New Model Army - Berlin

03.11.2005 | 10:47

29.10.2005, Huxley's

Wahre Größe zeigt sich manchmal erst zum Schluss: Als NEW MODEL ARMY an diesem Samstagabend ihre letzten beiden Songs spielen, ist die Hälfte des Berliner Publikums schon gegangen. Nur noch ein paar Zufällige sind da - und eben die Fans, die 20 Minuten lang sich ihre Rachen nach Zugabe wund gebrüllt haben, obwohl das Licht im Huxley's schon lange eingeschaltet ist. Für diese ausdauernden NEW MODEL ARMY-Maniacs erscheint Bandkopf Justin Sullivan überlebensgroß an der Wand - sein durchtrainierter Körper wird durch die vielen Kunstlicht-Scheinwerfer hinter in einer perfekten Silhouette an die Wand des Konzertsaals geworfen. Das Riesen-Schattenbild bewegt sich hin und her, der Star auf der Bühne spielt die wirklich allerletzten beiden Songs eines wunderbaren Konzerts mit genau der gleichen Energie wie schon die zwei Stunden vorher, fanverliebt, beschwörend, mit eben der Größe, wie sie ein Mensch haben kann, der eine der wichtigsten Rock-Punk-Bands des Planeten seit zwei Jahrzehnten anführt...

Rückblick, drei Stunden vorher. Noch ist das Huxley's nicht ganz gefüllt, doch HONIGDIEB als Vorband steht schon auf der Bühne. Band? Ein-Mann-Show-mit-Begleitmusikern trifft es wohl besser. Klar, da sind am Anfang auch Augenöffner auf der Bühne, die sonst bei Rock-Konzerten eher nicht zum Inventar zählen: Ein Geiger, ein Typ mit einem extra schmalen Kontrabass und eine Flötistin, dazu ein standardmäßiger Gitarrist und ein Drummer: Doch als Sänger Hannes mit seiner blauen Mini-Diskokugel im Ohr auf die Bühne kommt, verblassen seine Mitmusiker gegen diese Erscheinung. Sein Auftreten und seine Stimme setzen die Akzente. Die Musik zu seinen skurrilen Tanzkünsten ist eine wilde Mischung aus Ska, Rock, Klassik und Punk, mal langsam, mal schnell, kaum zu beschreiben, deshalb wohl "Einzig, aber nicht artig", wie auch das aktuelle Album der Nordrhein-Westfalen heißt. Von dem kommt zum Beispiel das coole Lied 'Madame', mit dem coolen Refrain für alle potentielle Groupies, die Sänger Hannes an den durchtrainierten Bauch tatschen wollen: "Fick dich ins Knie, Madame..." Bei solchen Songtexten ist es nur logisch, dass ein Teil des kommenden Materials schon jetzt auf der Tour entsteht, im Bus, wie Gitarrist Guido und Geiger Raimund vor dem Gig beim Interview verraten: "Ein Teil der Gespräche hier auf der Tour kommen eventuell als Text auf das neue Album, Hannes hat da immer neue Ideen", sagt Guido - und Raimond stimmt zu. Und auch wenn Hannes einmal die Textideen zu einer Melodien ausgehen sollten: Seine Band ist so erstklassig, dass sie sicher für neue Ideen sorgen werden - zumindest kommen sie trotz der dominanten Präsenz ihres Frontmanns durchaus selbstsicher auf der Bühne rüber. So unterhält die Band gut 40 Minuten lang den Saal, spendet schicke Melodien und hält den Rhythmus für ihren pantomimisierenden Hannes. Welche Textpassagen bleiben dabei besonders im Kopf hängen?
[Henri Kramer]

Wahrscheinlich solche makaberen Zeilen wie "Montag Selbstmord, Dienstag Selbstmord, Mittwochs Selbstmord - Sonntag Sonnenschein" zum Lied 'Sonne Mond und Sterne' - Songtitel und Text scheinen nicht unbedingt zusammenzupassen. Dieser Eindruck wird zusätzlich durch die abwechslungsreiche Stimme von Hannes verstärkt, aber am Ende ist es trotzdem meist rhytmisch und witzig. Der scheinbar total durchgeknallte Sänger von HONIGDIEB verändert sich auch optisch öfter: Zunächst trägt er noch einen Mantel. Irgendwann verschwindet dieser und das darunter befindliche Shirt ebenfalls - so dass er bei einem der Lieder oberkörperfrei und mit Zylinder erscheint; aber der steht ihm auch ohne Shirt. Genauso leichtlebig wie mit seinen Oberteilen geht er mit seinen Kopfbedeckungen um. Bei 'Ach du süße Kleine' trägt er nämlich lieber eine weiße Bommelmütze und wippt fleißig vor sich hin. Anscheinend wird das jedoch einigen Zuschauern langsam zu verrückt, denn die Begeisterung für die Band hält sich doch in Grenzen. Aber bei solch einem Hauptakt muss auch ein "Aufhören"-Ruf toleriert werden und so bekommen die Zuschauer die letzten Minuten des Auftritts nochmals einen quieckfidelen Hannes präsentiert: Erst müssen die Ballustraden dran glauben, auf denen er herumklettert; und dann auch noch der Bartresen. Nach dem kurzen Schaulauf ist der Auftritt fast beendet - und es gibt genug Applaus für die Jungs und die Dame. Damit kann das Warten auf NEW MODEL ARMY beginnen.
[Franziska Böhl]

Als die "Altrocker" - immerhin haben sie ihre Gitarren schon fast 25 Jahre in der Hand - endlich die Bühne betreten, ist die Begeisterung im Publikum groß. Besonders wegen Justin Sullivan, der eben NEW MODEL ARMY ist, samt seiner Band. Eben dieser Mr. Sullivan ist der Mittelpunkt, angestrahlt von mehreren Scheinwerfern. Das neue Album "Carnival" will er an diesem Abend vorstellen - mit Bravour gelingt es. Energisch spielt er seine Gitarre, wilde Gesten, aufgerissene Augen, ein Gesicht, wie es der Rock'n'Roll erschaffen hat und wie es wohl die weiblichen Fans immer noch lieben. Doch bei seinem ausdrucksvollen Gesang zeigt sich immer, wenn er den Mund richtig aufmacht, die Schattenseiten des Lebens als Rock-Ikone. Justin Sullivan hat beide Vorderzähne eingebüßt, an der einen Stelle blinkt ein Goldzahn, an der Stelle daneben schwarze Leere - Erinnerungen an den "Beißer" aus den James Bond-Filmen der frühen 90er werden wach. Doch die ausrastenden Fans pfeifen auf das zerstörte Gebiss, sie feiern ihre britischen Helden. Zu Recht, denn NEW MODEL ARMY schaffen es bei ihrem Siegeszug in Berlin, sogar neue Stücke wie 'Another Imperial Day' so zu zocken, dass Unterschiede zwischen Vergangenheit und Gegenwart nicht mehr zu erkennen sind. Die Fans jedenfalls feiern jeden Song wie ein Gottgeschenk und bilden vor der Bühne einen gewaltig ausrastenden Pogo-Pit. In den Pausen schimpft Justin Sullivan über alles, was ihm an die Nieren geht: den Irak-Krieg, die Sex-Industrie, einfach alles... Songs wie 'Here Comes The War' sind da nur passend. Dazu beweist Sullivan noch ein feines Gespür für Humor: "Wir wissen, dass ihr Inselaffen zu uns sagt. Ihr habt Recht." Perfekt. Oder?
[Henri Kramer]

Bei einem Blick ins Publikum und ins Gesicht von Justin Sullivan kann als Antwort nur ein eindeutiges "Ja!" folgen. Der Sänger wirkt wie ein vor Kraft strotzendes Energiebündel, das wieder Mitte 20 ist. Wie ein strömender Fluss reißt dieses Lebensgefühl, das er und die Band mit ihrer Musik verkörpern wollen, die Massen mit. Selbst der Boden der Halle bebt und wahrscheinlich müssen in der darunterliegenden Einkaufshalle auch die Nahrungsmittel wieder in die Regale geräumt werden. Aber was macht das schon bei einem solch selten guten Konzert? - nichts. Es ist so unglaublich gut, dass Sullivan sogar "Fuck you" während einer kurzen Pause zwischen zwei Liedern sagen kann. Danach kommt 'Blue Beat' vom neuen Album. Auch hier merkt man Sullivan an, dass viel Gefühl in dem Song steckt, dass er die Musik einfach lebt. Der Strom der Begeisterung wächst und wächst währenddessen immer weiter. Noch nicht einmal die eher ruhigeren Lieder können etwas dagegen tun und Hits wie 'Get Me Out' oder 'Green And Grey' lassen die Fans ebenfalls weiter feiern: Der ganze Saal gleicht mittlerweile auch eher einer tänzelnden und teilweise pogenden Menschenansammlung. Ein unglaubliches Konzert, das leider auch einmal zu Ende gehen muss.
[Franziska Böhl]

Doch den Schluss zögern NEW MODEL ARMY heraus. Fünf Zugaben kommen, unter anderem das endlos coole 'Stupid Questions' und das nicht minder begeisternde 'Purity'. Die Fans pogen, irgendwo hebt ein Typ noch zwei anderen Fans auf seine Schultern - die Magie der Musik lässt Kräfte frei werden. Irgendwann ist es aber vorbei, zwei Stunden sind um. Die Menge ist durchgeschwitzt, fordert aber noch mehr. Ungefähr die Hälfte des Publikums bleibt vor der Bühne einfach stehen, obwohl das Deckenlicht schon längst eingeschaltet ist und die Rausschmeißer-Musik brummt. "Zugabe, Zugabe"-Rufe schallen durch den Raum. Immer mehr Leute gehen oder stellen sich zum Abholen der Klamotten an der Garderobe an. Doch dann, nach 20 Minuten, geht das Licht plötzlich wieder aus. Ja, sie kommen wieder. Und spielen noch zwei Songs, 'I Love The World' als den finalen Höhepunkt - während dem der Schatten von Justin Sullivan überlebensgroß an die Wand geworfen wird. Ein Zeichen? Mit Sicherheit. NEW MODEL ARMY sind zurück - und immer noch eine Macht für sich, eine Band, die sich nicht überlebt hat.
[Henri Kramer]

Redakteur:
Henri Kramer

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