Dillinger Escape Plan - Berlin

23.11.2004 | 10:42

14.11.2004, Knaack

Das Ende des Abends lässt sich schon am Beginn absehen: Alle schwitzen, Körper verwandeln sich in menschliche Triefmaschinen. An diesem Sonntag ist schon kurz nach halb neun kaum mehr ein vernünftiges Durchkommen im Berliner "Knaack"-Club möglich, Konzertzeit. Die erste der vier Bands spielt schon. LIQUID GOD machen klar, um was es an diesem Abend gehen wird: Core, Core und nochmals Core, in all seinen Facetten. LIQUID GOD bieten dabei einen sehr abwechslungsreiche Mischung aus Metalcore und weiß der Teufel welchen Sounds noch: Hinterher stehen auf dem zerlumpten Notizzettel schillernde Begriffe wie NEUROSIS-Wände, MESHUGGAH-Riffs, SEPULTURA-Tribals... Zwischendurch unterlegen die Hamburger ihre Songs immer wieder mit klarem Gesang, der an Viva-Alternative-Mugge erinnert. Doch Brechanfälle bleiben aus, kann doch Gitarrist Roman bei zwischenzeitlichen Tempo-Ausbrüchen auch mehrmals prächtig grunzen. Dazu ist der Klampfer mit seinem schicken Männerrock der einzige Langlotenbomber in der Band, der Rest trägt sein Haar modisch kurz. So tun es an diesem Abend viele im Saal, der klassische Metal-Head scheint in diesem Publikum abhanden gekommen zu sein. Doch auch die Fans in Berlin lassen sich zum Abgehen animieren. Nach kurzer Erwärmungsphase findet die ideenreiche Musik von LIQUID GOD erste dankbare Abnehmer. Das ist kein Wunder, denn obwohl sie so verschiedene Stilmittel wie Akustikparts, Ska-Stücke, Grindcore-Blasts und sogar Rap in ihrem Sound verwenden, stehen sich die einzelnen Teile nie fremd und angewidert gegenüber, sondern fließen gekonnt ineinander. Damit sind LIQUID GOD schon am Anfang eines langen Konzertabends die Überraschung des Tages. Unbedingt 'mal auf der Bandwebseite ausprobieren, so hört sich moderne Innovation an!

Als BURST nach kurzer Umbaupause die Bühne betreten, sind auch die letzten Plätze im "Knaack" weg. Vor der Türe warten noch Fans, doch nichts geht mehr: Ausverkauft! Sold Out! Rund 300 Leute drängen sich in dem kleinen, dunklen und verrauchten Club; und das an einem Sonntag in der chronisch mit Konzerten überfüllten Hauptstadt. Es geschehen noch Zeichen und Wunder. Magie ist auch das Stichwort und die elegante Überleitung zu BURST. Deren Musik lässt sich noch schwerer als die von LIQUID GOD beschreiben. Auch die Schweden beackern das Feld, dass NEUROSIS einst mit ihren ersten Alben anlegten. Doch klingen BURST rockiger, schaffen es jedoch immer auch, progressiv und verspielt zu wirken. Es ist eben dieser typisch modern-einzigartige Sound, den so viele Bands des amerikanischen Edel-Labelsstalls Relapse besitzen. Die fünf Musiker auf der Bühne leben diese Klänge sichtlich. Frontmann Linus labert nicht groß herum, stellt nur die Band kurz vor ("...we are from Gothenburg, Sweden...") und konzentriert sich sonst voll auf das Timing seiner Einsätze - denn so oft muss er sein Organ gar nicht mit Brüllattacken strapazieren. Denn BURST verlassen sich häufig einfach bloß auf die hypnotische Wirkung von minutenlangen Noise-Orgien, auf die dynamischen Schwingungen von Gitarren, auf den Groove eines sauber gespielten Basses. So sind Knaller wie 'Sculpt The Lives' von der aktuellen "Prey On Life"-CD in einer Weise ergreifend, dass Intensität als beweglicher Block zwischen den Halsmuskeln spürbar wird. Auch der blonde Gitarrist Jonas fühlt, dass die Show seiner Band heute etwas besonderes ist und springt enthemmt über die ganze Bühne, hin und her - sein weißes Unterhemd klebt vor Schweiß. Auch im Publikum steigt die Hitze. Denn wer von solch mitreißender Musik überfahren wird, dem ist die Wärme im Blut ganz recht...

Es wird immer enger. Vorm Merchandise-Stand außerhalb des Konzertraums treten sich die Leute gegenseitig auf die Füße. Und entschuldigen sich. Die Freundlichkeit unter den Fans hier ist verblüffend. Fast schon abschreckend. Gedanken an eine frische Currywurst kommen auf, was würden die vielen bekennenden Veganer in diesem Pulk zu dem Geruch von verbranntem Fleisch wohl sagen? Würden sie so abgehen wie bei der dritten Band des Abends?! Denn was bei POISON THE WELL passiert, verdient ohne weiteres das Prädikat "Grenzwertig" in Gold. Die Szenerie eskaliert: Hardcore-Mugge mit deutlichem Emo-Anteil, ausrastende Fans. Ein paar Verrückte sehen die großen Pfeiler, die mitten im "Knaack" stehen. Zum Beispiel ein bulliger Typ mit Glatze, der sich wie ein Gorilla an dem Ding hochzieht, sich in zwei Metern Höhe mit den Beinen abstößt und auf die Fans fallen lässt. Da niemand im "Knaack" weder vor noch zurück kann, fangen die Fans ihn auf, tragen ihn herum. Andere folgen seinem Beispiel, die Luft brennt, im Moshpit vor der Bühne kreiseln hundert Leute im von POISON THE WELL entfachten Schlachtenwahn. Selbst die Band scheint über soviel Hingabe überrascht, Sänger Jeffrey ermahnt die Menge immer wieder, aufeinander aufzupassen. Irgendwann reicht selbst das nicht, als sich eine kleine Schlägerei anbahnt: Die Band stoppt sofort ihr Set und mahnt die erhitzten Streithähne zur Mäßigung. Das scheint zu wirken, weiter geht die Schlacht. Immer noch springen Leute von den Pfeilern... Und das obwohl die Musik von POISON THE WELL nun definitiv nicht der beste Hardcore der Welt ist - zumindest aber kennt er mit seinen klaren Gesangspassagen ein wenig stimmliche Abwechslung zwischen dem Geknüppel. Selbst ein paar Refrains aus der Feder des Quintetts können die Fans mitsingen - wie auf einem MAIDEN-Konzert. Erkenntnis: Durchschnittliche Musik, aber durchweg durchgeknallte Zuschauer. Eskalation pur.

Und dann kommen sie, eine Rummelmelodie kündigt sie an, nun heißt es Augen zu und durch: DILLINGER ESCAPE PLAN entern die Bühne. Die Fans sind noch lange nicht müde, der Moshpit bewegt sich ab Takt eins. Obwohl, Begriffe wie "Takt", "Rhythmus" oder "Melodie" lassen sich nur schwer auf diese perfektionistischen Chaoten anwenden. Es ist unglaublich, wie diese Band ihre Neurosen auslebt, wie sie all ihre nervösen Energien in Noten fasst und dabei einen Sound kreiert, der irgendwo zwischen Freejazz und Grindcore liegt. Dazu kommt mit der neuen Scheibe "Miss Machine" noch ein Tick Industrial. Das Ergebnis erfährt, wer kurz das Moshen einstellt und die Augen schließt: Scheinbar gegeneinander spielende Gitarren bringen zusammen mit dem rasenden Schlagzeug die Synapsen im Hirn in Schwingung, diese Musik ist wie Kiffen. Augen wieder auf, denn sonst könnte die beiden Sehorgane die gar unwirkliche Show auf der Bühne verpassen. Denn nicht nur der Sound von DILLINGER ESCAPE PLAN klingt hyperaktiv, die Musiker sind es auch. Wie wilde Tiere rennen sie zu Songs der Marke 'Panasonic Youth' über die Bühne. Frontschwein Greg mit seiner unsagbar brutalen Kreischstimme wirft sich immer wieder zuckend von einer Seite zur anderen, seine muskulösen Arme wirbeln das Mikro hin und her. Gitarrist Ben ist trotzdem krasser: Während er auf Zappelphillip-Art umher stürzt, auf die Boxen springt und immer wieder seine Gitarre hochreißt, spielt er sein Instrument trotzdem noch perfekt. Die Diver bleiben bei soviel Einsatzfreude nicht lange am Boden, der Raum ist wieder eine Sauna aus Schweiß. Dabei ist es egal, ob DILLINGER ESCAPE PLAN neuere Stücke wie das mit eingängigen klaren Gesangspassagen strahlende 'Baby's First Coffin' oder die älteren, noch abgedrehteren Songs spielen. Doch plötzlich, ein Bruch, Ben wirft seine Gitarre weg. Technische Probleme. Diese bleiben bis zum Ende des Gigs bestehen - gerade bei solchen Perfektionisten wie den Amis ist so etwas ein Unding. So liegen in der zweiten Konzerthälfte viele Pausen, ein Teil der Anfangs-Dynamik geht verloren. Aber nur so minimal, dass es nichts ausmacht, als DILLINGER ESCAPE PLAN am Ende nach gut einer Stunde ohne Zugabe verschwinden. So ein Konzert funktioniert nur als Block. Mein armer Nacken.

Redakteur:
Henri Kramer

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