KISS - Hamburg

18.06.2015 | 13:13

02.06.2015, o2-World

Das Spektakel hat einen Namen. Der (Psycho) Zirkus ist in der Stadt.

Bevor wir beginnen, muss ich Folgendes klarstellen: Ich bin KISS-Fan seit Ende der Siebziger, trage also die rosarote Bandbrille und habe Paul Stanley spätestens, nachdem mir die Musik mehr bedeutet als die Show, tief und für immer in mein Herz geschlossen. So, wären die Fronten hiermit erst einmal geklärt.

Die vier Maskenmänner feiern ihr 40-jähriges Jubiläum (haben offiziell ja schon 1973 in New York City zum ersten Mal mit Lidschatten und Theaterschminke vor dem Spiegel gesessen) und schauen zu diesem Anlass auch in der Alten Welt vorbei. Und wie bei so vielen alten Rockveteranen stellt sich im Vorfeld die Frage: die eventuell letzte Gelegenheit noch einmal nutzen, oder sie lieber in guter Erinnerung behalten? Ich entscheide mich für die erste Variante, denn immerhin haben mich The Starchild, The Demon, The Spaceman und The Cat fast mein ganzes Leben begleitet und geprägt. Nicht jede von ihnen getroffene Entscheidung in der Vergangenheit mochte ich gutheißen, weiß aber nur allzu gut, dass es im Leben eben nicht immer so läuft wie man gerne möchte. Natürlich vermisse ich Schlagzeuger Peter Criss und vor allem Gitarrist Ace Frehley, aber bei aller (zu recht kritisierter) fehlender Authentizität habe ich selbst mit den beiden ehemaligen Protagonisten schon musikalisch schlechte Konzerte miterlebt, die mir noch heute die Nackenhaare nach oben stehen lassen. Denn eines kann man den Neuen, Eric Singer und Thommy Thayer, nicht nachsagen: dass sie schlechte Musiker sind. Es gehört sicherlich noch mehr dazu, als jede Note perfekt nachzuspielen, aber ohne die zwei Jungs wäre ein Event wie an diesem Dienstagabend in der ausverkauften o2-World in Hamburg eben nicht mehr möglich.

Bevor das Spektakel beginnt steht die amerikanische Supergroup THE DEAD DAISIES auf der Bühne. Angeführt von unter anderem ex-MÖTLEY-CRÜE-Sänger John Corabi, rotzen sich Gitarrist Richard Fortus und Keyboarder Dizzy Reed (beide ex-GUNS'N'ROSES), Bassist Marco Mendoza (ex-THIN LIZZY), Schlagzeuger Brian Tichy (ex-WHITESNAKE) und Gitarrist David Lowy durch ihr 45-minütiges Programm. Das ist reinrassiger Sleaze- und Partyrock, der in den Achtzigern sicherlich gut funktioniert hätte. Auch in der heutigen Zeit muss man den Jungs attestieren, dass sie die Musik ordentlich vortragen, es am Ende jedoch nicht richtig zündet. Irgendwie kann das Sextett trotz all ihrer Erfahrung die Bühne nicht richtig ausfüllen. Diese Band gehört definitiv in einen schwitzigen Klub.

Dann lässt sich die Hauptband enorm viel Zeit. Die Umbaupause dauert erheblich lange und selbst Shannon Tweed-Simmons und Erin Sutton stehen bereits eine halbe Stunde vor dem tatsächlichen Beginn am Mischpult – einschließlich Blitzlichtgewitter von allen Seiten. Funktionieren die Leinwände nicht richtig? Gibt es Probleme mit Pauls Fluggerät durch die Halle? Egal was, die Mannschaft spannt uns mächtig auf die Folter. Dann endlich geht das Licht aus. Der donnernde Subbass läutet die Messe ein und der obligatorische Schlachtruf folgt. Der Vorhang fällt und KISS steigt mit 'Detroit Rock City' in ein 90-minütiges Set ein, das nur so vor Klassikern strotzt. Es kracht und scheppert an allen Ecken und Enden. Die Bühne wirkt mit den unzähligen Lichtern fast schon überladen. Das Drumpodest schwebt unter der Decke, während die Leinwände rechts und links der Bühne für eine visuelle Reizüberflutung sorgen. Die Halle steht Kopf und vor allem mit aller Macht hinter Gene, Paul, Thommy und Eric. Die Party kann beginnen.

Schon beim Eröffnungsstück fallen Pauls gesangliche Schwierigkeiten auf. Seine Stimme bricht bei fast jeder Note. Daran hat sich der geneigte KISS-Fan in den letzten Jahren schon gewöhnen müssen, es ist jedoch immer wieder erschreckend, dass dieser unbestritten große Rocksänger mittlerweile zum musikalischen Schwachpunkt geworden ist. Im Anschluss feuern die Amerikaner mit 'Deuce' den nächsten Höhepunkt ab, wobei auch hier auffällt, dass Gene, gesanglich noch auf der Höhe, leicht kurzatmig und nicht mehr so intensiv wie früher singt. Und auch nach 40 Jahren freut sich der Fan auf die einstudierten Choreographien. Es ist schon eine Freude mitanzusehen, wie Jung und Alt gemeinsam die Luftgitarre schwingen und sich im Rhythmus des Songs bewegen. Die Tribüne wackelt bedenklich. Das anschließende 'Psycho Circus' ist ein tolles Lied, möchte nur in meinen Augen live nicht funktionieren - vielleicht weil auch hier Pauls Probleme unüberhörbar sind. Es folgen mit 'Creatures Of The Night', 'I Love It Loud' und 'War Machine' (inklusive Genes Feuerspuckeinlage) gleich drei Songs des 82er-Werks, die so und im Block sicherlich nicht erwartet werden durften. Positive Überraschung. Von der Songauswahl her machen die Rocker eh fast alles richtig, was die folgenden 'Do You Love Me?', 'Calling Dr. Love' und vor allem das grandiose 'Parasite' beweisen – da lässt sich auch 'Hell Or Hallelujah' vom letzten Studioalbum "Monster" verschmerzen.

Nach einer großartigen Version von 'Lick It Up' wird es Zeit für Gene Simmons. Er spuckt Blut und fliegt unter die Hallendecke, um sein obligatorisches 'God Of Thunder' anzustimmen. Egal wie oft man es mittlerweile gesehen hat, es fasziniert noch immer. Während Thommy Thayer immerhin einen kleinen Solospot am Ende von 'I Love It Loud' bekommt, bei dem er sich mehr oder weniger aber auf das Abschießen von Raketen aus seiner Gitarre beschränkt, erhält Schlagzeuger Eric Singer am heutigen Abend keinen Soloauftritt im Scheinwerferlicht. Dafür fährt er mehrfach mit seinem Podest bis unter die Hallendecke und ist für die hohen Gesangspassagen in den Refrains zuständig, die Paul sicherheitshalber, verständlicherweise und letztendlich zum Glück, einfach weglässt. Dann schwebt Paul Stanley in die Mitte der Halle auf sein eigens für ihn errichtetes Podest, um seine Hymne 'Love Gun' vorzutragen. Kommt gut, doch das Sternenkind muss kämpfen. Das scheint ihm selbst nicht richtig zu schmecken, denn gelegentlich entgleitet ihm der Gesichtsausdruck erkennbar – so nah ist das selbst unter der Schminke gut sichtbar. Mit 'Black Diamond' beendet KISS das Konzert standesgemäß und hinterlässt eine selige Fangemeinde, der man mit 'Shout It Out Loud', dem in Deutschland (leider) scheinbar unverzichtbaren 'I Was Made For Lovin' You' und der obligatorischen Bandhymne 'Rock And Roll All Nite' (Gene und Thommy werden über das Publikum gehievt, während Paul seine Klampfe zerschlägt) noch drei Zugaben kredenzt. Noch ein letztes Feuerwerk, ein letztes "we love you" und schon begleitet uns 'God Gave Rock And Roll To You II' vom Band hinaus in die angenehm kühle norddeutsche Abendluft.

Nach wie im Flug vergangenen neunzig Minuten ist klar, KISS hat wieder einmal nicht enttäuscht. Die Feuersäulen, die Pyros, das Konfetti, hier schwebt jemand in die Höhe, da schwebt jemand zur Seite, die überdimensionierten Leinwände, das Licht, der Sound – KISS sind showtechnisch noch immer das Nonplusultra. Auch musikalisch kann ich nicht viel meckern, von Pauls Wacklern und Genes gutem, aber leicht lustlosem Gesang einmal abgesehen. Und natürlich hätten sie auch gerne noch länger spielen dürfen; und natürlich haben mir persönlich ein paar Songs gefehlt, aber in dieser Hinsicht kann es eine Band mit diesem Backkatalog und Anzahl an Klassikern niemandem je recht machen.

Doch es gibt auch Grund für Kritik, die nichts mit der Band zu tun hat: Eine KISS-Show verkommt mittlerweile zu reinem Entertainment, amerikanischem Blockbuster-Rock'n'Roll. Es ist schön, wenn zahlreiche Väter mit ihren 10-jährigen Kindern, die nach einer halben Stunde einschlafen, zum Konzert kommen und sich an der übergroßen Cola und dem XXL-Popcorn für den Sohnemann festhalten – doch so richtig Rock'n'Roll ist das nicht. KISS kommt auf die Bühne und schon verwandelt sich das Menschenmeer in eine Lichterkette aus Handys und Digitalkameras – und jetzt mal bitte alle in die Hände klatschen. Was ist aus den Singalongs zwischen den Songs geworden? 1996 in der Frankfurter Festhalle musste Paul mehrfach das Publikum unterbrechen, um mit der Show fortfahren zu können. Und Hamburg Rock City schafft es nicht, bei 'Shout It Out Loud' einen eigenständigen Chor aufzubauen? Wirklich? Selbst bei 'Rock And Roll All Nite' ist es dem Publikum nicht möglich, die Band noch mehr als in der Standardvariante auf der Bühne zu halten. Wie wäre es mit Hüpfen, Stampfen und Halle abreißen? Zugabe-Rufe sind heutzutage anscheinend ebenso unangebracht. Geht es bei weiten Teilen des Publikums wirklich nur noch darum, das Ereignis von der eigenen To-Do-Liste streichen zu können? Sind wir tatsächlich schon zu einem reinen Event-Publikum verkommen?

Setlist: Detroit Rock City, Decue, Psycho Circus, Creatures Of The Night, I Love It Loud, War Machine, Do You Love Me?, Hell Or Hallelujah, Calling Dr. Love, Lick It Up, God Of Thunder, Parasite, Love Gun, Black Diamond, Shout It Out Loud, I Was Made For Lovin' You, Rock And Roll All Nite

Redakteur:
Chris Staubach

Login

Neu registrieren