KISS - Frankfurt/Main
09.06.2017 | 19:0423.05.2017, Festhalle
Das Spektakel ist zurück.
Konzerte der vier Maskenmänner sind seit Jahren für mich ein zweischneidiges Schwert. Auf der einen Seite freue ich mich wie Bolle, dass meine Helden noch immer aktiv sind und das Spektakel in meine Nähe bringen, auf der anderen Seite sind einige Diskussionen, wie beispielsweise unflexible Setlisten, die Stimmprobleme von Paul Stanley und der große Wandel von einer schweißtreibenden Rock 'n' Roll-Show hin zu überladenem Hochglanz-Entertainment inklusive dem dazu gehörigen Eventpublikum nicht ganz von der Hand zu weisen - und da möchte ich noch nicht einmal das Fass mit den Originalmasken für Thommy Thayer und Eric Singer aufmachen.
Nun gut, bevor wir den aktuellen Leistungsstand von KISS begutachten können, sollen uns RAVENEYE und IN EXTREMO die Wartezeit verkürzen. Das englische Trio RAVENEYE macht seine Anheizerrolle sehr ordentlich. Die Band ist sehr agil und rockt – mal mit, mal ohne Gitarre. Zwar sind viele Anwesende mit den Songs ihres Debütalbums nicht wirklich vertraut, dem energetischen Auftritt zollen sie jedoch mit wohlwollendem Applaus den absolut verdienten Respekt.
IN EXTREMO ist dann natürlich eine ganz andere Hausnummer. Ihre Setlist ist gespickt mit Hits und die deutsche Mittelalterband versucht erst gar nicht, dem Headliner den Thron streitig zu machen. Die Resonanz seitens des Frankfurter Publikums ist deutlich größer, aber auch nicht unbedingt enthusiastisch. Trotzdem: ein überzeugender Auftritt ohne Showeffekte. Hier war sich eine Band ihrer Rolle mehr als bewusst. Lobenswert und sympathisch.
Setliste IN EXTREMO: Rasend Hez, Feuertaufe, Zigeunerskat, Vollmond, Störtebeker, Nur ihr allein, Quid pro Quo, Unsichtbar, Sternhagelvoll, Frei zu sein, Küss mich
Dann ist es soweit: dem obligatorischen Schlachtruf und dem Fall des Vorhangs folgen mit 'Deuce' und 'Shout It Out Loud' gleich zwei Klassiker, die das weite Rund in ein Tollhaus verwandeln. Die Musiker schweben von der Decke auf die Bühne, Pyros und Feuersäulen werden haufenweise gezündet und die gesamte Lichtanlage ist gigantisch. Da weiß man gar nicht, wo man zuerst hinschauen soll – ist eh egal, denn zunächst steht ausschließlich Schreien, Jubeln und Mitsingen auf dem Programm.
Im Anschluss wird es aber erst einmal ruhig, denn die Musiker legen eine Schweigeminute für die Opfer von Manchester ein. Diese Tragödie hatte sich direkt am Vorabend der Show ereignet - eine gespenstische Stille in der fast ausverkauften Festhalle. Im Anschluss geht es bei großartigem Sound, was nicht selbstverständlich ist für diese Lokalität, mit 'Lick It Up' weiter und hier offenbaren sich bereits Pauls Schwierigkeiten. Ging das bei 'Shout It Out Loud' noch irgendwie unter, ist es bei diesem 80er-Klassiker nicht mehr zu überhören: Seine Stimme bricht sofort, die Höhen sind fast gar nicht mehr erreichbar und selbst bei den Ansagen ähnelt das Ganze eher einem Krächzen. Mag man sich das Alter der Herrschaften vor Augen führen, ist das leider der normale Lauf der Dinge, trotzdem fühlt es sich wie ein Stich ins Herz an, wenn man bedenkt, zu welch außergewöhnlicher Leistung Mr. Starchild in der Vergangenheit im Stande war. Doch Paul bleibt Paul, schwingt die Hüften wie eh und je, springt und rennt über die Bühne, singt seine Parts (teilweise arg tiefer arrangiert) nur noch an oder lässt sie gleich ganz vom Publikum oder dem Rest der Band übernehmen. So funktioniert es zumindest über weite Strecken ordentlich. In der Folge ist der Singanteil vom recht lauffaulen Gene Simmons erstaunlich hoch und auch Tommy Thayer darf den Ace-Klassiker 'Shock Me' intonieren, was bei vielen beinharten KISS-Fans aber (zu Recht) auf der "no go"-Liste ganz weit oben steht.
Was ist aber mit Eric Singer, der bekanntlich über eine formidable Singstimme verfügt? Ihm könnte man in Zukunft ruhig mehr Solospots gönnen, zumal auch sein Schlagzeugsolo aus dem Programm gestrichen wurde. Darüber hinaus enttäuschen die ursprünglichen New Yorker, die seit Jahrzehnten jedoch allesamt in Los Angeles wohnen, ihr Publikum vor allem showtechnisch nicht. Alle Markenzeichen der Band werden aufgefahren. Gene spuckt Feuer und Blut, fliegt und lässt seine Zunge kreiseln, Tommy schießt Lampen von der Hallendecke und auch ansonsten hebt und senkt sich ständig irgendwas. Das ist wirklich großes Kino.
Die eine oder andere musikalische Überraschung hat KISS dann doch auch dabei. 'Flaming Youth' vom 76er-"Destroyer"-Album durfte nicht unbedingt erwartet werden (inklusive cooler Retro-Bilder auf der Leinwand), die 80er-Hits 'Crazy Crazy Nights' und 'War Machine' (sehr geil) stehen auch nicht regelmäßig auf dem Speiseplan und 'Say Yeah' (von "Sonic Boom") ist der misslungene Versuch, die Neuzeit zu integrieren. Wie gesagt, über die Setlist lässt sich trefflich streiten und bei einer zweistündigen Show wird es niemals eine für alle Parteien zufriedenstellende Auswahl geben, doch es überrascht: kein 'Love Gun', kein Song vom aktuellen Album "Monster".
Am Ende des Tages zählt jedoch der Gesamteindruck und der ist sehr positiv. Als Paul durch die Halle fliegt und in deren Mitte 'Psycho Circus' und 'Black Diamond' anstimmt, geht die Anhängerschaft steil. Und das abschließende 'Rock And Roll All Nite" ist eine Materialschlacht sondergleichen. Tommy und Gene schweben mit mächtigen Kränen über dem Publikum, während Eric mit seinem Schlagzeug unter die Hallendecke fliegt, Paul seine Klampfe zerschlägt und unter mächtigem Pyrogedöns ein großer Konfettiregen die Menschenmenge bedeckt. Natürlich kann es das noch nicht gewesen sein. Zum Abschluss zocken die Fleisch gewordenen Superhelden noch 'I Was Made For Lovin' You', das Paul vor unerträgliche Probleme stellt und schleunigst aus der Setlist fliegen muss, und das übermächtige 'Detroit Rock City', ehe die Hymne 'God Gave Rock'n'Roll To You II' vom Band das Publikum nach 110 Minuten überglücklich in die lauwarme Nacht entlässt.
Wieder einmal bin ich beeindruckt. Klar, es gibt etliche Wermutstropfen, aber ihre Lebensleistungen und der musikalische wie optische Einfluss auf die heutige Zeit sind unbestritten, wofür ihnen uneingeschränkter Respekt gezollt werden muss. KISS ist Spektakel, KISS ist amerikanisches Entertainment. Das kann man mögen oder für einen völlig überladen Zirkus halten, eines ist es aber definitv: jeden Cent des Eintrittspreises wert.
Setliste KISS: Deuce, Shout It Out Loud, Lick It Up, I Love It Loud, Firehouse (Gene spits fire), Shock Me (vocals: Thommy Thayer + guitar solo), Flaming Youth, Bass Solo + Gene spits blood, God Of Thunder, Crazy Crazy Nights, War Machine, Say Yeah, Psycho Circus, Black Diamond, Rock And Roll All Nite, Zugaben: I Was Made For Lovin' You, Detroit Rock City, God Gave Rock'n'Roll To You II (outro)
Bilder: Heiko Bendigkeit
- Redakteur:
- Chris Staubach