, die Show muss als Block für sich wirken. Im Falle der übelwollenden Kreatur klappt das wunderbar, der erzeugte Druck ist dank des brillanten Klangs im Hellraiser noch Minuten später ganz tief im Bauch spürbar.
Kurz darauf herrscht schon wieder Krieg. Und die Anführer dieses Kampfes gegen verweichlichte Nacken, die aufkommende Trunkenheit und sämtliche andere Schmerzen heißen BOLT THROWER. Karl Willetts - der wieder zu den Briten hinzugestoßene Ur-Sänger - begrüßt Leipzig mit einem Bier in der Hand und einem Grinsen in seinem vom Metalleben gezeichneten Gesicht. Wir lernen: Auch BOLT THROWER werden nicht jünger. Doch das ist egal. Denn was diese fünf Musiker nach dem klassischen Orchester-Intro auf der Bühne anstellen, ist phänomenal. Denn BOLT THROWER stehen einfach in noch dichterem Nebel als zuvor MALEVOLENT CREATION und spielen ihre ewig gleichen und unverwechselbaren Killer-Riffs. Was bei anderen Bands vielleicht langweilig und pomadig wirkt, scheint hier gerade das wesentliche Moment: Denn weil sich die Band wenig bewegt und sich fast unkenntlich im Hintergrund hält, haben die Stagediver mehr Platz - und so springen die fanatisierten Fans zu Mörderhits wie 'Mercenary', 'Powder Burns' oder 'Warmaster' in den Moshpit als wenn es keine andere Band auf dieser Welt gäbe. Die Fläche vor der Bühne versinkt so in einem unblutigen Gliedermassaker, überall Diver, überall Verrückte. Den Musikern von BOLT THROWER scheint das wenig auszumachen, mit cooler Miene spielen sie den Set herunter, im Wissen, dass sie sowieso alles spielen können - und die Fans ihnen trotzdem aus der Hand fressen, mitgröhlen, ihre Köpfe schwingen, sich auch manchmal zu dritt von der Bühne stürzen. Es herrscht eben der konzertale Krieg, den BOLT THROWER in monolithisch-mächtigen Songs wie 'When Glory Beckons' zelebrieren. Ein Fan schreit dabei immer wieder "Karl Willetts, Karl Willetts" - die Freude über die Rückkehr des alten Frontmanns ist überall spürbar. Und er ist wahrlich eine Ikone, mit einer bellenden Stimme, die noch so rau und roh wie vor Jahren klingt. Während er grunzt, umfasst er den Mikroständer immer mit beiden Händen, in den Pausen schüttelt er sein schütteres Haar. Nach einer subjektiv viel zu kurzen Haarschüttelstunde ist die Realität fast wieder da, Artilleriefeuer leitet die Zugaben ein. 'For Victory' heißt es da, doch BOLT THROWER haben schon längst gewonnen. Unter riesigem Jubel verlassen sie die Bühne. Den Fans bleibt die Erkenntnis, dass große Weltklassebands nicht teuer sein müssen und keine aufgesetzten Showeinlagen benötigen, um Konzerte für die Ewigkeit zu spielen. BOLT THROWER - die Antwort für alle, die Death Metal jemals totgesagt haben. BOLT THROWER - die Antwort für alle, die ständige Neuentwicklungen wollen. BOLT THROWER - ein Geschenk für die Todesblei-Gemeinde, glaubwürdiger, walzender und brachialer wirkt kaum eine andere Band auf der Bühne. Superlative reichen bei solchen Konzerten nicht mehr aus.
- Redakteur:
- Henri Kramer