Disillusion - Leipzig
26.10.2006 | 12:5021.10.2006, Conne Island
Schornsteine stürzen ein, ein ganzer alter Fabrikkomplex fällt in sich zusammen, implodiert in einer Wolke aus Staub - und über das Inferno hinweg fliegt DISILLUSION-Mastermind Andy Schmidt in einem Hubschrauber. Diese Szene ist einer der Schlüsselmomente von DISILLUSIONs erstem Video 'Don't Go Any Further', das die Band an diesem Samstagabend als Weltpremiere ihrem Leipziger Publikum vorstellt. Doch beschreibt die Szene, das Video an sich, auch das Selbstverständnis von DISILLUSION anno 2006: völlig autonom, ohne Rücksicht auf Interessen von anderen, auf dem Thron von Künstlern, die auf die Welt unter sich blicken - und die wegen kreativem Überdruck nicht mehr am Rande der Auflösung wie während der Aufnahmen zu ihrem Debüt "Back To The Times To Splendor" stehen. Es hat sich noch mehr geändert. Dieses Mal haben sich DISILLUSION für den links-alternativen Club "Conne Island" entschieden, um die Release-Party für ihr zweites Studiowerk "Gloria" gebührend zu feiern – zur Fete für ihr Demo und ihren folgenden Erstling gingen sie dazu noch in die Leipziger Moritzbastei. Und damals hielten sie ihre Musik für noch nicht wirklich verfilmbar, weil das Ergebnis zu aufwändig ausfallen könnte. Diese Zeiten sind vorbei - das Ergebnis ist beeindruckend und professionell. Alles andere wäre für DISILLUSION auch untypisch gewesen.
Denn professionelle Konsequenz ist wohl eine der Antriebskräfte dieser begnadeten Formation. Mit ihrem neuen Album "Gloria" haben sie nämlich eine Platte auf den Markt geworfen, die ihre Fans spaltet - was der Abend in Leipzig teilweise auch zeigt. Mit dem spannenden 'The Black Sea', dem ersten Track des neuen Werks, und dem umwerfend-hypnotischen Powersong 'Save The Past' steigen sie ein in das fast zweistündige Konzert. Das folgende 'Alone I Stand In Fires' – immer noch eines der genialsten Stücke der Bandhistorie – macht dann klar, dass den drei Jungs an diesem Abend ein Kunststück gelingt: Sie lassen das Konzert so klingen, dass die Songs homogen zusammen passen und jede Schaffensphase der Band fließend ineinander übergeht. Das liegt auch daran, dass bei näherem Hören von "Gloria" natürlich die Unterschiede zum Vorgänger auffallen, etwa die Verwendung von viel verzerrtem Gesang, TripHop-artigen Drumrhythmen oder elektronischen Industrial-Einsprengseln. Doch die Kernaussage, dass DISILLUSION Meister darin sind, unglaublich emotionale Melodien zu erfinden und sie in entsprechende Songs zu kleiden, die ist auch auf "Gloria" zu finden. So bei 'Avalanche', das eine lange Strecke von gleich drei Songs des neuen Albums eröffnet. Hier moshen die Fans in den ersten Reihen, während das Publikum dahinter mit einer Mischung aus Faszination und Bewunderung nach vorn starrt ob des unglaublich dynamischen Aufbaus dieses Stücks, das in seinem Verlauf immer spannender zu klingen scheint. 'Dread It' mit seinem Streicher-Gitarren-Duell und das schwer riffende 'Lava' folgen. Während den Songs verschwinden DISILLUSION immer wieder hinter Tonnen von Kunstnebel und treten aus diesem jeweils umso effektvoller wieder heraus. Sänger und Gitarrist Andy Schmidt ist der Kristallationspunkt des Interesses: Sein Mienenspiel verrät die Leidenschaft, die seine Seele für die Musik seiner Band empfinden muss. Ebenso Gitarrist Rajk Bartel, der immer wieder mit weit aufgerissenen und leuchtenden Augen dasteht und die endlos schönen Harmonien DISILLUSIONscher Tonkunst zelebriert, die mit "Gloria" nur um die Bereiche Alternative und Elektro erweitert worden ist.
Die einzige Single der Band, 'The Porter', leitet den zweiten Teil des Konzerts ein. Hier können die Fans der Frühphase noch einmal alles geben. Auffällig ist jedoch im Gegensatz dazu die Zurückhaltung bei dem neuen Werk, sei es aus Unkenntnis der Songs oder aus dem Gefühl heraus, ein anderes Album als "Gloria" erwartet zu haben. So sind die Anfeuerungsrufe bei Songs wie 'Aerophobic' oder 'Too Many Broken Cease Fires' zwar laut und vernehmlich, doch die echte Faszination scheint sich nur in die ersten fünf Reihen einzustellen. Keine Ahnung, woran das liegt. Dennoch: Die "Zugabe"-Rufe sind deutlich zu hören, als DISILLUSION die Bühne verlassen. Zurück kommen sie mit einem Geschenk: Erst 'And The Mirror Cracked', danach der mit einem sanften Streicherintro beginnende Titelsong von "Back To The Times Of Splendor" - er ist in seinen 14 Minuten gefühlter Intensität ein Machtwerk, ein Stück, das in seinen ausufernd schnellen Phasen an emotionale Großtaten der Marke EMPEROR erinnert. Immer wieder schön. Das ruhige 'Untiefen' kommt nach diesem Angriff auf die Nackenmuskeln gerade richtig, bevor das unglaublich geniale Powerriff bei 'Don't Go Any Further' noch einmal die ersten Reihen ekstatisch die Köpfe schütteln lässt – leider dieses Mal ohne Videobegleitung, dafür aber mit unbegrenzter Livekraft. Und mit diesen letzten Klängen drückt Sänger Andy genau zur richtigen Zeit einen Knopf: Aus. Stille. Plättung. Ab zum CD-Stand, den noch einige Fans an diesem Abend besuchen.
Doch die Meinungen nach diesem Ereignis gehen auseinander. HIDDEN IN THE FOG-Gitarrist Gorbag, der samt seiner Band von Magdeburg extra angereist ist, zeigt sich enthusiastisch: "Sie haben das neue Album perfekt live umgesetzt." Andere Fans, die weiter hinten dem Konzert gelauscht hatten, sind weniger begeistert: Der Sound sei dort zu drucklos gewesen – eine Kritik, die vor der Bühne laut malmende Gitarren zerstört hatten. Andere Zuschauer wiederum können sich auch nach dem Konzert noch nicht recht mit "Gloria" anfreunden – zu verkopft, zu anders im Gegensatz zu "Back To The Times Of Spendor". Doch in gewisser Weise beeindruckt sind wohl alle: Vom konsequenten Stil, den DISILLUSION auf diesem Konzert verkörpert hatten. Keiner spricht mehr von MYRA, die das Konzert mit ganz normalem Metalcore eröffneten, der für einen halbminütigen Circle-Pit sorgte. Das Fazit für DISILLUSION ist daher auch als ein Plädoyer für die künstlerische Freiheit zu verstehen: Natürlich sind sie nach "Gloria" nicht mehr die makellosen Lieblingsnewcomer, die sie nach dem Jahrzehntewerk "Back To The Times Of Splendor" noch waren. Sie haben sicher einige Fans verloren. Doch gewonnen haben sie Ecken und Kanten. Und eine kreative Unabhängigkeit, die sich andere Bands in Jahren noch nicht leisten können. Denn ein Aufguss von ihrem Debüt hätte nicht zu DISILLUSION gepasst: Zu visionär in ihrem musikalischen Anspruch erscheinen die drei Musiker. Ob sich dies auf Dauer mit ihrem Label Metal Blade verträgt, ist freilich abzuwarten. Doch für den Augenblick bleibt die Erkenntnis, dass die Band mit "Gloria" und solchen Konzertereignissen mehr DISILLUSION als je zuvor verkörpert – Künstler im ständigen Selbst(er)findungsprozess, im kreativen Rausch, nicht einfach, aber umso mehr faszinierend.
Setlist:
The Black Sea
Save The Past
Alone I Stand In Fires
Avalanche
Dread It
Lava
The Porter
Aerophobic
The Hole You Are In
Too Many Broken Cease Fires
Gloria
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And The Mirror Cracked
Back To The Times Of Splendor
Untiefen
Don't Go Any Further
- Redakteur:
- Henri Kramer