Godspeed You! Black Emperor - Leipzig

18.08.2013 | 23:47

06.08.2013, UT Connewitz

Urgewalt und Allmacht: GODSPEED YOU! BLACK EMPEROR spielt zwei aufeinander folgende Konzerte am absolut passenden Ort dafür.

"Endlich, endlich!" rumort es hier im ausverkauften Leipziger UT Connewitz nicht nur in mir, der sich von einer Mischung aus Körperwasser und Regenguss gerade zu regenerieren versucht. Mit mir im 1912 erbauten mondän-morbiden Kinosaal, der eine stark anwachsende Bekanntheit und Beliebtheit in der globalen Künstlerszene erreicht hat, erwarten ernsthafte Erwachsene euphorisiert die Band, die zumeist mit MOGWAI und SIGUR RÓS in einem Lufthauch geflüstert wird. Wenn es darum geht, diejenigen Künstler-Kollektive der Gegenwart mit einer ganz eigenen, erkennbar unterscheidbaren Klangwelt zu benennen, kommen wir an den Kanadiern GODSPEED YOU! BLACK EMPEROR (GYBE) definitiv nicht vorbei. Die sind auf dem Label Constellation Records, welches über Jahre hinweg stilsicher zielsicher seinen Katalog an Bands zusammengestellt hat. Und die großen Einfluss auf ernsthafte Erwachsene ausüben. Das Besondere am Heute ist, dass GYBE bereits das zweite Konzert hintereinander im UT Connewitz spielt, auch gestern war der Saal bereits voll besetzt. Dieses Phänomen hat nach den Doppelauftritten von NEUROSIS 2012 und 2013 zum dritten Mal stattgefunden. Interessante Idee, die funktioniert und die die Musiker an den schönsten und eindrucksvollsten Leipziger Auftrittsort zu binden scheint.

Heute auch: eine sphärisch-selige Vorband. AIR CUSHION FINISH heißt sie. Ein in sich gekehrter Gitarrist und ein schraubender Programmierer-Drummer erschaffen Töne, die draußen im kühleren Vorraum an angepingte U-Bootinnenräume, startende Kleinhelikopter oder ausgelastete Bus-Klimaanlagen erinnern.

Danach GYBE. Schon was die Materialvielfalt auf der Bühne betrifft, ist das eine Sonderveranstaltung. Ich zähle drei Gitarristen, eine Geigerin, zwei Bassisten, zwei Drummer. Ständig Bewegung auf der Bühne, hinten, unter den schwarzweißen Videoproduktionen, huschen die beiden Drummer mal hin, mal her, ständig verlassen nicht benötigte Musiker die Bühne, um dann zum Einsatz zurückzukehren. In den Höhepunktmomenten, in denen sich die Band in ihre Orgasmen hineinsteigert, füllt eine dichte Wall Of Sound den Saal. Dann windet sich die Luft und die Szenen entwickeln unweigerlich ihren Sog, der so berühmt geworden ist und sich wahrhaft rühmlich anfühlt. GYBE sind Genre. Generäle ihres eigenen Genres.

Man kann es beobachten: Die Leute im Publikum sinnen darüber nach, wie solche Musik entstehen kann, wie die Truppe es schafft, so viele unterschiedliche Individuen in einen Anspruch hinein zu bekommen. Der eine Drummer wirkt wie ein mittelhessischer Sparkassendirektor, der andere wie ein vollbebarteter Aussteiger. Der Kontrabassist ist der mit den meisten Bewegungen (Kopfnicken), der andere Basser wirkt, als warte er auf den Bus. Wer aufmerksam beobachtet und regelmäßig Constellation Records-Bands besucht, der bemerkt, wie viele Nebenableger und Seitenbands von GYBE darunter sind. Das, was heute hier gesehen und gehört wird, ist die Keimzelle einer ganzen kanadischen Musiktradition. Monumental die Stücke, die stets die Fünfundzwanzigminutengrenze streifen, bis in den letzten Winkel des ehrwürdigen Dunkels kriecht die kreative Monotonie dieser Nachdenker und Vorreiter und trifft frontal auf die Nachsinner, die da unten ernsthaft erwachsen auf die Musiker starren.

Wie ich am nächsten frühen Morgen bemerke und was ich erwartet hatte, ist, dass dieses Konzert erst einmal verdaut werden muss. Was soll denn danach jetzt noch kommen? Ich werde es heute Abend einmal mit belanglosem Unterhaltungspop zur Ablenkung versuchen... und kläglich scheitern, denke ich. Denn es gibt da noch dieses Gedankenspiel: davor, lange danach und auch währenddessen. Bis die Erinnerung an das Konzert verblasst ist, werde ich wohl weiter Begriffe sammeln, die einen während solcher Songs wie 'Mladic' oder 'We Drift Like Worried Fire' anspringen, die einen beschleichen und beschäftigen: Episch, Existenz, Gewalt, Unruhe, Besinnung, Alleinsein, Überforderung, Geschichte. Dass die ausgezeichnete Videounterfütterung ein festes Element der GYBE-Musik ist, versteht sich von selbst. Schnell hat das Kopfkino die ruckenden Bilderfolgen übernommen. So laufen zum Beispiel uralte Dokumente über eine Schmalfilmspur, Teufelssymboliken folgen auf Folterszenen folgen auf althochdeutsche Urkunden folgen auf griechische Reiseberichte folgen auf lateinische Gebete, dann nach einer langen Spielzeit verätzt eine Flüssigkeit diese kulturellen Errungenschaften. Hoffnungslos unwiederbringlich sind die menschlichen Zeugnisse auf immer verloren und ausgelöscht.

Dass die Hoffnung (oder ihr Fehlen) zentrales Thema dieser vielköpfigen Ausnahmeband ist, wird bereits ganz zu Beginn klar, als das in Film gekratzte Wort "Hope" auf die wartenden Zuschauer blitzt. Die Erhabenheit von GODSPEED YOU! BLACK EMPEROR ist an diesem heißen Augustabend in einem alten gedankengetränkten Kino in jedem Anwesenden spürbar geworden. Das Ganze ist einem berstenden, aufwühlenden klassischen Konzert sehr ähnlich, im Beisein und in der Nachwirkung. Vielleicht ist das hier ja bereits die Klassik. Die neue Klassik.

Redakteur:
Mathias Freiesleben
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