Roadburn Redux: Der Samstag & Sonntag - weltweit
17.05.2021 | 07:5815.04.2021, https://roadburn.com/
Das Roadburn-Wochenende.
Wochenende! So richtig, meine ich. Die erwartende Vorfreude grummelt schon in mir, als ich den frühstücklichen Tomatensalat mit Rührei und Frischkäse kombiniere. Tagesgeschäft, jede Minute eine schöne heute. Der anspruchsvolle Musiksamstag beginnt mit einer französischen Produktion, die sich dem Zusammenhang von Black Metal, Okkultem und möglichen Utopien von einem anderen Leben widmet: "We Are The New Chimeras". Sehenswert.
Hörenswert, ein Schmanckerl folgt, Samstagmittag, das muss man sich mal auf der Zunge zergehen lassen. Im UT Connewitz, einem herrlich barockmorbid wirkenden Kino, das eines DER Konzertplätze dieser Welt ist, betritt das Trio TRIALOGOS die Bühne. Der umtriebige CONNY OCHS hat sich mit den Soundexperten KIKI BOHEMIA und SICKER MAN zusammengetan, um zu jammen, Ideen zu korrelieren und sich einfach gehen zu lassen. Was folgt, ist eine Stunde besten Krautrocks, zerfließender Schwarz-Weiss-Atmosphäre, wohlige Wellen türmen sich auf, es ist nur konsequent, diese famose Vertonung auch auf Alben zu verteilen! Ich freue mich drauf. Das Debüt "Stroh zu Gold" erscheint Mitte Juni. Die Drei haben kein Problem damit, Doomparts mit Summerfeelings zu vermengen, ein Cello von Tonschwaden einer Postrockgitarre verschlingen zu lassen und sich selbstvergessen in die gemeinsame Hängematte zu legen.
Und weil es so schick passt, geht es Schwarz-Weiss weiter. Pelagic Records präsentiert OSLO TAPES. Trotz etwas übertrieben bemüht avantgardistischer Form-Bildsprache eine gute Postrocknummer mit freien und mutigen Synthparts auf Druckdrums. Diese Italiener sind notiert.
Utrecht kommt. Treibt man sich aufmerksam in der Szene herum, ist die Zunahme deutschen Vokabulars unübersehbar. Hexenhammer, Zauberer und hier WESENWILLE. Der Black Metal dieser Band ist durchdacht und abwechslungsreich, voller Fleisch und Knochen. Dazu gut ausgeleuchtet.
Besagte Townes van Zandt-Reihe lässt wieder durchatmen und wer kann das besser als MARISSA NADLER. Die stets melancholisch agierende Songwriterin vertonte "None But The Rain". Wir sehen hinaus, es ist grau und unwirtlich, da ist Buntes gerade richtig. ACID ROOSTER, ein Psych-Trio aus Leipzig, bietet ein neues Album an und das in gewohnt flirrender Acid-Manier.
Was folgt, ist eine Szene-Diskussion über den Death Metal dieser Tage. Er ist ja in die Kritik geraten, scheint er sich doch irgendwie seit Jahren um sich selbst zu drehen. Da sitzen Experten und betreiben Analyse. Selten genug setzen sich wirkliche Auskennermenschen zusammen, die die Szene erkunden und ihr immer wieder Chancen einräumen.
Ich denke, Mitschnitte von den Szenediskursen wird es bald auf der Roadburnseite geben. Wen es brennend bis hin zur Schlaflosigkeit interessiert, der kann auch gern eine Mail an die Veranstalter schrieben.
Ah, heute ist also Dutch Day: WOLVES IN THE CONDO und SPILL GOLD kommen von hier, wissen viele Tasteninstrumente einzusetzen, SPILL GOLD zudem hat eine sehr kreative Schlagzeugerin vorzuweisen.
Svart Records ist dran: Eindhovens DOODSWENS untergrunden und zwar heftig. Es ist kaum etwas zu erkennen, nur Lippenbewegungen und wirbelnde Drummerarme, aber das soll so sein. Von wegen Buntheit, hier ist alles dunkel und von Schatten belegt. Genug der Destruktivität und daher wieder zurück in den Circus: SULA BASSANA aus der deutschen Provinz wirbelt seit Jahrzehnten im psychedelischen Untergrund Europas und bieten hier einen ihrer Jams über Soundcloud an. Achterbahn, da WOLF KING folgen: Zweigesang auf Blastbeats, meine Herren, geht es auch eine Nummer kleiner? Nein? Na gut, ich muss mal mit dem Hund raus...
Frisch zurück, das Gemetzel geht weiter. Ein junges Grindcrustkombinat namens KNOLL hat sich in einem violetten Raum eingeschlossen und zelebriert jugendliche Hassmusik, dass es eine Freude ist. Und weil wir schon einmal in solch eine Stimmung geschubst wurden und die Laune sich gräulich einfärbt, auch noch das Sludgemonster PRIMITIVE MAN hinterher. Ein Dutzend Minuten Rückkopplungen, schwärend-unheildräuende Gesänge, durstiges Wallen und Wummern, für Szenekundige eine willkommene Speerspitze. Ich selbst finde es entspannend, der tieftonenden Seelenfindung zuzuhören.
SOLAR TEMPLE vervollständigt die Hollandlastigkeit des Tages und will das Album "The Great Star Above Provides" durchspielen, wenn ich das richtig verstanden habe, sogar als öffentliche Bühnenpremiere. Und so darf dieses Gemisch aus zwei Gitarrenhälsen mit Lust auf Wiederholung, einfachen Drumparts, von einem der beiden gleich mitgespielt, hier eine Stunde lang Experimentierblues anbieten. Gibt man dem Zeit, zündet es auch.
Danach kommen Fakten zum Anhören: Die Macher des finnischen Labels Svart Records sitzen im Fokus, beantworten Fragen, charakteriseren ihre Labelarbeit, präsentieren Hintergründe. Nach Folkkirche mit DAWN RAY'D die Lokalisten AUTARKH zum zweiten. Dieses Mal im Sitzen und alles etwas technischer ausgelegt, aber nicht weniger perfektionistisch als am Vortag.
Oh, isländisch... das muss ich hier einkopieren: Marghöfða Dýrið darf hier ihre Demo-EP "Djöfladýrkun Undir Jökli" runterdonnern – wie ein abrutschender Hang an einem Vulkan fühlt sich das an, wenn man mittendrin steckt. Wir bleiben traditionell: JONATHAN HULTEN, ein androgynes Wesen, was im Nordischen Winterwald extrem entschlackende Stücke singt. Ja, das ist der TRIBULATION-EX, das also tut er jetzt.
PLAQUE ORGAN ist dran, um das Album "Orphan" zu präsentieren. In ewiger Erinnerung wird mir bleiben, dass sich hier der Schlagzeuger zwingt, die gesamten vierzig (!) Minuten ein Blastbeatset durchzuhämmern! Darüber legt sich ab und zu ein Growl und wie ein Tuch wabern die ganze Zeit psychedelische Matrizen durch den dunkelblauen Raum. Das ist doch eher eine Kombination von Therapien, oder?
Die Letten TESA haben das Album "CONTROL" draußen und können hier zu den Stücken voll von rauem, zerknittertem Post Metal eine zusätzliche Filmbildstrecke anbieten, die erschlagend und einnehmend zugleich ist. Die baltische Instrumentalrockfraktion hat starke Vertreter, dieses Trio gehört dazu.
Die nächste außergewöhnliche Musikerin ist ANNA VON HAUSWOLFF, die sich hier mit vier Männern auf den Dachboden zurückgezogen hat, um sehr außergewöhnliche Musik an einem außergewöhnlichem Ort zu spielen. Direkt unter dem Dach kommt es zu einem dunklen Kapitel fluoreszierender Musik, inklusive einem auf dem Boden hockenden Hemdenträger, der seinen Schaukelstuhl nur verlassen hat, um erbarmungswürdige Schreie und Keifen in den Staub zu bimsen. Anna öffnet irgendwann ihr Haar, der Trip wird immer eindrücklicher und eindrucksvoller, das Ganze nennt sich BADA und ist ebenso empfohlen hier.
75.0000 Menschen haben übrigens Stand Dienstagabend auf die Seite dieses Festivalexperiments zugegriffen, die Medien werden bis in die folgende Nacht noch stehen gelassen. Den Künstlern steht es nun frei, anzubieten, was sie möchten, wo sie dies tun und wo nicht, das kann gern erfragt werden. Zu dieser Konversation rufen die Roadburnleute aktiv in einem Schlussstatement auf, was sehr bemerkenswert ist, keine Scheu zu zeigen, die Künstler auch direkt anzufragen. Dieses Vorgehen ist im Sinne der Festivalexklusivität genauso in Ordnung wie Möglichkeit der Musiker und Performerinnen, selbst über Freigaben ihres wertvollen Materials zu entscheiden. Ein sehr gutes, rechtlich modernes Konzept, wie ich finde.
So, zurück zum Samstagabend: MIZMOR doomt und brummt, sludgt und dörrt eine Viertelstunde lang, Tieftöne sabbern die dunklen Hofmauern herunter, um unten im kalten Schlamm zu verschwinden. Beeindruckendes Funeral-Doom-Zeug. Folgt man den vielen Kommentaren, die sich zeitnah oder auch etwas versetzt mit dem gebotenen Stoff beschäftigen, ist das Setting eines, das viele Zuschauer beeindruckt hat. Und immer noch erinnert wird.
Das Tempo behalten wir gleich mal bei: BODY VOID ist so eine typische Band, die Prosthetic Records dem zumeist nordamerikanischen Untergrund entriss und zu einer Albumveröffentlichung verhilft: "Bury Me Beneath This Rotting Earth" Ende April 2021. "Haut" ist der knappe Titel des aktuellen Albums von DIE WILDE JAGD und darf auch heute live in Tilburg ran. Das Konzert und die Darbietung dieser vier Stücke ist ein visueller und auch akustischer Hochgenuss. Die drei Musiker wirken so lässig dabei, wie die hier Schichten und Strömungen zusammenfügen.
Nächster Publikumsliebling steht an: WAYFARER. Progressiver Death Metal aus dem Mittleren Westen im Schein einer fackeligen Jahrmarktsoptik, viel Hall, viel Riffing, viel Druck. SUNROT danach ist auch wutig, lässt es aber nicht so technisch angehen, setzt mehr auf die Gefühle und Effekte und kann die Tradition von Bands wie EYEHATEGOD, IRON MONKEY oder THOU sehr gut begründen. Der nächste einsame Mann mit seiner Kunst im Kopf und großer Gitarre ist STEVE VAN TILL, der den Kultus von NEUROSIS entscheidend mitgeprägt hat. Ein Set zum Beine hochlegen und zuhören. Nach so vielem Atemanhalten und Mitdenken nun ein nettes Gimmick: das kunstvoll-sperrige 'Limo Wreck' von den allgeliebten SOUNDGARDEN wird vertont von WITCH MOUNTAIN, was sehr gut gelingt. Das vom Gesang her sehr anspruchsvolle Stück von so einer weiblichen Bluesröhre zu hören, ist pikant, aber gelungen. Abgemischt hat das Ganze übrigens eine weitere Seattle-Legende: Tad Doyle.
Was jetzt die Bühne betritt, ist so etwas wie eine All-Dark-Star-Band. Die Band WOLVENNEST hat sich diverse Musiker eingeladen, um als spontanes Projekt THE NEST "The True Nature" in Gänze zu geben. Hier stehen neben den genannten WOLVENNEST noch AA Nemtheanga (PRIMORDIAL, DREAD SOVEREIGN), Tommie Eriksson (SATURNALIA TEMPLE), Bones (DREAD SOVEREIGN), Alexander von Meilenwald (THE RUINS OF BEVERAST) und Ryanne van Dorst (DOOL) mit im Dunkel und gestalten eine dementsprechend auch Lehrstunde besten Dark Metals.
Ich mache gedanklich Pause, da nun drei Industrialacts folgen, die mich nicht tiefer beeindrucken. Nach einem Reinhörer in das MAXIMALISM-Impro-Theater sind HAUNTED PLASMA die nächsten Anbieter. Und auch hier regiert der Dark Wave-Sound. Das ist durchaus empfehlenswert, denn ich kann hier keine langwierige oder langweilige Minute ausmachen. Der Abend nimmt wieder Fahrt auf, so meine Hoffnung. Ohne zu bemerken, dass es bereits kurz vor 2 ist. Gute Nacht jetzt.
ELECTRIC MOON beginnt den Sonntag. Ein schönes Stück Psychedelik zum späten Frühstück. ASTROSONIQ verstärkt diesen Sound mit dem Konzertmitschnitt, der 2016 auf dem Roadburn entstand. Die Kommentarspalte füllt sich, es wird wieder verstärkt mitgehorcht. Wer nun eingestiegen ist, findet sich mit BLODET konfrontiert. "Blissful noise/ post-rock from a little town in the north of Sweden" - und genau so hört sich das auch an. Das Septett gibt es seit 2014 und war bisher unter meinem Radar. Bisher, wohlgemerkt.
Bemerkt und für gut befunden ist MIGHT, ein Duo aus Hannover, deren beiden Musiker in DAEMONS CHILD bereits zu finden waren und nun als Doomiges Duo noisige Sets abliefern.
Der Sonntag zwischen dunklen Ästen, aber sehr ästhetisch wohlgemerkt. Zu finden auf "Exile On Mainstream", das Album wurde von der Kritik sehr wohlfeil aufgenommen. LLNN zerkloppt mit seinen Flexes und dickem Noisesound in nicht mal drei Minuten alles, was gerade noch nach gemütlichem Kuchen am Nachmittag roch.
MIDWIFE ist pure, nachmittagskaffeebraune Mittelwestenmelancholie, auf Piano und geprägt vom Hallgehauch der Sangeskünstlerin MADELINE JOHNSTON, wobei hier durch triste winterliche Landschaften gefahren wird. SAVER und PSYCHONAUT haben zusammen eine Split bei Pelagic Records fabriziert, beide kommen hier mit Vorstellungsgigs zum Zuge. Beides drückend und anregend, wobei mir SAVER einen Zacken mehr Innovation mit in die Geschichte bringt. Ich habe das Trio letztes Jahr leider pandemiebedingt nicht sehen können und bedaure das sehr, wenn ich das Set hier sehe, gleich noch mal. CAVE IN mal zahm, Townes van Zandt Tribute ist dran. "IXXO" ist das Album von DEAD NEANDERTHALS aus den Niederlanden, eine halbe Stunde Krautrock auf Sludgebett wie aus dessen ersten Welle gespielt vor bunten Hintergründen.
Ganz anders: die Kalifornier DEATH BELLS vom Rande der jugendlichen Verzweiflung im Übergang zur Mittelalter-Melancholie, sehr hörbare, sehr wundervolle Stücke. Die haben auf jeden Fall viel JOY DIVISION intubiert. Hier haben sie sich den kalifornischen Strand als stimmigen Hintergrund ausgesucht.
AMENRA hatte sich schon vor zwei Tagen mit Townes van Zandt beschäftigt. Das heutige Cover 'Black Crow Blues' ist trotz seines Minimalismus sehr fesselnd. Oder gerade deswegen?
Dann folgt eine Strecke Experimentals. Ich bin erquickt, als der Konzertmitschnitt der Spanier OBSIDIAN KINGDOM folgt, kurz, aber knackig. Mal wieder ein relevant-konservatives Rockstück.Das Brüsseler Duo OF BLOOD AND MERCURY scheint den Sonntag ausklingen lassen zu wollen. Kapuzen, Kerzen, Masken, träumerische Gesänge, keine Aufreger. Sagst Du, denkst Du, ITERUM NATA, das Soloprojekt des Jesse Heikkinen, der in HEXVESSEL die Gitarre spielt. Diese Hauptband verlängert danach den Folkabend um eine weitere Stunde.
Unverblümt lauter, aber genauso dunkel, kann man nun zu noch einmal WOLVENNEST wechseln, hier sind teilweise bis zu zehn Musiker zeitgleich auf der Bühne zu finden. AARON TURNER, ein Musiker und vielseitig bildender Künstler mit viel viel Einfluss und Einflüssen, darf aus dem heimischen Wohnzimmer auch noch mittun. Der Mann ist Chef des Hydra Head Labels, prägte den Sound von ISIS THE BAND oder auch MAMMIFER, OLD MAN GLOOM oder SUMAC.
So. Und dann, mit dem Retrorock von DEWOLFF, ist es geschafft. So ein versöhnlicher Ausklang eines Mammutmarathons... Aber es hat sich gelohnt. Und meine "Musst Du Nachhören"- Liste... die ist länger geworden. Sehr viel länger.
- Redakteur:
- Mathias Freiesleben