Lindenpunk - Potsdam
14.11.2006 | 00:0628.10.2006, Lindenpark
Punks betrinken sich bis zum Umfallen und können sich wie Urmenschen zerfeiern: Dieses traditionelle Klischee hat sich auch beim zweiten Lindenpunk-Festival bestätigt. Denn schon bei den ersten Schritten im Inneren des Potsdamer Lindenparks sind gegen 20 Uhr die Zeichen der alkoholischen Dauervernichtung unübersehbar: An den Wänden liegen viele verendete Existenzen, einmal mit und einmal ohne Iro. POPPERKLOPPER und BLUTIGER OSTEN sind leider zu dieser Zeit bereits von der Bühne gegangen, gegen 18 Uhr hat die Tanzveranstaltung begonnen. Es spielen BAMBIX, geradliniger Punkrock mit einer markanten weiblichen Stimme saust durch die Hörrohre. Beinahe interessanter sind die Publikumsreaktionen vor der Bühne. Denn ein ganz besonderes Spezi Fan hat zwar noch seinen grünen Kapuzenpulli und sein Springerstiefel an. Doch fehlen ihm die Hosen. Alle Hosen. So pogt er mit baumelndem Vorsatz. Völlig von Schmerzen befreit. Rundherum springen auch viele Punker herum, doch der meiste Teil des Publikums ist noch mit den Sportarten "Warmtrinken" oder "Weitersaufen" beschäftigt. Die Stimmung im fast ausverkauften Haus ist grandios.
Weiter geht es mit OHL, der eigentlichen Gewinnerband des Abends. Denn was die Oberste Heeresleitung, so der ausgeschriebene Name, an diesem Abend zelebriert, ist brutaler Punk der Marke "Alle können uns am Arsch lecken". Mit Energie und Druck klingt ihre eigentlich recht einfach gestrickte Musik fast wie Metal, Aggression und Wut klingen in jeder Note mit. Ihr Sänger mit dem klangvollen Namen "Deutscher W" ist dabei der Mittelpunkt des Geschehens: Und natürlich geht er mit dem nötigen Quentchen Selbstironie auf den umstrittenen Ruf seiner Band ein: "Wir sind CDU-Punker." Doch wirklich interessieren tut dies niemand, am Wenigsten die OHL. Sie drücken, sie treiben ihre Fans in den größten Pogo-Moshpit des Abends. Und haben am Ende ein ganz besonderes Geschenk: Der 'Werwolf' klingt in der OHL-Version böse, verstörend und aggressiv. Schlicht unglaublich! Doch die Punk-Legende scheint bei den Zuschauern nicht nur die Affinität zu Begeisterungsstürmen zu fördern: Auch asoziales Verhalten ist zu beobachten. Etwa von dem jungen Mann, der plötzlich seine Hose runterlässt und in den Lindenpark sein durch die Nieren gelaufenes Bier verteilt. Als er mit seinem Geschäft fertig ist, kommt seine mutmaßliche Freundin, greift ihm in den Schritt und zerrt ihn mit sich weg - beide Personen werden bei den folgenden zwei Bands nicht mehr gesehen ...
Dafür ist bei TOXOPLASMA wieder der nackige Poger am Start, inzwischen nur noch mit Springerstiefeln bekleidet. Nicht nur er ist begeistert: Die Band, wie OHL eine bereits seit zwanzig Jahren existierende Legende der deutschen Punkmusik, bekommt ähnlich viel Zuspruch wie die Heeresleitung. Das liegt vor allem an solchen Klassikern wie 'Deutsch in Kaltland', die in ihren drei bis vier Minuten Spieldauer alle Klischees von klassischem Deutschpunk in sich vereinen: Die Texte sind dezidiert links, die Spielart ist durchweg ruppig, dem ungeliebten Gesellschaftssystem wird der Mittelfinger entgegengestreckt. Nachvollziehbar ist dieser Ansatz, nur eben nicht jedermanns Geschmack. Denn anders als bei OHL, die geschickt gerade solche politische Korrektheit vermeiden und mit ihrem Image natürliche Ecken und Kanten besitzen, bleiben TOXOPLASMA relativ vorhersehbar durch ihren unbedingten Anspruch, mit ihrer Musik für eine bestimmte Politik einzutreten. Geschmackssache. Dennoch, der Auftritt an sich ist mitreißend: Denn zum Beispiel Sänger Wally sucht regelrecht die Nähe der Fans, will mit ihnen feiern, streckt ihnen immer wieder das Mikro hin, damit sie die schnell auswendig zu lernenden Texte mitgrölen können. Und die Songs sind durchweg rockbar, ohne Frage. Damit ist nach dem Gig vor allem klar, dass TOXOPLASMA zu Recht immer noch eine der wichtigsten deutschen Punkbands sind - aber auch, dass ihr Anspruch, mit erhobenem Zeigefinger linke Politik durch Musik zu transportieren, auf Dauer auch schnell langweilig werden kann, weil schlicht die Selbstironie fehlt, wie sie OHL im Vergleich ohne Probleme zelebrieren können.
Danach ist die Luft im Saal noch schlechter und im Publikum kehrt ein wenig Erschöpfung ein. In der angrenzenden Bar liegen auf zwei Tischen Leute in der stabilen Seitenlage und schlafen ihren Rausch aus. Der Boden im Lindenpark gleicht einem Becherfriedhof. Mit diesen ersten Anzeichen der Ermüdung haben die TURBO A.C.'s am Anfang ihres Gigs zu kämpfen: Selbst einer der Kameramänner, die alle Auftritte für die nächste DVD zu dem Festival aufnehmen, kommt einige Minuten zu spät. Aber den Jungs aus den USA macht das nichts aus: Beherzt spielen sie auf - und können die Zuschauer mit ihrem deutlich von TURBONEGRO beeinflussten Punkrock nach ein paar Songs für sich gewinnen. So tanzen zum Schluss alle, die noch da sind und noch stehen können - ob Metalhead, Alt-Punker oder Neu-Iro-Träger. Es ist ein überzeugendes Ende eines genialen Festivals, bei dem alle musikalischen Schattierungen der Punk-Szene abgedeckt werden. Auf die nächste DVD dürfen sich die Fans deshalb schon freuen. Und auf den nächsten Lindenpunk. Nur einer wird den Abend in Potsdam wohl nicht in ganz so guter Erinnerung behalten: Denn irgendwann, kurz nach TOXOPLASMA, kommt die Freundin des nackt tanzenden Typs an und hält ihm wortlos seine Klamotten hin. Wenn es da mal keinen Ärger gegeben hat ...
- Redakteur:
- Henri Kramer