KRAFTWERK - Dresden

29.09.2024 | 14:39

14.09.2024, Theaterplatz vor der Semperoper

"Katastrophentourismus" und elektro-musikalischer Hochgenuss!

 

"Man weiß ja wieder einmal nicht, ob er überhaupt dabei war!" Dieser lapidar-ironische Ausspruch eines Konzertbesuchers geht kurz nach 22:00 Uhr im Gelächter eines Freundesgrüppchens unter, das, wie ich und meine Frau, beim Verlassen des ausverkauften Konzertgeländes auf dem Dresdner Theaterplatz gutgelaunt über das Kopfsteinpflaster vor der Semperoper stolpert und nebenher das Erlebte Revue passíeren läßt. Mit "er" ist im Zusammenhang mit KRAFTWERK natürlich Ralf Hütter gemeint, der mittlerweile achtundsiebzigjährige Mastermind der deutschen Pioniere des Elektro-Pop.

 

 

Abseits aller humorvollen Gedankenspiele bin ich mir sicher, dass jener Herr auf dem Gerüst vor der ehemaligen königlichen Hofoper Sachsens anwesend war, umgeben von seinen drei aktuellen Mitstreitern Henning Schmitz, Falk Grieffenhagen und Georg Bongartz. Das ist an jenem Samstagmorgen vor dem Konzert zunächst bei weitem auch nicht unser größtes Problem! Nachdem die freitagnachmittägliche Anreise bereits einem wahnwitzigen Höllenritt durch ein auf ostdeutschen Autobahnen Realität-gewordenes Cover von SULPHUR AEON glich, gehen meiner Frau und mir beim opulenten Hotelfrühstück eher folgende Gedanken durch den Kopf: Wie kalt, und vor allem wie nass wird es heute Abend? Wird das für Sonntag angekündigte Hochwasser an der Elbe bei dem ganzen Regen bereits am Samstagabend eintreffen? Soll ich mir noch eine Regenjacke besorgen, weil die alte den Weg alles Irdischen gegangen ist?

Letzteres wird dann shoppenderweise in die Tat umgesetzt, eine gelbe, wasserabweisende Outdoorjacke zum Angebotspreis geht im Laufe des Vormittags in meinen Besitz über. Inzwischen hat der Regen aufgehört. Nebenbei checken wir schon einmal unseren etwa einen Kilometer langen Laufweg zur Semperoper ab, nehmen den Vorplatz in Augenschein und schwelgen danach geradezu schelmisch-frivol in "Katastrophentourismus": Keine 400 Meter am Ufer der Elbe entlang in entgegengesetzter Richtung des berühmten Opernhauses kann man derzeit die mittlerweile deutschlandweit berühmt-berüchtigte, eingestürzte "Carola-Brücke" bestaunen. Als Melli und ich die Handies auf einer vorgelagerten Brücke für "Ich war da!"-Fotos zücken, tun dies zig andere Touristen aus vieler Herren Länder gemeinsam mit uns. Zu jenem Zeitpunkt schippert gerade ein kleines Schiff zwischen den Trümmern herum und leistet offenbar Vorarbeit für die anstehende Bergung der eingestürzten Brücke. So weit, so seltsam.

 

 

 

Nach einem leckeren Mittagstisch in unserer Unterkunft und einer ausgedehnten Siesta stapfen wir relativ dick eingepackt gegen 18:45 Uhr wieder in Richtung Semperoper los. Schönerweise hat es bis jetzt nicht mehr angefangen zu regnen. An der Oper sammeln sich bereits viele der schlussendlich etwa 18500, teilweise aus dem Ausland angereisten, Besucher, die das Konzertspektakel an der Fassade eines der bekanntesten deutschen Opernhäuser live erleben wollen, die aufgestellte Tribüne an der gegenüberliegenden Seite des Platzes mit den Sitzplätzen ist bereits gefüllt. Dennoch kommen wir noch auf das Kopfsteinpflaster des Theaterplatzes und nehmen unseren Standpunkt etwa 10 Meter linkerhand des König-Johann-Denkmals ein, das bei zunehmender Dunkelheit nur noch schemenhaft neben uns zu erkennen sein wird. Bevor wir uns in der Menschenmenge einbauen lassen, stürze ich noch schnell zum 50 Meter hinter uns befindlichen Merch-Zelt und sichere mir ein "Autobahn"-T-Shirt, dessen aufgerufener Preis mich fürwahr erstaunt: 30€ für ein Leibchen einer Band mit dieser weltweiten Reputation ist, gelinde gesagt, derzeit ein "Schnapper"! Stoffbeutel kosten 10€, Poster deren 15, da kann man nicht meckern, das alles sieht man momentan allerorten bei großen Bands sehr viel teurer!

Ungefähr um 19:30 Uhr wird ein letzter Lichtcheck an der Kuppel der Semperoper durchgeführt, der von einem uns sehr belustigenden Raunen durch die gesamte Menschenmenge begleitet wird. Derselbe Ton neugierigen Erstaunens ist noch einmal zu vernehmen, als die vier verpixelten Roboter mit rotem Hintergrund auf dem Screen unterhalb des mittigen Bühnengerüsts erscheinen. Urplötzlich sind Hunderte von Handies in der Luft. Das sind sicher nicht nur junge Leute, die hier knipswütig ihre "Kacheln" hochhalten, gewiss nicht bei Elektro-Dinos wie KRAFTWERK, geht es mir durch den Kopf. Um 19:55 Uhr ist es dann soweit: KRAFTWERK betritt unter sachtem, aber fröhlichem Applaus ihre Gerüstbühne und legt nach der förmlichen Begrüßung durch eine synthetische Stimme mit 'Nummern' los.

Der Klang ist von Beginn an großartig, in der Tat perfekt, um den Superlativ gleich loszuwerden. Wahrscheinlich habe ich noch nie einem so gut klingenden Open Air-Konzert beigewohnt, jeder Ton erklingt glockenklar ausgesteuert, in dynamischer Lautstärke, an jedes Lied und jeden Part offensichtlich manuell oder vorprogrammiert angepasst. Die mannigfachen Soundeffekte und Samples ertönen crisp inmitten der in keiner Frequenz zu lauten, aber dennoch alle Geräusche auf dem Platz in Tanz-Lautstärke abdeckenden Musik. Es ist ein elektronisches Fest für die Ohren, das da vor der Semperoper stattfindet! 'Computerwelt' und 'Computerwelt 2' schließen sich nahtlos an und bilden mit 'Nummern' den ersten vollständigen Track des Abends. Nach ganz kurzem Applaus ertönt ein Songdoppel mit 'Heimcomputer' und 'It's More Fun To Compute'.

Die meisten Lieder haben viele der Anwesenden, die sich ein wenig mit der Musik von KRAFTWERK auseinandersetzen konnten, sicherlich schon einmal gehört. Die Band, seit 2021 Mitglied der Rock And Roll Hall Of Fame, die von ganzen Scharen von Künstlern, darunter DAVID BOWIE, DEPECHE MODE, ULTRAVOX und RAMMSTEIN als Einfluss genannt wurde, gar häufig als einflussreichste Musikgruppe aller Zeiten bezeichnet wird, geht auf Nummer sicher und präsentiert dem Event-Publikum einen breitgefassten Querschnitt durch ihr Schaffen, legt dabei den Schwerpunkt ganz klar auf die bekanntesten Stücke. Dass wenig ganz ausgespielt oder nur in Ausschnitten und Kurzversionen präsentiert wird, fällt nicht ins Gewicht, jedenfalls nicht für Konzertgäste wie mich, die KRAFTWERK eher als musikalischen Wegbereiter jeglicher elektronischen Musik würdigen und schätzen, aber nicht wirklich Kenner und Konsumenten des gesamten Schaffens der Band sind. Der Star ist an diesem Abend neben dem genialen Ohrenschmaus einer hervorragend ausgesteuerten elektronischen Musikdarbietung sowieso die schwer zu beschreibende, weil sich ständig verändernde und in Farben, Formen und Motiven voranschreitende Multimedia-Show von KRAFTWERK!

Es ist wahrlich ein visuelles Spektakel, ein Festmahl für die Augen, das da an der vorderen Fassade der Semperoper präsentiert wird. Der "Screen" ist die gesamte Front des alt-ehrwürdigen Gebäudes, die teils komplett deckend in Farben getaucht wird, teils nur einzelne, sozusagen "ausgeschnittene", Projektionen abbildet, welche währenddessen den Blick auf das Gemäuer des Bauwerks weiterhin zulassen. Dabei ist das visuelle Geschehen stets in dynamischer Bewegung, das Tempo passt selbstredend immer zur Geschwindigkeit der Musik und vor allem zum Inhalt oder Thema, was bei 'Autobahn' oder 'Trans-Europa-Express' beeindruckende Dimensionen annimmt. In der darauffolgenden Woche wird die Band selbst in ihren sozialen Medien ein Luftbild dieses Abends von Semperoper und Theaterplatz veröffentlichen, das die Stimmung des Konzerts wunderbar wiedergibt. Zusätzlich wird man darauf Zeuge der unerwarteten Tatsache, dass das Wetter bis auf recht kühle Temperaturen bei fast klarem Himmel wunderbar gehalten hat. Der Wettergott hört Elektro!

Das Auftreten, die Art zu musizieren und der Gebrauch von Multimedia, Licht und visueller Technik war bei KRAFTWERK seit Bestehen der Band einer immerwährenden, nie still stehenden Entwicklung ausgesetzt. Man bezeichnet sich bereits seit jeher eher als Multimedia-Projekt, denn als Band. Derzeit ist der visuelle Unterschied zu den Shows anderer Künstler mit opulenten visuellen Elementen alleine durch die Wahl der Locations und die genaue Abstimmung auf die Musik gegeben, der technische Abstand ist jedoch gehörig kleiner geworden. Die Popwelt hat im Laufe der Jahrzehnte eben von KRAFTWERK gelernt, und ihre eigenen technischen Visionen mit ganz anderen Budgets vorangetrieben, so dass es nun für manchen so aussehen mag, als ob die Elektropioniere sich diesbezüglich an anderen orientieren. Das Gegenteil ist der Fall! Auf Youtube gibt es übrigens diverse beeindruckende Videos (nicht von der Band selbst) zu Live-Auftritten der deutschen Band. Der Leitsatz von Ralf Hütter war stets "Entpersonalisierung", der Mensch soll auf der Bühne in den Hintergrund rücken und sich die Technik zunutze machen.

Zwanzig Tracks "spielen" die drei "Audio-Operatoren" und der "Video-Operator", einige Male aus zusammengefassten Ausschnitten mehrerer Lieder bestehend, wie auch bei den Höhepunkten 'Tour de France/Tour de France Etape 3/Chrono/Tour de France Etape 2' oder'Trans-Europa Express/Metall auf Metall/Abzug' und dem Finale des Haupkonzerts 'Boing Boom Tschak/Musique Non Stop'. Dabei ist vor allem letztgenannter als eindrucksvoll hervorzuheben, weil die kindisch verspielte, perfekt klingende und visuell comichaft veranschaulichte Lautmalerei von 'Boing Boom Tschak' in den Elektro-Evergreen 'Musique-Non Stop' übergeht, dessen Catch-Phrase und somit den Titel viele Radiohörer aus Jingles, also Einspielern kennen, ohne zu wissen, dass das zugrundeliegende Stück von KRAFTWERK stammt. Das ist spannend visualisierte elektronische Popmusik mit allerhöchstem Unterhaltungswert! Einfach Super!

Weitere, sozusagen "gesetzte" Höhepunkte sind der, trotz Kälte enthusiastisch begrüßte, erste Elektro-Hit überhaupt aus dem Jahr 1975 'Autobahn', sowie 'The Man-Machine', dessen zweiter Vers auf Deutsch gesungen wird. In dem Hit-Reigen und den vielen, völlig vereinnahmenden, in ihren Bann ziehenden visuellen Darstellungen auf der Fassade der Semperoper geht der dreineinhalb-Minüter und dennoch größte kommerzielle Erfolg der Band fast etwas unter: 'Das Model' wird in dieser Kulisse vor diesem Publikum natürlich auch nicht vergessen! Ein "Geheim-Hit" wird gleich an dritter Stelle gespielt: 'Spacelab' von 1978. Ein Lied, das damals inhaltlich und sozusagen wissenschaftlich am Puls der Zeit den Nerv der Hörer traf. Nachdem die Band von der Bühne gegangen ist, denken sicher viele, dass da doch noch etwas fehlt. Welcher Song es ist, wird einem bewusst, als unter nun großem Publikumsapplaus die vier Kraftwerker wieder auf das Gerüst kommen und ihre Konterfeis in Gestalt der berühmten Roboter in den roten Hemden über das steinerne Frontgemäuer der Semperoper huschen. '(Wir sind) die Roboter' ist der grandios illuminierte letzte Track, der das Konzert abschließt.

Setliste: Nummern/Computerwelt/Computerwelt 2; Heimcomputer/It's More Fun To Compute; Spacelab; Ätherwellen; Tango (unveröffentlicht, gekürzt); The Man-Machine (2. Vers auf Deutsch); Electric Cafe; Autobahn; Computer Liebe; Das Model; Neonlicht; Geigerzähler; Radioaktivität; Tour de France/ Tour de France Etape 3/Chrono/Tour de France Etape 2; Trans-Europa Express/Metall auf Metall/Abzug; Planet der Visionen; La forme; Vitamin (Die Visualisierung war nicht synchron); Boing Boom Tschak/Musique Non-Stop; Zugabe: Die Roboter

 


 

Nach dem zweistündigen Event, dieser Begriff passt hier einmal, bin ich sprachlos wie selten. Es ist in mehrerlei Hinsicht ein denkwürdiges Konzertspektakel, das da am 14. September vor der Dresdner Semperoper stattfindet. Jahrhundertealte Baukunst verschmilzt mit retrospektiver Elektromusik, die modern und auf dem neuesten Stand der Visualisierungs- und Soundtechnik auf allerhöchstem Niveau an der Grenze zur Perfektion atemberaubend in Szene gesetzt wird! Mir fehlt der Vergleich mit den Veranstaltungen von KRAFTWERK am Schloss Schönbrunn in Wien Anfang Juli diesen Jahres oder am Schloss in Karlsruhe im August 2023, aber heute Abend ist es das sprichwörtliche ganz, ganz große Kino! Ein Tipp zum Schluss: Nachschauen bei Youtube lohnt sich, da meine Handyfotos nur einen winzigen Eindruck der Show geben können!


Photo Credit: Timo Reiser


Redakteur:
Timo Reiser

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