IAN ANDERSON - Lauchheim
28.07.2016 | 22:2227.07.2016, Schloss Kapfenburg
Der alte Mann und die Flöte – Ian Anderson spielt JETHRO TULL!
Im Rahmen des Schloss Kapfenburg Festivals haben die Veranstalter eine britische Rockikone für einen Einzelgig außerhalb der Tour verpflichtet, mit der er gerade unterwegs ist und die unter dem Banner "Jethro Tull: The Rock Opera" firmiert. Das zeigt auch im Aalener Raum einiges an Anziehungskraft, sodass die Veranstaltung gut gefüllt ist. Bei meinem Eintreffen steht noch eine lange Schlange vor dem Einlass, da die Kontrollen in den Nachwehen des Anschlags auf das Ansbach Open Air noch penibler geworden sind. Allerdings geht es bei den Herren zügig, bei den Damen nicht. Da scheint noch etwas nicht ganz zu funktionieren. Ich vermute, es wird an den Handtaschen liegen, die nun einmal zu erhöhtem Durchsuchungsaufwand führen. Verständlich, dem muss man dann gegensteuern. Weniger verständlich ist der dumme Mensch vor mir, der einen größeren Aufstand vom Zaune bricht, weil seine Frau etwas warten muss. Die ruhige Reaktion der Damen an der Abendkasse ist erwähnenswert, während ich mich insgeheim ärgere. Aber wenn ich etwas sage, wird der Vorfall nur eskalieren. Also Mund halten und reingehen.
Ja, gut besucht ist sie heute, die alte Deutschordensburg. Wie schon letzten Samstag bei BEYOND THE BLACK wirkt die Festung beeindruckend. Jetzt bei strahlendem Sonnenschein ist sie hübsch später im Lichte der Kerzenleuchter wird sie noch beeindruckender wirken. Doch Ian Anderson und seine Band beginnt heute früh, kurz nach halb Neun geht der Brite mit 'Living In The Past' von Null auf Hundert! Die Bühne ist groß und bietet genug Platz für die drei Hauptakteure, oder besser gesagt, die drei, deren Instrumente es zulassen, dass sie sich bewegen können. Schlagzeuger Scott Hammond sitzt an exaltierter Stelle rechts nahe am Bühnenrand, Keyboarder John O'Hara steht auf einem Podest immer im Bick der Zuschauer. Die erwartete One-Man-Show ist gar keine! Nach der Großtat steht aber erst einmal ein ungewöhnlicher Song auf dem Programm: 'Nothing Is Easy' stammt vom 1969er Album "Stand Up". Hier greift der Meister tief in die Trickkiste, und obwohl ich tatsächlich mit den ganz frühen Alben nicht so recht warm geworden bin, ist das kein schlechtes Lied. Trotzdem steigt die Stimmung bei 'Thick As A Brick' merklich an.
Auf der Homepage als "Best Of JETHRO TULL" angekündigt, bin ich mehr als gespannt, ob Ian Anderson tatsächlich einmal ein solches Programm der Großtaten aufführen wird. Denn für mich steht unumstößlich fest, dass die frühen Alben hinter den meisten Veröffentlichungen der Jahre 1979 bis 1995 locker zurückbleiben, das erwähnte 'Thick As A Brick' vielleicht mal ausgenommen, und "Aqualung" auch noch. Ansonsten, und da mache ich mir sicher nicht nur Freunde unter den Lesern, enthalten alle alten Alben Lichtblicke, aber auch ziemlich schwache Lieder. Das würde ich zum Beispiel von "Rock Island", "Roots To Branches", "Catfish Rising" und "Crest Of A Knave" nicht behaupten, die sind durchgehend gut. Doch schon die folgenden Lieder lassen mich erahnen, dass es wohl mit einem echten Best of der gesamten Bandhistorie nichts werden wird. Allerdings auch nicht mit dem typischen "alle alten Hits"-Programm. Ian Anderson 2016 ist eine Show der Siebziger, aber dabei eine echte Wundertüte. 'Pastime With Good Company', 'Sweet Dream' und dann das großartige und 'Mother Goose',das ist eine interessante Wahl.
Beim folgenden Bach-Stück 'Bouree' ist es fällt Gitarrist Florian Ophale auf, der auch zuvor schon desöfteren im Rampenlicht stand. Der gebürtige Rosenheimer gibt dem Konzert einen gehörigen Schuss harten Rocks, ja fast schon metallischen Charakter. Er rifft und rockt und posiert für das Publikum und bietet Ian in Sachen Bühnenpräsenz locker Paroli. Das nimmt dieser aber gerne hin und lässt dem jungen Mann häufig dem Vortritt, sodass JETHRO TULL heute viel mehr als eine Band wirkt als zu den Zeiten mit Martin Barre. Das ist unerwartet. Genauso wie das Lied 'Banker Bets, Banker Wins' von "Thick As A Brick 2". Vielleicht kommt ja doch noch etwas von den neueren Alben? Nein, es folgt 'Songs From The Wood'. An dieser Stelle merke ich erstmals, dass ein Lied in der neuen Besetzung nicht gut funktioniert. Der Interpretation des Liedes fehlt leider völlig die Leichtigkeit, die Magie der Studioversion. Man meint fast, die Band trampelt sich durch das Unterholz dieses eigentlich leichtfüßigen Stückes. Doch das bleibt zum Glück der einzige Fehltritt am heutigen Abend, die rockigen, progressiveren Stücke und die zahlreichen Frühwerke, es folgt immerhin noch 'Dharma For One' inklusive Schlagzeugsolo und 'My God', funktionieren ausgezeichnet.
Eigentlich ist Ian Anderson momentan ja mit einer anderen Show unterwegs, in der er drei neue Stücke spielt. Eines davon, das meiner Ansicht nach beste, wird auch heute dargeboten. 'Fruits Of Frankenfields' hat alle Trademarks eines der moderneren Tull- beziehungsweise Anderson-Songs mit schönen Melodien, einem eingängigen Refrain und durchaus rockiger Gitarre. Und dann, spät, aber ich bin ja schon für Kleinigkeiten dankbar, folgt ein Lied aus der oben angesprochenen Phase. 'Farm on A Freeway' vom "Crest Of A Knave" Album ist einer meiner absoluten All-Time-Favorites der Band! Das Lied wird auch in der Rock Opera gespielt, aber ich wusste nicht, ob es auch den Sprung in diese Setliste schaffen würde. Sieben großartige Minuten lang genieße ich den musikalischen Ausflug. Es fällt auf, dass mit zunehmender Spieldauer Bassist David Goodier mehr Gesangsparts übernimmt. Goodier klingt ähnlich wie Anderson und entlastet den Frontmann, der im nächsten Monat übrigens 69 Jahre alt wird. Möglicherweise deswegen, aber auch um Gitarrist Florian Ophale nochmal das Rampenlicht zu geben, spielt dieser die berühmte 'Toccata und Fuge in D-Moll', die er zu einer Demonstration seiner Fingerfertigkeit, eingebettet in wilde, metallische Sounds werden lässt.
Es ist klar, dass es jetzt zum Endspurt kommt. Erst 'My God' und dann den Publikumsliebling 'Aqualung'. Zwar verlässt die Band anschließend kurz die Bühne, doch erwartungsgemäß kehrt sie noch einmal für 'Locomotive Breath' zurück, bei dessen Intro Keyboarder John O'Hara glänzen darf. Nach 100 Minuten ist der Auftritt zu Ende. Ein guter Auftritt, wohlgemerkt, mit ein paar Überraschungen. Leider nicht dass, was ich unter einem "Best Of JETHRO TULL" verstehen würde (ohne 'Budapest' kann es ja logischerweise kein Best of sein), aber die Geschmäcker sind verschieden. Sollte jemand die Gelegenheit erhalten, Ian Anderson zu sehen, kann ich den Besuch empfehlen. Und das ganz ausdrücklich nicht nur wegen des Namensgebers, sondern auch wegen seiner Band. Die Jungs sind wirklich gut und hauchen einigen alten Liedern ein ganz anderes, neues Leben ein. Aber nächstes Mal hätte ich dann gerne mal meine Version von "Best Of". Hey, Ian, geht das?
Setliste: Living in the Past, Nothing Is Easy, Thick As a Brick, Pastime With Good Company, Sweet Dream, Mother Goose, Bourrée, Banker Bets, Banker Wins, Songs From the Wood, Fruits of Frankenfield, Dharma for One, Farm on the Freeway, Toccata and Fugue in D Minor, My God, Aqualung; Encore: Locomotive Breath
- Redakteur:
- Frank Jaeger