LINKIN PARK - "From Zero" Livestream - Los Angeles

15.09.2024 | 22:55

06.09.2024, Sound Studios

Erfolgreicher Start in eine neue Ära?

Es ist tatsächlich wahr: LINKIN PARK kehrt sieben Jahre nach dem Tod von Chester Bennington zurück und das direkt mit einem Paukenschlag. Erst wurden die Fans zwar mit einem recht eigenartigen Countdown hinters Licht geführt, der endete, nur um anschließend wieder hinaufzuzählen. Alles nur eine Ente? Wieder nur die Ankündigung eines Boxsets? Nun, um 00:00 Uhr deutscher Zeit am 6. September gibt es Antworten in Form eines Livestreams, bei dem die Band im Rahmen eines Konzertes nicht nur das neue Line-up vorstellt, sondern auch gleich noch einen neuen Langspieler namens "From Zero" und die dazugehörige Tour ankündigt.

Und als schließlich zum Intro 'Inception' symbolisch der Staub und die Abdeckungen von den Instrumenten entfernt werden und das Sextett die Bühne betritt, gibt es durchaus ein paar Überraschungen zu vermelden. So sind mit Bandkopf, Sänger und Multiinstrumentalist Mike Shinoda, DJ Joe Hahn und Basser Dave "Phoenix" Farrell zwar drei bekannte Gesichter zu sehen, doch abseits des neu zu besetzenden Postens am Mikrofon gibt es auch weitere Änderungen. So gehört zwar Gitarrist Brad Delson im Studio weiterhin zu LINKIN PARK, möchte in Zukunft aber auf das turbulente Tourleben verzichten und wird auf der Bühne von seinem Techniker Alex Feder würdig vertreten. Ebenfalls neu dabei ist Colin Brittain am Schlagzeug, der Rob Bourdon ersetzt, der sich laut Mike Shinoda in der Folge des tragischen Todes von Chester immer weiter von der Band entfernt hatte und bereits bei der Promotion vergangener Boxsets und Neuauflagen nicht mehr dabei war. Den dicksten Brocken, den es für Fans zu schlucken gilt, markiert aber wohl der Wechsel am Gesang, bei dem das Sextett einen ungewöhnlichen Weg geht. Anstatt Chester nämlich wie von vielen gehofft beispielsweise mit einem Sänger einer der diversen LINKIN PARK-Coverbands zu ersetzen, die teilweise fast schon unheimlich nah an die Stimme des ehemaligen Fronters heranreichen, übernimmt ab sofort Emily Armstrong (DEAD SARA) den Posten am Mikrofon. Für mich eine geniale Entscheidung, denn dank des Geschlechterunterschieds fällt es deutlich schwerer, sie direkt eins zu eins mit Chester zu vergleichen, womit der Band gleichzeitig der Weg in eine neue Ära offensteht.

Doch später mehr zur neuen Frontfrau, denn erst einmal möchte ich einen Disclaimer vorweg schicken: Auch ich habe in den letzten Tagen die Diskussionen im Internet verfolgt, die Emily Armstrong aufgrund einer Mitgliedschaft bei Scientology und Anschuldigungen in Bezug auf die Unterstützung des inzwischen verurteilten Vergewaltigers Danny Masterson am liebsten schon wieder aus der Band schreiben würden. Wir halten uns hier aber an die Fakten und beteiligen uns nicht an irgendwelchen Vorverurteilungen. Gesichert ist nämlich nur bekannt, dass Emily als Kind zweier recht hochrangiger Scientology-Mitglieder in die Sekte hineingeboren wurde und Danny Masterson in diesem Rahmen als Freund kennengelernt hat. Zu den Vorwürfen bezüglich seiner Verhandlung hat Emily inzwischen auf Instagram selbst Stellung bezogen und zu Protokoll gegeben, dass sie bei einer früheren Anhörung anwesend war, sich in Masterson (wie übrigens viele andere prominente Kollegen ebenfalls) getäuscht hat und seit dem Bekanntwerden der Details seiner Straftaten keinen Kontakt mehr zu ihm unterhält. Zu Scientology nahm sie dabei keine Stellung, dürfte aber als Frau, die sich offen der LGBTQ+-Bewegung zuordnet, sicher keinen leichten Stand in einer Sekte haben, deren Glaubensgrundlage andere sexuelle Ausrichtungen als heterosexuelle als Perversionen einstuft. Ob euch das reicht, um euch die Freude an zukünftigen LINKIN PARK-Veröffentlichungen zu nehmen, müsst ihr am Ende selbst entscheiden.

Nun aber zurück zum Livestream und der viel wichtigeren Frage: Wie schlägt sich Emily als Ersatz für einen der großartigsten Sänger der letzten Dekaden, der so viele Menschen geprägt hat? Nun, vorerst bleibt uns die Antwort hierauf verwehrt, denn LINKIN PARK eröffnet das Konzert, das übrigens in einer Sound Stage in Los Angeles vor einer ausgewählten Anzahl von Mitgliedern des Fanclubs stattfindet, selbstbewusst mit der neuen Single 'The Emptiness Machine'. Dabei steht die Band für die erste Strophe und den ersten Refrain nur zu fünft auf der Bühne, auch weil hier Mike Shinoda sämtliche Vocals übernimmt. Erst zur zweiten Strophe kommt Emily auf die Bühne und übernimmt mit ihrem sehr eindrucksvollen Gesang recht schnell das Zepter. Dabei kann die Sängerin von melodischen Passagen bis zu herrlich angezerrtem Schreien ein weites Repertoire abdecken, das in der neuen Single sehr gut zur Geltung kommt. Insgesamt überzeugt mich die Nummer vom Fleck weg und lässt mich sofort mit großer Neugier auf weiteres frisches Material zurück. Die Frage nach der Kompatibilität mit den Klassikern bleibt aber natürlich und wird auch sofort mit 'Somewhere I Belong' und 'Crawling' beantwortet. Ich bin ehrlich, gerade bei diesen beiden Songs wehrt sich mein Gehirn zu Beginn noch deutlich dagegen, die Nummern mit einer anderen Stimme als der von Chester zu akzeptieren. Das liegt aber wohl mehr an der Gewohnheit als an Emilys Performance, denn gerade beim anspruchsvollen 'Crawling' macht sie einen grandiosen Job. Ihre Stimme hat dabei durchaus Anleihen, die an Chesters einmaliges Organ erinnern, gleichzeitig bringen gerade ihre Screams aber auch einen deutlich metallischeren oder Hardcore-Anstrich mit ein, den es so bisher bei LINKIN PARK noch nicht zu hören gab. Für mich als Fan dieser Art von Screams passt das wunderbar, auch weil sie es schafft, die Aggression und Verzweiflung der originalen Gesangspassen in ihrem ganz eigenen Stil rüberzubringen.

Meine letzten Zweifel verschwinden aber erst, als Emily in 'The Catalyst' und vor allem 'Waiting For The End' stimmlich zu kämpfen hat. Mehrmals muss sie sogar absetzen und überlasst das Mikrofon den Zuschauern, weil ihre Stimme versagt. Das liegt mitunter aber nicht daran, dass sie etwa nicht das Durchhaltevermögen hätte, um diese anspruchsvollen Songs zu singen (solche Vermutungen tauchen natürlich sofort im Chat zum Livestream auf), sondern daran, dass sie ganz offensichtlich von ihren Emotionen überwältigt wird. Was für ein Druck auf ihren Schultern angesichts des überdimensionalen Erbes von Mr. Bennington lasten muss, kann ich mir nur schwer vorstellen. Und dass die Fans so gut auf sie reagieren, treibt ihr sichtlich die Tränen in die Augen. Genau diese menschliche Komponente und die Tatsache, dass die Show dank selbiger nicht perfekt ist, macht mir Emily und auch die neue Inkarnation von LINKIN PARK aber so sympathisch. Schon immer empfand ich die Spontanität und die rohen Emotionen, die das Sextett auf der Bühne transportieren konnte, als größte Stärke der Amerikaner. Dass die neue Mannschaft genau diese Punkte beibehält und von Rührung über Wut bis hin zu Freude (Mike grinst während der gesamten Show wie ein Honigkuchenpferd) das gesamte emotionale Spektrum transportieren kann, stimmt mich sofort sehr positiv. So bin ich dann auch spätestens bei 'What I've Done', 'In The End' und einer grandios aggressiven Version von 'Faint' endgültig komplett an Bord und aus Skepsis ist in knappen 45 Minuten wirkliche Begeisterung geworden. Eine bissige Version von 'Papercuts', bei der Mike und Emily demonstrieren, dass ihre Stimmen beim Klargesang auch perfekt miteinander harmonieren, und das gewohnt ausgelassene 'Bleed It Out', bei dem Mike eine Strophe von 'A Place For My Head' in der Bridge rappt, setzen diesem gelungenen Neustart dann für mich schlussendlich die Krone auf und entlassen mich zu unchristlich später Stunde in den dringend benötigten Schlaf.

Mit etwas Abstand und ein paar mehr Runden des Livestreams in den folgenden Tagen haben sich meine ersten Eindrücke dann auch bestätigt. Klar, Chester kann man einfach nicht ersetzen und LINKIN PARK mit ihm am Mikrofon wird immer einen ganz besonderen Platz in meinem Herzen haben, doch mit Emily am Mikrofon haben Mike und Co. für mich eine herausragende Entscheidung getroffen. Einerseits bringt die neue Fronterin nämlich jede Menge eigenen stimmlichen Charakter mit, wird aber mit ihrem Stil auch den Klassikern gerecht und vermag es, Chesters Gesangspassagen überzeugend rüberzubringen. Entsprechend bin ich auch sehr gespannt auf "From Zero", das am 15. November 2024 erscheinen wird, und ebenso auf die anstehende Tour, denn mit etwas mehr Routine wird diese neue Besetzung noch einmal besser klingen, als sie es am heutigen Abend bereits getan hat, und wird mit ziemlicher Sicherheit den vakanten Thron im Mainstream-Alternative-Rock/Metal-Sektor wieder einnehmen.

Den kompletten Livestream könnt ihr euch übrigens hier noch einmal ansehen:

Redakteur:
Tobias Dahs
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