Gorgoroth, Anathema - Krakau (Polen)

29.02.2004 | 13:49

31.01.2004, TV-Studio Krzemionki

Samstag, 31.01.2004

Flugs im Hotel eingecheckt und ab zur TV-Station. Auf dem Weg dorthin peilen CARPATHIAN FOREST auch schon einmal die Lage. Deren Sänger Nattefrost macht auch gleich die Fronten klar: Seine Band will sich die Show der "Gay Metaler" von GREEN CARNATION anschauen und auf die Bühne masturbieren. Als er erfährt, dass seine Gesprächspartner aus Deutschland kommen, ruft er sogleich ein provokativ gemeintes "Heil Hitler" aus und fängt "rechts, links, stooop!" an zu marschieren. Sonst fehlt ihm nichts, nur ein paar Slottys. Armer Nattefrost!

Der Ort des DVD-Mammut-Drehs liegt auf einem Krakower Hügel, samt Sendemast und allem was das Funkerherz begehrt. Außerdem scheint das Studio gar nicht so unbekannt zu sein. Obwohl in der gesamten Stadt kein einziges Plakat für die Metal-"Veranstaltung" zu sehen ist, drängen sich die Massen schon zu Beginn von CORRUPTION in der Halle. Das polnische Fan-Volk ist dabei eine der härtesten Hartwurst-Gemeinden der Erde: Konzerte kommen in Polen allgemein OHNE Alkohol-Ausschank aus! Will heißen: Es gibt Cola, Fanta oder Wasser, zur Sättigung noch ein in Zellophan gewickeltes Käsebrötchen samt traurig dreinblickendem Salatblatt oder einen Riegel der Marke "Zucker hoch zehn". Außerdem darf man nur in den Gängen rauchen, vor der Bühne ist Qualmen untersagt. Die Stimmung in der Halle ist trotzdem gut - schließlich sind die polnischen Fans an solche Zustände gewöhnt. Und CORRUPTION enttäuschen mit ihrem Stoner Rock nicht, besitzen mit dem Pussy-Intro von "From Dusk Till Dawn" einen echten Hinhörer und rocken munter drauflos. Nett, aber trotzdem noch etwas unspektakulär.

(Henri Kramer)

Es wirkt schon amüsant, wenn polnische Bands amerikanischen Vorbildern wie QUEENS OF THE STONE AGE oder TITO & TARANTULA nacheifern. Haare ab, Kinnbart dran und 'ne Lederhose mit Flammenimage an. Bei den ganzen bunten Scheinwerfern in Pink und Rot und Grün und Blau ist eine Sonnenbrille natürlich unverzichtbar. Sie steht dem Bassist ja wirklich gut. Easy! Auch, wenn's nicht besonders originell ist, was man von CORRUPTION zu hören bekommt, ihnen macht der Auftritt richtig Spaß und das färbt ab. Insbesondere Sänger Rufus genießt die fetten Gitarrenriffs und klopft sich dabei freudig erregt auf den Schenkel. Dann postiert er sich wieder hinter dem Mikro und spannt seine Arme weit auf, als wolle er gleich gen Himmel starten. Immerhin, die Stimme fliegt mit und stürzt nicht ab. Das Publikum rockt mit. Der Saal ist auch schon ordentlich voll. Wer wird nicht zugeben, dass Poser Rock á la MONSTER MAGNET manchmal saumäßig Spaß macht? Wem das gefällt, der kann sich ja auch mal die polnische Version reinziehen. Auf der Website gibt es zum Beispiel Bilder von ihnen vor melancholischer Ostseeküsten-Kulisse zu sehen.

Nach einer guten Stunde ist erst einmal Pause im Hause "Krzemionki" und alle(!) Konzertgäste werden aus der Halle herausbefördert. Wer sich also dachte: "ich stell mich schon bei CORRUPTION ganz vorne an, damit ich dann ANATHEMA aus nächster Nähe sehe", der hatte sich vertan. Immerhin wird so für frische Luft während jeder Show garantiert und auf den DVDs sind auch nicht immer die selben Nasen in der ersten Reihe zu sehen. Außerdem müssen ja die Käsebrötchen einen Käufer finden...

(Wiebke Rost)

GREEN CARNATION strafen Nattefrostsche Lästerei Lügen - von wegen "Gay". Eher "Yeah!" - bei soviel Spielfreude und unglaublicher Tonkunst rasen gleich mehrere Gänsehautschübe über den Rücken. Schon Steins Bass-Solo am Anfang des Sets eröffnet unkonventionell und anrührend zugleich den neunzigminütigen Auftritt, die Viersaiter-Klimperei geht sogleich nahtlos in ein grandioses 'Into Deep' über. Die Lichtshow ist ähnlich wie der perfekt austarierte Sound ein optisches Muskelspiel, spätestens hier wird die Entscheidung für das Studio nachvollziehbar. Doch für solch praktische Überlegungen bleibt kaum Zeit, denn dreißig Minuten 'Light Of Day, Day Of Darkness' sind in ihrer wunderschönen Erhabenheit kaum noch zu toppen - dieser Song ist ein kreatives Monster mit der akustischen Kraft von alten Meistern wie PINK FLOYD. Auch Stücke wie 'Rain' passen perfekt, das Publikum wiegt sich mit der Band mehr als eine Stunde lang. Besonders schön ist die optische Einheit, die GREEN CARNATION und ihre Musik gefunden haben, gerade einem entrückt musizierenden Tchort sieht man seine anderen Projekte wie eben CARPATHIAN FOREST oder BLOOD RED THRONE in keiner Weise an. Hach!

(Henri Kramer)

Mit der inzwischen Tradition gewordenen Zugabe 'As Life Flows By' verabschiedet sich der norwegische Sechser aus der Scheinwerferflut und prostet dem völlig begeisterten Publikum noch einmal mit Bier zu. Cheers! Die Halle war voll! Jetzt ist sie wieder leer und auf der Bühne wird Platz gemacht für die drei britischen Musikanten von AMPLIFIER. Viel brauchen sie nicht, nur ein Schlagzeug für Matt Brobin, eine Gitarre für Neil Mahony, Bass und Mikro für Sänger Sel Balamir und eben jeweils einen Verstääärker. Die sind echt laut! AMPLIFIER lassen sich nicht einfach die Reihe zahlloser Brit-Pop-Bands einordnen, dafür sind sie zu rauh. Eher wandeln sie auf den Spuren alter RADIOHEAD, ein bisschen aufgefrischt mit der im Punk und Grunge wurzelnden Leidenschaft der FOO FIGHTERS. Ziemlich progressiv, ja schon fast aggressiv spielen sie ihre Instrumente. Trotzdem stehen sie irgendwie verkrampft auf der Bühne und rechte Stimmung will bei den an und für sich sehr energiegeladenen Songs vom selbstbetitelten Debüt-Album "Amplifier" nicht aufkommen. Ist das typisch britisch? Die Polen nehmen es ihnen nicht übel. Schließlich scheint es sich bei AMPLIFIER ja bereits um einen größeren Fisch zu handeln, weil THE CURE- und DEPECHE MODE-Produzent Steve Lyon ihr erstes Werk co-produzierte. Davon mal abgesehen muss man den Gitarrensoli und Bass-Parts live wirklich eine enorme Tiefenwirkung zugestehen. Auch der Gesang hat es in sich. Sel's Stimme lässt sich vielleicht mit der von RADIOHEAD-Thom Yorke messen. Mal brummelt er unverständlich irgendwas von "Bubblegum" ins Mikro, mal überschlägt er sich fast, wenn er singt "It’s Time To Fly". Allerdings können sechzig Minuten Flugzeuglärm auch ganz schön anstrengend werden. Bei so manchem dürften AMPLIFIER mit ihrer Überschalldruck-mäßigen Musik noch lang im Ohr nachhallen.

(Wiebke Rost)

Naja. Wenig Nachhall beim männlichen Teil des Schreiber-Duos. Eher der Drang nach 'ner Zigarette und seelischer Vorbereitung. Denn nach den emotional eher kaltschnäuzigen AMPLIFIER sind ANATHEMA wieder eine Gefühls-Macht ähnlich den akustischen Streicheleinheiten von GREEN CARNATION. Die Fans müssen zum letzten Mal raus aus dem Saal und wieder rein, drangvolle Enge, Erwartung schwirrt durch die Luft. ANATHEMA enttäuschen die Vorfreude der polnischen Fans zu keiner Sekunde. Zwar setzt der Gig besonders in der ersten Hälfte fast durchweg auf die extrem softe Seite der Briten, doch besitzen auch ruhige Stücke wie 'Pitiless' oder 'Are You There?' die Kraft von vielen Tonnen Musikalität, wird es trotz der sanften Klänge nie langweilig. Zumal zwischendrin immer wieder Kracher wie 'Pulled Under At 2000 Meters Per Second' Leben in den polnischen Fanpulk bringen, der bei den schnelleren Stücken erbarmungslos ins kollektive Moshtrauma verfällt. Wer nicht mit dem Kopf schüttelt, geht einer anderen beliebten Sportart des Abends nach: Klatschen bis die Handflächen rau werden - selten sah man solch eine Begeisterung beim Zusammenschlagen von tausend Patschehändchen... Klatsch, klatsch. Interessant für die DVD dürfte das Stück 'A Natural Disaster' werden, weil mittendrin das Mikro wegbricht und die soeben auf der Bühne erschienene Sängerin Lee Douglass plötzlich ohne Ton dasteht. Macht aber nichts, ANATHEMA nehmen das Mini-Unglück mit ihrem eigenen England-Humor und lassen das "natürliche Desaster" noch einmal auf die Fans wirken - wunderschöne Melancholie breitet sich aus. Noch Fragen?

(Henri Kramer)

Welche Aufgabe hat eigentlich der schwarz-weiß gescheckte, überlebensgroße Dalmatiner an der Seite von Drummer John? Vielleicht ist es ja insgeheim ihm zu verdanken, dass die Band nach den vielen internen Zwistigkeiten jetzt wieder versöhnt ist und auf der Bühne eine beinahe familiäre Harmonie herrscht, die sich in der Musik niederschlägt und auch aufs Publikum überspringt. Da werden selbstgemalte Fahnen gehisst und Sänger Winnie lässt es sich nicht nehmen damit ausgelassen Schabernack zu treiben, wenn er sich das Fan-Tuch leger um die schwarze Haarkrause bindet. So ein Hippie! (*grins*) Passend dazu wandern während den Liedern psychedelische Lichtmuster in allen Farben über die Bühne und die Gesichter der Band. Am Ende huldigen ANATHEMA dann auch mit einem PINK FLOYD-Cover jener Achtundsechziger-Generation. Zutiefst glücklich wiegen sich dabei die polnischen Fans ein letztes Mal von einer Seite auf die andere und bekommen einfach nicht genug. Drei Zugaben spielen ANATHEMA, bis sie endlich selber völlig erschöpft die Bühne verlassen.

Damit höchst zufrieden gestimmt und doch ein wenig müde nach den Strapazen im Nachtzug nach Krakau möchten sich die zwei powermetal.de-Chronisten nun ins Hotel zurückziehen. Da läuft ihnen Nattefrost von CARPATHIAN FORREST zum zweiten Mal über den Weg. Auf die Bühne ejakuliert hat er nicht, dafür aber bei der unschuldigen Fotografin Spuren hinterlassen. In seinem Auftrag bearbeitet Sound-Ingenieur und Amateur-Tätowierer Endre das völlig wehrlose Fräulein mit einem Edding solange, bis vor Ankern, CF-Bannern und "I Love Gays"-Sprüchen kaum noch was von ihr zu sehen ist. In dieser Nacht wurde sie zuletzt gesehen, wie sie versuchte sich vor ihrem Hotelzimmer zu erwürgen. (immer diese Drogengeschichten, tststs… Kennt man das von mir? - HK)

(Wiebke Rost)

Redakteur:
Henri Kramer

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