Thunders Over Miriquidi - Annaberg/Buchholz
08.08.2005 | 12:5008.07.2005, Sportplatz
"Ich war seit 20 Jahren nicht mehr beim Zahnarzt", sagt das kleine Hutzelmännchen mit dem Metal-Shirt lallend. Das altersmäßig kaum einzuordnende Männlein mit dem dünnen Haar hat an diesem Freitag schon tüchtig ins Glas geschaut und erzählt vielen anderen Besuchern von seinen missglückten Versuchen des Gangs zu einem Orthopäden. Der Suff lässt sich nicht verübeln...
Denn anders ist es auch kaum zu ertragen, was sich als zweite Band des ersten Abends bei der Erstausgabe des "Thunders Over Miriquidi"-Festivals auf die Bierzelt-Minibühne traut. Die spanische Band nennt sich ABYFS und ist mit ihrem Gig nach Meinung der meisten Festivalbesucher ein sicherer Kandidat für die Zumutung des Jahres. So etwas hat Gründe, einer ist weiblich, hat einen flachen Bauch, ein dazu passendes Top und die wohl trällerndste Unstimme des Jahres. Dazu grinst diese Disko-Torte namens Isabella, als hätte sie gerade eine Packung Lachgas mit einem Schoko-Riegel verwechselt - und singt weiter. Ihr stimmlicher Konterpart grunzt dazu, manchmal keift er auch. Die Instrumentierung dazu soll vielleicht progressiven Gothic Metal darstellen, nervt aber schon nach Sekunden, Leute gehen flüchtend aus dem Zelt heraus, dort ist es aber immer noch zu laut - doch wenigstens sieht man die Frontbiene nicht wie eine bekiffte Seilspringerin über die Bühne hüpfen. Als wenn das nicht reichen würde, bleibt die ABYFS-Frau nach dem Auftritt weiter auf der Bühne stehen und lüftet das Rätsel, wie sie bloß auf einen Sportplatz nahe dem sächsischen Annaberg-Bucholz kommen konnte... CANCER sind schuld. Die wieder reformierten britischen Death-Metal-Urgesteine sind mit ABYFS - schon der Name, aaaaahhh! - auf einer Tour. Und: Isabella und CANCER-Gitarrist plus Sänger John Walker sind Eheleute... Dürfen nun ABYFS überall dahin, wo CANCER auch spielen?! Egal. Macht nichts, werden sich wohl die restlichen Krebs-Musiker denken: Mit einer schlechten Vorband leuchtet der eigene Stern umso heller.
Gar nicht so unrecht, denn trotz ihres Alters sind CANCER noch recht flott auf der Bühne unterwegs, Frontgrunzer John Walker übt sich sogar in einem etwas peinlich wirkenden Hüpfstil - wie seine Freundin von ABYFS vorher, die nun am Bühnenrand steht und begeistert mitklatscht. Die Band beginnt ihren Set mit dem Klassiker 'Back From The Dead' vom "Death Shall Rise"-Album. Ab nun tönt voller und erdiger Old-School-Death-Metal aus den Boxen - für Fans der ersten Stunde sicher ein Genuss, gegen neuere Bands aus diesen Gefilden klingen CANCER dagegen etwas lau, ihre Reunion erscheint nicht so zwingend und wichtig wie etwa die von OBITUARY. Doch die Fans gehen zumindest ab, ein paar Reihen der bis dato rund 300 anwesenden Besucher bangen. Ein paar neuere Songs spielen CANCER auch. Viel ist bei den Jungs seit Anfang der 90er allerdings wirklich nicht mehr passiert. So bildet 'Hung, Drawn And Quartered' einen coolen Schlusspunkt unter einem Gig, der sich kurz so beschreiben lässt: "Schön, mal eine Legende gesehen zu haben - aber damit reicht es jetzt auch schon wieder..."
Da sind PRIMORDIAL schon ein anderes Kaliber. Die Iren kommen gerade vom Headbangers Open Air in der Nähe von Hamburg, am nächsten Tag wollen sie noch beim Under The Black Sun in Brandenburg spielen. Über CANCER kann Sänger Alan Nemtheanga ganz selbstbewusst sagen: "Nette Burschen, aber als ich mir "Death Shall Rise" vor mehr als zehn Jahren kaufte, habe ich das Album ganz kurz danach wieder verkauft - ist eben nicht meine Art von Musik." Und so setzen PRIMORDIAL auch einen ganz bewussten Gegenpol zum bisherigen Abend: Melancholisch, dennoch Metal pur, gepaart mit unbeschreiblicher Theatralik und großem Pathos. Dies fühlt wohl auch einer der Besucher so, der sich anscheinend Frontmann Nemtheanga als Vorbild genommen hat: Alan sieht mit seiner leichten Schminke und dem vielen Blut am kahlrasierten Kopf wie immer dämonisch aus. Der junge Festivalgast hat dagegen nur eine zwischen den Zähnen zerplatzende Blutkapsel zu bieten, dazu einen wüst-irren Blick in Richtung Bühne. Dort zieht Nemtheanga das gesamte Psychoprogramm seiner livehaftigen Selbstdarstellung ab. Es ist diese auf dem schmalen Grad zwischen Emotionalität und Lächerlichkeit gleitende Performance, die PRIMORDIAL auf der Bühne zu einer vielleicht umstrittenen, aber auf jeden Fall einzigartigen Band macht. Denn wer den Mut hat und sich auf die Gesten von Nemtheanga einlässt, dazu die Texte hört und die Musik bis in die tiefsten Tiefen der Seele rauschen lässt, der wird das Erlebnis PRIMORDIAL auch einen Monat später nicht vergessen haben. Denn gerade durch die extrem fordernde Bühnenshow von Nemtheanga, der seine tausend Tode stirbt und tausend mal neu daraus mit unbändiger Kraft erwacht, gerade durch diesen ständigen Wechsel werden Songs wie das neue 'The Coffin Ships' fühlbar. Genau dieser Song bildet auch den gefühlvollsten Höhepunkt des Abends, als die Band den Toten huldigt, die um 1845 herum bei der großen Hungersnot in Irland starben oder ihr Leben bei der langen Überfahrt nach Amerika ließen. In diesen Song legen die Musiker von PRIMORDIAL ihr ganzes Herzblut, gehen darin auf, verschmelzen mit den Klängen. In Deutschland würde diese Hingabe an die eigene Heimat vielleicht als übertriebener Nationalismus ausgelegt, doch Nemtheanga sagt später, dass es eben in Irland ganz normal wäre, sich mit der eigenen Herkunft und Identität zu beschäftigen. Und nichts anderes tun PRIMORDIAL, sei es bei 'The Golden Spiral' oder 'Gods To The Godless' - ihr irischer Spirit fließt durch solche Songs wie ihr rotes Blut, dass sie wohl durchaus bereit wären für ihre Heimat zu opfern. Schade nur, dass solch einen Hammergig an diesem Abend nur rund 300 Leute sehen, mehr sind einfach noch nicht da. Doch die Anwesenden, die das Glück dieses Auftritts genießen dürfen, bangen schwelgend, versunken in anderen Welten, in der eigenen Psyche, in den Regionen, wo Musik noch echte Gefühle wecken kann. Danke dafür... Gute Nacht - und ein gähn für die wohl langweiligste SLAYER-Coverband der Welt namens PLAYER...
...und guten Morgen. Der neue Tag beginnt mit Kaffee und Keksen. Denn FACES OF GORE, die gegen 15 Uhr auf die Bühne treten, haben mitgedacht: Sie verteilen das Nachmittagsvesper freundlicherweise an die paar Fans im Zelt und lassen sich dann bewundern. Sie haben sich aber auch herausgeputzt. Besonders der Sänger mit Bodypaint und Schweinsmaske sieht richtig cool verpeilt aus. Das musikalische Talent des Trios ist dagegen für filigrane Ohren weniger geeignet: Goregrind. Zwischendurch spielen sie mit bekannten Melodien, so fliegt das Raumschiff Enterprise auch im Krachsound der Sachsen mit. Die Songs haben Namen wie 'Fress mich'. Am Ende des vergnüglichen Wecker-Gekloppes holen sich FACES OF GORE noch einen neuen Drummer aus dem Publikum, nun darf auch der bis dato stöckeschwingende Jüngling mitgrunzen. Schön sick, die ganze Angelegenheit - und absolut livetauglich.
AEVERON bilden den melodischen Kontrapunkt zu den kranken Grindorgien der ersten Band. Die Sachsen funktionieren als gut durchdachte Mischung aus Bands wie HYPOCRISY, DIMMU BORGIR und allen möglichen Schweden-Death-Kommandos, vermischt mit einer Prise BORKNAGAR. Typisch dafür ist etwa der Titelsong des Debüts "Construality", den AEVERON engagiert herunterspielen. Das Publikum reagiert allerdings reserviert, bis Sänger Thomas sie nach vorn bittet. Dann ist zumindest ein klein wenig Energie bei den Leuten vor der Bühne spürbar. Woran das liegt? Vielleicht ist ein Bierzelt im hellen Licht des Tages einfach nicht der Ort, um wirkliche Festivalatmosphäre zu erzeugen? Wie auch immer, AEVERON bleiben als begabte und wahrhaft hühnenhafte Truppe - bis auf den kleineren Gitarristen - im Gedächtnis kleben: Bravo.
Mit NACHTFALKE kommt im Anschluss die wohl umstrittenste Band des gesamten Festivals zum Zug. NACHTFALKE? Das ist genau die Band, die bei dem ebenfalls recht zwielichtigen Label Christhunt unter Vertrag steht und schon öfter mit Naziansichten in Verbindung gebracht wurde. Beim Gig kommen fünf Typen auf die Bühne, die zuvor ihre Köpfe beherzt in einen großen Topf weiße Wandfarbe getaucht zu haben scheinen, um sich danach noch ein wenig mit schwarzen Pinseln aufzumotzen. Besonders Gitarrist und Bandgründer Occulta Mors sieht aus, als wäre die weiße Farbe noch dazu verwendet worden, seine Halbglatze abzudecken. Um den Spaß komplett zu machen, steht beim ersten Song der Keyboarder der Band noch vor der Bühne und bangt mit - samt seinem Schwert, das er an der Seite trägt. Bei all diesen optischen Schmankerln stimmt wenigstens die Musik: roher Black Metal, der mit ordentlich tragenden Pagan-Elementen veredelt ist. Der Sänger tritt energisch auf, böse, eben so, wie es von einem Black-Metal-Frontmann erwartet wird. So ernten NACHTFALKE - früher noch ein Ein-Mann-Projekt - ordentlich viel Applaus für ihre Show im Bierzelt. Den Abschluss bildet BATHORYs 'Woman Of Dark Desires', das noch einmal nachdrücklich die musikalischen Wurzeln dieser Band klarmacht. Doch ein Blick ins Publikum macht jetzt schon klar: Eine politische Wahl sollte an diesem Tag hier nicht durchgeführt werden, ABSURD-Shirts und Abzeichen der heidnischen Front verheißen sinnfreie Meinungen jenseits von Gut und Böse.
Da passen SANATORIUM wie die Faust aufs Auge und in den Magen. Kommentar auf dem Notizblock: "Fünf Leute holzen slowakisch". Grind-Death, genau das ist die Musik, um Leute mit ABSURD-Shirts aus dem Zelt zu treiben. Ansonsten sind die Slowaken nicht sonderlich spektakulär, es gibt eben viel zu viele Bands, die ganz ähnlich brutal spielen. Da sind BLODSRIT schon eine ganz andere Kategorie. Die Jungs kommen gerade von dort, wo PRIMORDIAL in der Nacht zuvor hingefahren sind: vom Under The Black Sun. Und, was BLODSRIT zu dieser frühen Abendzeit echt sympathisch macht - sie sind schon so rund, wie vier schwedische Buslenker eben nicht eckig sein können. Sänger Naahz hält sich oft einen Tick zu krampfhaft am Mikro fest, Gitarrist Yxmarder stolpert zwischendrin. Die Musik bleibt jedoch auf hohem Schweden-Black-Niveau, schön räudige Melodien treffen auf rasendes Schlagzeug - ein ähnliches Prinzip, wie es eben auch Bands wie NAGLFAR oder NECROPHOBIC verwenden. BLODSRIT stehen diesen großen Gruppen nur wenig nach und verbreiten in der aufziehenden Dämmerung ein schönes Gefühl der Aggression. Fein, fein - und eine echte Empfehlung.
Es folgt die Überraschung des Tages, die auch aus Schweden den Weg nach Annaberg gefunden hat: RAM. Die hat sich "Thunders Over Miriquidi"-Veranstalter Pritze - er ist sonst das Mastermind von EMINENZ - auf persönlichen Wunsch geholt, deshalb ist er bei dem Gig auch vor der Bühne bangenderweise zu finden. RAM fallen aus dem musikalischen Rahmen des Festivals und spielen lupenreinen Power Metal, der manchmal an frühere Heldentaten von JUDAS PRIEST erinnert. Purer Heavy Metal eben, die Gitarren schnell, die Schreie von Sänger Ocar Carlquist spitz und hoch. Der Frontmann trägt auch das passende T-Shirt zum Abend: "Heavy Metal Tyranny" steht drauf - im mitreißenden Sound von RAM ist genau dieses Feeling zu finden. Ganz groß - und ein blendender Grund öfters den einzigen Bierstand des Festivals aufzusuchen und 0,5 Liter große Plastikbecher mit Köstritzer Schwarzbier für zwei Euro nachtanken zu lassen. Da nerven nur die Abstreich-Bonuszettel, die es am Eingang für 10 Euro zu erwerben gibt - so lässt sich den bezaubernden Bedienungen gar kein Trinkgeld geben. Doch dafür ist auch kaum Zeit, denn viel zu schnell sind die Füße wieder unterwegs, um bei RAM weiter abzurocken. Yeah!
Zeit für den nächsten Kontrast: DUNKELGRAFEN. Die einst belächelte Black-Metal-Kombo spielt vor heimischen Publikum, gut 400 Nasen sind inzwischen versammelt. "Wir freuen uns wieder in unserer Heimat Annaberg zu spielen", bellt Sänger Dunkelgraf ins Mikro, während hinter ihm ein großer Ziegenkopf von einer Kerze auf einem improvisierten Altartisch beleuchtet wird. Melodisch und roh setzt der schwarzmetallische Klang des Quartetts ein. Der Dunkelgraf ist der optische Mittelpunkt der Show, mit seinem MAYHEM-Shirt wirkt er wie ein Widergänger von Dead, der weiland bei der norwegischen Kultband sang. Sein Habitus, seine theatralische Ausdruckskraft, all das macht diesen Auftritt zu einem Fest für finstere Seelen. Irgendwann nimmt sich der Dunkelgraf einen Kelch, der bis zu diesem Moment hinter ihm auf dem Quasi-Altar wartete. Erst hält der DUNKELGRAFEN-Fronter den Kelch den Fans prostend hin, dann trinkt er einen großen Schluck, spuckt ihn aus, Blut ergießt sich über sein Shirt. Dann reicht er den Kelch herum, wer will, kann kosten - es ist eben wie bei all den Konzerten von DUNKELGRAFEN, eine Mischung aus Absurdität und echter Hingabe für das schwarzmetallische Image. An diesem Abend überwiegt das positive Moment, obwohl die Bierzelt-Atmosphäre nicht gänzlich verfliegen will.
Diese Zweifel verflüchtigen sich erst bei DEFLESHED. Die Art und Weise, wie diese Schweden ihren Trash-Death-Metal zelebrieren - sie ist beängstigend. Besonders DARK FUNERAL-Drummer Mathias Modin lässt die Augen groß und größer werden. Er wirbelt auf seinem Schlagzeug umher, als hätte er mehrere Kilogramm Speed intus. Brutaler High-Speed-Metal, so lässt sich diese Erscheinung auf der Bühne beschreiben, treibende SLAYER-Riffs inklusive. Dazu ist Gustaf Jorde, ein arschcooler Frontmann und Gitarrist, der die Dinge in erstklassigem Versuchs-Deutsch auf den Punkt bringt: "Coca Cola ist Synthesizer, Bier ist Metal." Doch dann die Warnung: "Jetzt ist Schluss mit lustig." Schredder-Rededder. Unglaublich, mit welcher Intensität dieses Höllentrio durch seine Setlist mit Nummern wie 'Fast Forward' oder 'Under The Blade' schlägt. Die Fans wollen eine Zugabe. Gustaf knüpft daran eine Bedingung: "Aber nur, wenn ihr mit uns ein Bier danach trinkt." Klar, gern. Was für eine Frage. Die Fans johlen, ein paar entern die Bühne, krallen sich das Mikro. Genial. Metal. Die Hoffnung bleibt nach so einem tollen Abschluss, dass im nächsten Jahr beim "Thunders Over Miriquidi" noch ein paar mehr Metaller kommen, dafür weniger Nazi-Schwuchteln, dass das tolle Klo mit Wasserspülung immer noch funktioniert und die Hähnchenschnitzel immer noch so lecker schmecken. Amen.
- Redakteur:
- Henri Kramer