Roadburn Redux: Der Donnerstag & Freitag - weltweit
04.05.2021 | 17:5715.04.2021, https://roadburn.com/
Das Roadburn Redux 2021 beginnt am Mittwochabend und begeistert bis Samstagmorgen mit seiner stilistischen Vielfalt.
Los geht es also schon im Laufe des Mittwoch mit der Bereitstellung der niederländischsprachigen Dokumentation "Tilburg – Die Dutch Capital of HeavyMusic", die an sich schon sehr sehenswert und informativ ist. Geschmack und Zukunftslust wird weiter aufgebaut, weil eine weitere Dokumentation über das leibhaftige Roadburn Festival 2018 in einer halben Stunde zusammengefasst und bebildert wird. Verirrte, Veteranen oder Informierte können sich so vororientieren, erinnern oder häuslich vor dem Rechner einrichten. Das Berliner Label Pelagic Records nutzt das Publikum zur Premiere des Dark Wave Albums "The End Of All Things", das ironisch hier am Beginn des Ganzen zum Streamen bereit gestellt wird.
Die ersten "echten" Menschen des RR sind die Psych-Finnen KAIRON; IRSE!, die genau diese verhängnisvolle Verbindung Finnland und Psychedelik hervorragend lösen, indem sie sie gar nicht lösen, sondern erst richtig verschmelzen lassen. Hybrider Gesang, torkelnde Gitarren und eine munter scheppernde Rhythmussektion. Serena Cherry ist die Gitarristin und Stimme von SVALBARD, die im letzten Jahr ein Überraschungsalben vorgelegt hat. Von ihrem neuen Projekt NOCTULE gibt es hier das Stück 'Evenaar', das auf "Moniker" ab Juni 2021 Großes erwarten läßt. Ende Mai 2021 wird es von den Holländern AN AUTUMN FOR CRIPPLED CHILDREN neues Material geben, der shoegazegespritzte Black Metal, der auch aus dem hier präsentierten 'Melancholia' herausstöhnt und exklusiv präsentiert wird, sollte angetestet werden.
Der Ire Shaun Mulrooney ist zwar nach Berlin gezogen, hat aber sein Talent, dunklen Psychfolk zu zelebrieren, mitgenommen, TAU gegründet und kann in der nächsten Stunde in seinem Exklusivset mit der Band gemustert werden. Er und sie werden nicht die einzigen sein, die sich in den nächsten vier Tagen in langen Schwadenstücken verlieren werden – ohne sich zu verlieren. Großes Kopfkino.
Das "schleicht" sich langsam und flirrend mit dem Dreamspace-Stück des Projekts ALORA CRUCIBLE aus, was, den ersten RR-Tag offiziell beschließt. Holy Moly, guter Auftakt.
Der kühlkalten Kalkulation des Erwerbslebens folgend, ist es mir erst am Abend dieses Freitags möglich, nachzuhören, was das RR bisher so angeboten hat. Siehe der Vorteil des späteren Konsums. Einer Dokumentation über den Posterboy des Roadburn Festivals, Douwe Djikstra, folgen zwei Dusterstücke, voller Inbrunst ausberstend 'Balance' der Chicagoer Band OF WOLVES, nachdem er bluesig brummend eingeführt wurde. Eine weitere Entdeckung.
Ähnlich wie auch Nick Drake oder der "Sugar Man" Sixto Rodriguez genießt auch der 1997 in Tennessee gestorbene Townes van Zandt erhöhtes Ansehen als Meister melancholischer Stücke, in denen Doomaffine und Seelenhörer immer wieder eine eigene Faszination empfinden. Das RR zollt dem Tribut und hat eine Reihe aufgesetzt, in der Musiker der Jetztzeit sich den Stücken des Texaners widmen. Den Anfang macht AMENRA, die 'Kathleen' covern. Und das so traurig, wie man nur sein will.
"Pelagic Presents: New Signings" ist eben auch so eine Serie. Hier werden neue Bands des Berliner Qualitätslabels vorgestellt – als Promoplattform ist so ein Szenetreff natürlich nie außer Acht zu lassen. Die Finnen HORTE fallen mir hier besonders auf, ihr neues, zweites Album "Maa Antaa Yön Vaientaa" wird im August 2021 unter Mitwirkung von Juno Vanhanen von ORANSSI PAZUZU erscheinen. Zudem hat auch noch das neue Video von SHY, LOW Premiere, die ihr drittes Album im Sommer erscheinen lässt. Wer das instrumentale Feuerwerk des Quartetts aus Virginia behört, wird sich in vielen lauten, guten und vor allem abwechslungsreichen Klangwelten wiederfinden. RUSSIAN CIRCLES sind hier hauptsächlich am Namedropping beteiligt.
Dann wird es, ja, den Begriff gibt es nicht umsonst, auch etwas kauzig. Psychedelische Graubartträger, jeweils in ihrem letzten Lebensdrittel wahrscheinlich und wegen des Flows derzeit in Portugal gemeldet, betreten einen schnöden Wohnraum und füllen ihn mit Spacespice. Die DOCTORS OF SPACE sind eingeflogen und durchaus selbstironisch lächelnd legen sie ein Set hin, das irgendwo zwischen Improvisation, Zusammenfluss und Erfahrung zu finden ist. Eine vergnügliche Stunde ist das, auch weil ich versuche, dieses monströse Instrument vor dem Bauch des Dr. Martin Weaver zu verstehen. Spicefriday.
Ganz einen anderen Ansatz verfolgt das kanadische Trio BIG BRAVE, dessen Track 'Of This Ilk' vom neuen Album 'Vital' hier heute Premiere hat. Es wird auf Southern Lord erscheinen. Das dargebotene Stück ist eindrucksvoll und hypnotisch, nicht umsonst bezeichnet die RR-CREW das Trio als eines ihrer Lieblinge. BIG BRAVE könnte auch einer der meinen werden. Aufmerksamen Hörern wird es schon im letzten Jahr aufgefallen sein: die Sängerin und Gitarristin EMMA RUTH RUNDLE hatte sich mit den Sludgern von THOU zusammengetan und eine Reihe von EPs aufgenommen, die vor allem vom Kontrast leben, Rundles sphärische Kalifornienweite mit der Harschheit der Südstaatler zu kombinieren. Beide sind sehr gefühlvoll in ihren Musiken, das Experiment folgerichtig und sehr gelungen. Wie sie dann doch wieder in Harmonien zusammenfinden - großartig. Der Gig vom Roadburn 2019 wurde mitgeschnitten und hier exklusiv zum Nachhören online gestellt.
Um es vorweg zu nehmen: eine der größten Überraschungen sind die beiden Gigs des Berliners Sebastian Lee Phillipp, der gemeinsam mit zwei weiteren Musikerinnen zwei seiner Alben in Livesets unterbringen konnte. DIE WILDE JAGD heißt das Ganze und hier werden zwei Alben live dargebracht: "Atem" und "Hauch", welches das aktuellste ist. DIE WILDE JAGD ist ein zarter, poetischer und trotzdem auch fordernder Koloss zwischen Electronic Ambients, Shoegaze und Krautrock und dabei sehr einnebelnd, überraschend und ideenreich arrangiert, hier noch ausgeleuchtet von einer beherzt und mutig filmenden Crew. Ein großer, tolldreister Tripptip.
Das Duo NADJA mischt auch schon eine Weile mit im beherzten Experimentierkosmos, hier eine Performance aus der Berliner Black Lodge, wo das Vierzigminutenstück "Seemannsgarn" in dunkelgelben Schwefelfäden dront und thront.
Der Musiker Toby Driver ist ein sehr fleißiger. Hier ist er mit KAYO DOT zu hören, die Webseite offenbart ein sehr beachtliches Volumen und Pensum des Herren. Der ungarische Metal-Klangbastler THY CATAFALQUE, auf dem französischen Label Season Of Mist zu Hause, folgt und rammt uns ein neues Stück namens 'Szarvas' in die Seite, ganz wie im Vorbeihasten. Und gerade, frisch geschüttelt, folgt NERO DI MARTE aus Bologna. In zwanzig Minuten präsentiert das progressivrockig agierende Quartett einen Einblick in sein Schaffen, das zwischendurch gern auch mal ins Postmetallene abkippt. Wenn man eins und eins zusammenzählt, werden die Lokalmusiker AUTARKH schon als Headliner empfunden. Und da ist ja auch soooo viel drin, fast überfordert, wer nicht erwartet, was einen erwartet. Die Band pendelt sich nirgendwo so richtig ein: Math Core, Djent Metal, Post Metal... das alles macht das anspruchsvolle Gebräu des Vierers aus. Wer nun mehr braucht, sehe in den Katalog von Season of Mist hinein.
Da ich mit den drei US-Bands JUNIUS, CONSTANTS und CASPIAN jeweils sehr sehr viel anfangen kann und deren Alben schon mehrere meiner Lieblingsstunden begleitet haben, kann das, was SOM macht, nur bestens sein. SOM nämlich ist der Zusammenschluss von Musikern aus den drei besagten Bands, hat gerade ihr zweites Album herausgebracht und bietet auf dem RR zwei Stücke in einem Set an. Laut drehen und... nun tut es schon weh, diesen wütendzerbrechlichen Mix aus Kante und Weite auf weitere Sicht nicht wirklich schweißnass erleben zu können. Aber es gibt die Phantasie, es gibt die Vorstellung, in kleinem Club auf ebener Erde, frisch und negativ getestet, sein Selbst ganz zu vergessen und in diese Wand, in diese Welle einzutauchen. SOM, was bin ich froh, auch hier!
Die Webseite des RR hat ganz recht in ihrer Beschreibung "Johan's wonderful creativity": Den Schweden JOHAN G. WINTER kann man bisher vor allem als Mitglied der Postrocker BARRENS oder Mitzornling in BLESSINGS auf dem Radar haben – hier spielt er ein Akustikset und zwar ganz allein. Und das ist nicht nur faszinierend anzuhören, sondern auch anzusehen. Überall unheilvoll unberuhigend wabernde Kerzen, Dunkelholzmobiliar, um mystische Devotionalien lungern Aufnahmegeräte herum, da werden Akustikgitarren als Celli zweckentfremdet, die ganze Bude steht voll von Dingen, aus denen Herr Winther Töne herausschraubt. Mich läßt das Zwanzigminutenintermezzo des Maestro ziemlich beglückt zurück. Wenn Musiker einem solche intimen Einblicke geben, ist das schon ein Privileg! Wir alle sollten aufpassen, dass es das auch als ein solches empfunden bleibt.
Mann, nur mit Instrumenten. Und Kabeln. In engen Hosen. Mit Mütze. Manchmal. Aber mit Bart auf jeden Fall. Gibt es öfter. Eine nicht seltene Kombi, die hier zu finden ist. Ein beachtlich gepflegter Schnurri. Der Mann hinter dem Bart: THE DEVILS TRADE ist eigentlich Dávid Makó, ein ungarischer Fitnesstrainer und Kampfsportler hat bereits eine längere Zeit in diversen Musikszenen hinter sich. Vor sich wahrscheinlich auch. Denn hier am Orte zelebriert er sein gesamtes Album "The Call of the Iron Peak". Und es ist famos, was man da hört. Antesten! Ich las gerade: Dark Doom Folk. Na ja, ein Schubladenversuch. Ich habe auch einen solchen: Akustik-Wumme.
Und schon folgt eine nächste vielgestaltige Schönheit. JO QUAIL ist eine Komponistin und Cellistin aus London, die fesselnd über ihre Musik redet und spricht und diese auch eindrucksvoll zu spielen vermag. Wegen solcher Überschneidungen bin ich hier und spreche auch eine Empfehlung aus. Die Frau sitzt da, hat ein Musikinstrument bei sich, das klanglich keinesgleichen kennt. Musikerinnen wie sie sind die Verbindungen zwischen all den Stilen - die eigentlich so nah beieinander - sich missmutig beäugen. Ein weiterer guter und wichtiger Beitrag des RR, die Schönheit und Unbeflecktheit von Musik aufzuzeigen.
Die sitzende JO QUAIL wird von einer im großen Raum stehenden Milena Eva abgelöst. Sie ist die Sängerin des holländischen Konsortiums GOLD, das, wie zu spüren ist, den heutigen Part des Hauptacts übergestülpt bekommen hat. Zurecht, will ich gleich bemerken, auch die visuelle Präsenz der Band ist enorm und strahlend. Ist GOLD vor allem durch die Wucht der Eva`schen Stimme, kombiniert mit drei wilden Gitarreros, aufgefallen, so entfaltet sich die Stimme der kühl blickenden Dame mit welcher Instrumentierung auch immer. Im GOLD 2021 hört man die Entwicklung der Band, viele besondere Einflüsse aus dem Elektronikbereich einzubauen. Und das ist gut so. Das Klangbild ist ideenreich und druckvoll, die Präsenz der Band offenkundig. Auch Stunden später zeigen sich viele Teilnehmer im Mitlaufchat sehr begeistert von dem, was sie da erlebt haben. Ich auch. Die drei, nein, vier Gitarristen sind übrigens immer noch da und sehr anwesend, wenn man genau hinhört. Eine der innovativsten Bands, die es gerade gibt, das muss man so stehen lassen.
Es folgt psychedelischer Retrorock. DUST MOUNTAIN ist gutgefühlig, das Set ist mit Ausschmückungen voll. Fühlt sich an wie ein wärmender Umhang.
Wirklich wirklich professionell produziert wirkt der folgende Exclusivgig von REGARDE LES HOMMES TOMBER, die 2020 das Album "Ascension" veröffentlicht hat. Der Black Metal der Franzosen ist gut geölt, gut inszeniert und auch gut dargebracht.
Die Brüsseler Band EMPTINESS, die ihr aktuelles Album "Vide" aus dem Februar 2021 mit dem Rhythmus einer Beatmungsmaschine beginnen lässt, ist seltsam verquer und faszinierend anders zugleich. Hier im Redux wird das gesamte Album dargeboten. Der französisch gehauchtverzerrte Gesang mutet in Strecken entrückt an, aber an das Set kann man sich trotzdem gewöhnen. Hier wird ja auch schon Album Nummer sechs der Belgier angeboten und gespielt.
Svart Records schickt POLYMOON ins Rennen. Die haben Anfang September 2020 ihr Debüt "Caterpillars Of Creation" herausgebracht. Das wird heute auch gespielt, in Gänze, zeigt so viele Einflüsse, dass es ein Fest sein sollte. Und auch ist, schaut man sich die fünfzig Minuten an, die ihnen hier eingeräumt werden. Fürs "Erste Mal International“ übrigens sehr routiniert, liebe Finnen.
Ich mache das mal kurz: BRIQUEWILLE sind Post Piss Hardcore, dürfen hier 'XII2" einbringen. Das ist genau gut so.
Ui. Schwergewichtsalarm. THE OCEAN als Kollektiv daselbst. Es ist hier. Und ballert. "Phanerozoic I: Palaeozoic" gibt es komplett auf die Ohren - zurücklehnen zu empfehlen, wäre etwas vermessen. Aber das Eigenkonzert hier ist schon so etwas wie ein Blockbuster. Wir und ich kennen die Veröffentlichungsstrategie nach diesem Wochenende nicht, aber das Konzert von THE OCEAN sollte in jedwedem Pandemiearchiv fester Bestandteil werden. Dass die Zukünftigen auch erkennen, wie wir so drauf waren. Auch wenn wir unsere kulturellen Überbleibsel nach geograpischen Erdzeitaltern benennen. Die Berliner haben die Kunst der Inszenierung schon immer zelebriert. So auch hier.
Die Franzosen in YEAR OF NO LIGHT sind auch auf dem Label des THE OCEAN Sängers Robin Stapp zu finden. Das Album "Consolamentum" ist in den Startlöchern und es ist grandios. 'Réalgar' ist eine Auskopplung, die uns eine Viertelstunde kostet. Und jede Sekunde Aufmerksamkeit wert ist. Auch mit viel Willen und Wollen schaffe ich das Set von TDC INC nicht ansatzweise durchzuhören. Noiseelectronic, sehr voll und überladen. Und auch das Duo MAGGOT HEART macht es mir nicht einfach, einzusteigen.
Göteborgs BLESSINGS wird im Mai 2021 ein neues erstes Album bei Pelagic Records erscheinen lassen, die Stücke, die die Band zwischen Noiserock und Posthardcore ansammelt und die so bekannt sind, sind spannungsgeladen und brechen schnell zu mir durch. Und ganz des nachts gibt es dann noch diese viel gerühmten INTER ARMA, die – wie soll es anders sein – bis kurz vor zwei Uhr abliefern. Hier wird gecovert, was nicht bei Vier auf dem Baum ist.
- Redakteur:
- Mathias Freiesleben