Wave-Gotik-Treffen 2023 - Leipzig
07.06.2023 | 14:3026.05.2023, Agra / Schauspielhaus / Volkspalast / Hellraiser / Heidnisches Dorf
Das Wave-Gotik-Treffen (WGT) zu Leipzig ist eines der wenigen Musikfestivals im ostdeutschen Raum, das auf eine bereits 30-jährige Geschichte zurückblicken kann. War es zu Beginn noch ein Treffen der schwarzen Subkultur mit in etwa 2.000 Besuchern hauptsächlich aus der näheren Umgebung, wuchs es schnell zu einem Festival mit internationalem Flair und jährlich zirka 20.000 Besuchern an. Auch die Zahl der Locations in der Stadt Leipzig sowie der auftretenden Acts hat sich im Laufe der Jahre natürlich gesteigert, so dass diverse Genres bei dem Festival Unterschlupf finden können. So kommen nicht nur Dark-Wave- und Gothic-Anhänger auf ihren Geschmack, sondern auch Electro-, Synth-Pop-, EBM-, NDH-, Industrial-, Dark-Ambient-, Neofolk-, Folk-, Alternative-Rock-, Goth-Rock-, Post-Punk- und, natürlich im Rahmen dieses Magazins interessant, Metal-Freunde können sich auf Konzerten und Parties gut vergnügen. Auch wenn weiterhin überwiegend vorherrschend Schwarz zur Schau gestellt wird, haben aufgrunddessen mit der Zeit mehr und mehr Farbtupfer Einzug gehalten.
Nun finden sich zu Pfingsten im Jahre 2023 zum 30. Jubiläum Künstler und Besucher zusammen in der historischen "Stadt der Linden" ein, um ihrer Leidenschaft zu frönen und Freunde wiederzusehen. Dabei hat man die Möglichkeit, Lieblingsbands und -künstler live zu erleben oder gar neue zu entdecken, Lesungen und Ausstellungen zu besuchen, sich im Heidnischen Dorf, beim Viktorianischen oder beim Steampunk-Picknick in vergangene Zeiten oder Fantasiewelten entführen zu lassen und des Nachts nach eigenem Gutdünken das Tanzbein zu schwingen. Schon am Donnerstag hat man nach Ankunft und Erhalt des Bändchens sowie Programms die Qual der Wahl. Parties an acht verschiedenen Locations warten mit unterschiedlicher musikalischer Ausrichtung auf und laden zum Warm-up ein. Zudem präsentiert HOCICO-Sänger Erk Aicrag in der Moritzbastei sein Buch mit anschließender Frage- und Signierstunde. Hinterher darf man das Eröffnungskonzert der ELEKTRO ALL STARS 2023 mit Daniel Myer von HAUJOBB, Dennis Schober von SOLITARY EXPERIMENTS, Ralf Donis von THINK ABOUT MUTATION und LOVE IS COLDER THAN DEATH, Hannes von LACRIMOSA, FRANK THE BAPTIST, Niko von GIMME SHELTER, Dina, Dorian Geneviéve Pasquier sowie dem zuvor erwähnten Erk Aicrag auf der Bühne bestaunen. Beides bleibt mir aufgrund später Arbeitszeit verwehrt, doch stimme ich mich ab 22 Uhr mit Freunden stilecht bei der Blauen Stunde mit den DJs Frank und Reiner auf das bevorstehende Wochenende ein. In einem aus Fackeln und Grabkerzen erzeugten Kreis tanzen wir für mehrere Stunden auf gemähter Wiese umgeben von Natur unter dem Mondenschein und tauschen uns zwischendurch über das verflossene Jahr und unsere individuellen Pläne für das WGT aus.
Am Freitag verpasse ich zu meinem Leidwesen TANGERINE CAT aufgrund von Stau und meiner Suche des Pressecontainers, welcher arg den anderen weißen Pavillons auf dem Agra-Gelände ähnelte. Der Stau ist insofern wohl nicht nur dem Feierabendverkehr der Stadt und dem Festival, sondern auch dem am selben Abend stattfindenden Konzert von DEPECHE MODE geschuldet. Ärgerlich für mich, sollen doch die experimentellen Waliser nach Aussagen von Freunden eine starke Show abgeliefert haben, wie ich im Nachhinein erfahre. Doch so schnell lasse ich mir die Suppe nicht versalzen und begebe mich stattdessen ohne Anfahrtsschwierigkeiten zum im Außengürtel von Leipzig gelegenen Hellraiser, um noch die zweite Hälfte des GROZA-Konzertes zu erwischen. Soweit ich im Nebel erkennen kann, besteht die deutsche Black-Metal-Band mit slawischem Namen aus drei bis zur Unkenntlichkeit vermummten Männern. Wie ihr beim vorherigen Satz sicher schon ganz richtig erkannt habt, ist dies mein Erstkontakt mit GROZA. Mit teilweise melodischen, doch dann wieder härter wirkenden, tiefschwarzen Klängen überzeugt die Band nicht nur mich, sondern anscheinend auch die übrigen anwesenden Metalfans. Ich fühle mich jedenfalls gut angeheizt für weitere Konzerte.
Beim Verlassen der Location laufe ich direkt einer Horde Zollbeamter in die Arme, doch anscheinend handelt es sich lediglich um eine entspannt ablaufende Arbeitnehmerkontrolle, weshalb ich mich unbehelligt auf den Weg in die Kantine des Volkspalastes machen kann, um mir selbst eine Meinung zu Nikolas Schreck bilden zu können, welcher nicht ganz unumstritten ist. Und was soll ich sagen? Schon allein der Fakt, dass er ausdauernd sein Handy zu Hilfe nimmt, um sich augenscheinlich an seine eigenen Texte erinnern zu können, ist derart abtörnend, dass ich es nicht bis zum Schluss aushalte. Selbst musikalisch bzw. stimmlich wird das erkennbare Potential nicht voll ausgeschöpft. Dies wird insbesondere dann für mich offensichtlich, während ich mich durch den Raum bewege. Ich ertappe mich sogar dabei, dass ich mich ein wenig ärgere, dafür auf ATTRITION verzichtet zu haben, die zeitgleich im Schauspielhaus auftreten. Welch Wohltat, dass im Nachgang HEKATE meinem Herzen Linderung verschafft. Nicht dass es die deutsche Gruppe jemals auf meine Liste bevorzugter Bands geschafft hat. Dennoch habe ich sie in den vielen Jahren ihrer Existenz, denn in der Tat ist sie ebenso alt wie die Vorwehen des WGT, bereits auf diversen Festivals mitbekommen und es war doch stets angenehm zu lauschende Musik. Und dieses Mal ist zugegeben mein bisher liebster Auftritt von HEKATE, da auf klare, versierte Weise das komplette Album "Sonnentanz" aus dem Jahr 2000 zum Besten gegeben wird, welches das einzige der Band ist, das mich einst vor vielen Jahren zum Kauf verleitete. Dieses jetzt von den erfahrenen Musikern nochmals live dargeboten zu bekommen, ist schon wie ein Fest für sich. Die gefüllte Kuppelhalle im Volkspalast scheint meine Freude zu teilen, weshalb die Gruppe entsprechend viel Applaus erntet.
Flink pendele ich zurück zum Hellraiser, in dem als Headliner des Abends SCHAMMASCH die Bühne betritt. Hierbei handelt es sich keineswegs um einen Erstkontakt, habe ich die Black-Metal-Formation aus der Schweiz doch erst beim letztjährigen "L'Homme Sauvage" erleben dürfen. In ihren schwarzen, golddurchwirkten Brokatkutten und in zwei Fällen voll geschwärzter, sichtbarer Haut halten die Musiker mit ihren Ambient-Black-Metal-Klängen die Halle, welche sich schnell füllt, fest in der Hand. Kein Wunder, hat die Truppe doch unter anderem ein Schlagzeug mit einem Dutzend Becken inklusive Hi-Hat und einem halben Dutzend Trommeln, wenn man Snare und Bass Drum sowie Toms zusammenzählt, dabei. Die Gitarristen und Bassisten jeweils im Doppel tragen natürlich ebenfalls dazu bei. Mitunter haben die gespielten Tracks einen psychedelisch angehauchten Start, kehren aber gegebenenfalls flink zu härterer Spielart zurück. Es ist schon beeindruckend, wie allesamt, ausgenommen der Schlagzeuger, am Ende eines der letzten Lieder gemeinschaftlich und zeitgleich einen Kniefall hinlegen. Schlichtes Mittel, starke Wirkung. Die Nacht ist noch jung, weshalb ich mich nochmals zur Kuppelhalle aufmache, um mit dem Mitternachtskonzert von FIRE + ICE den Konzertabend zu beschließen. Der britische Gründer Ian Read spielt mit seiner Band hauptsächlich zu den Tönen von Akustikgitarren und Violine (neo-)folkige Stücke ebenfalls in einer vollen Halle. Ein angenehmer Ausklang für den ersten WGT-Tag beziehungsweise eine gute Überleitung zur nebenan in der Kantine beginnenden Apocalyptic-Blue-Party mit den DJs Eislicht & SeptemberGK. Nach kurzen Startschwierigkeiten, denn nach dem dritten Song gibt es einen Knall und die Anlage scheint keinen Mucks mehr von sich geben zu wollen, wird glücklicherweise recht schnell Abhilfe geschaffen und das tanzwütige Volk kann zu gut gewählter Playlist nach Herzenslust seiner Leidenschaft nachgehen.
Den Samstag beginne ich traditionsgemäß mit meiner Tochter im Heidnischen Dorf. Für Verzögerung sorgt insofern eine schier endlos wirkende Schlange am Einlass, denn für meine Tochter muss ich natürlich ein Extraticket besorgen. Doch nachdem diese Hürde geschafft ist, kann ich noch die letzten von Akustikgitarren und Gesang getragenen Songs von ZWISCHENLICHTEN wahrnehmen. Danach ist es Zeit für einen Rundgang durch die Menge, bei dem wir mit Freude den erstmalig anwesenden Klatt-Eisstand zur Kenntnis nehmen. Auch im Übrigen ist das Heidnische Dorf angewachsen, wenn auch nicht vom Platz her. Ein Teil der ruhigen Wiese im hinteren Teil steht einer Art historischem Lager zur Verfügung, in dem beispielsweise bei einer Seilerei die Netzherstellung zur Schau gestellt wird. Dahinter ist ein Bereich für Kinder eingerichtet, in dem sie diversen Beschäftigungen nachgehen können. Weil meine Tochter schon etwas älter ist, lassen wir diesen aus, um unseren Rundgang zu beenden, uns mit Speisen zu versorgen und mit Freunden sowie teilweise deren Kindern am ins Heidnische Dorf zurückgekehrten Mokkazelt zu treffen. Nach einem Plausch und einem Besuch des am Eingang gelegenen Torhauses Dölitz, in dem die Künstlerin Laetitia Mantis ihre Bilder und weitere Werke wie beispielsweise eine die Blicke der Besucher magnetisch auf sich ziehende "Baumkrone" ausstellt, verabschiede ich mich von meiner Tochter. Weshalb ich zu WOLFENMOND kaum Worte verliere, die auch während meines Aufenthaltes im Heidnischen Dorf spielen? Keines der vorgetragenen Lieder der Formation hat das Potenzial, mich zur Bühne zu ziehen. Sie wirken auf mich schlicht zu aufgesetzt.
Beim Schauspielhaus angekommen vergewissere ich mich verunsichert durch Nachfrage bei den Mitarbeitern, ob wirklich in 15 Minuten ein Konzert stattfindet. Erstaunlicherweise gibt es weder eine Warteschlange wie sonst üblich, noch Konzertbesucher im Foyer. Doch ich erhalte Bestätigung und finde auch einen guten Platz recht mittig in der zweiten Reihe. Auf dem Programm steht EPADUN aus Brünn in Tschechien, ein Dark-Ambient-Orchestral-Projekt. Obwohl Potenzial erkennbar ist, so zum Beispiel der hohe, weibliche Operngesang von Lucie mit dem Growling des in eine Art Priestergewand gehüllten männlichen Bandmitglieds Petr als Gegenpol, will der Funken auf dieser großen Bühne nicht ganz überspringen. Womöglich kommen einfach die vorprogrammierten Sounds in der Weite des Saals nicht voll zum Tragen, jedenfalls kommen sie beim Zuhörer nicht hundertprozentig an. Zur Ablenkung kann man dafür hin und wieder abwechselnd die beiden mitgebrachten Tänzerinnen betrachten, wovon eine manchen Besuchern bereits von einer ehemaligen Proserpina Nacht in Dresden bekannt sein könnte.
Im Anschluss erfreue ich mich an LOELL DUINN, die nicht nur mich mit ihrem Mix aus Ethnofolk und Neoklassik voll abholen. Die aus Kroatien stammende Band schafft es mühelos, das Publikum mit flotteren und sanfteren Liedern aus verschiedenen Jahren um ihren imaginären Finger zu wickeln. Mehrfach fühle ich mich an Bands wie DEAD CAN DANCE, ARCANA und IRFAN erinnert, ohne dass Verwechslungsgefahr bestünde, was durchaus ein positiver Aspekt ist. Absolut ein Highlight des Wochenendes! Ein Studium des Spielplanes ergibt leider keine lohnenswerten weiteren Ausflüge. Zwar besteht die Gelegenheit, sich nach langer Zeit mal wieder ein Konzert von QNTAL zu Gemüte zu führen, jedoch hieße das, im Schauspielhaus zu verbleiben und wer kennt es nicht: Am dritten Festivalabend zeigen sich nach arbeitsreicher Woche und längerem Sitzen in den bequemen Sesseln der Örtlichkeit erste Anzeichen von Erschöpfung, so dass ich befürchte, aus Müdigkeit noch vor Beginn des Konzertes oder spätestens während der ersten Titel mit den altbekannten Melodien wegzudösen. So entscheide ich mich, noch für ein kleines Weilchen die Glieder auf der leider enorm kleinen, zweiten Tanzfläche im Kätz Club bei den Apocalyptic Cocktails von DJ Roth zu lockern - insoweit an dieser Stelle Lob für die feine Musikauswahl - und lieber etwas zeitiger den Heimweg anzutreten, um die restlichen beiden Tage wieder etwas fitter angehen zu können.
Diese Entscheidung macht sich bezahlt und so stehe ich am Sonntag wachen Geistes im Felsenkeller, um endlich PERCHTA als Liveact in Augenschein zu nehmen, denn aufgrund einer fiesen Erkältung musste ich leider auf das letztjährige "Dark Easter Metal Meeting" verzichten. Und welch fulminanter Einstieg in den Festivaltag, meine Herren! Zwar ist es schwierig, wegen der beinahe dauerhaften Vernebelung, etwas auf der Bühne zu erkennen, zumal die Sängerin komplett in schwarz verhüllt ist und Handflächen, Finger, Hals sowie ein Teil des Gesichtes ebenfalls geschwärzt sind - sogar vollkommen schwarze Kontaktlinsen scheinen eingesetzt worden zu sein. Doch hier und da reißt der Nebel kurz auf und gibt den Blick frei, um eben diese Beschreibung zu ermöglichen. Sowohl die energetischen Stücke wie 'Gluat' und mein Favorit 'Åtem', als auch die ruhigen Kurztracks, beispielsweise 'Winta', werden vom Publikum wohlwollend bis begeistert aufgenommen. Nun gut, bei der ersten Zeile des zuletzt erwähnten Titels, welche "Kalt ist's geword'n." lautet, muss ich schon schmunzeln, da mir just in dem Moment in dem von den vielen Menschen erhitzten Felsenkeller ein Schweißtropfen am Rückgrat herunterrinnt. Da wünsche ich mir sehnlich einen kalten Luftzug herbei. Das Stück hilft aber dabei, sich die kalte Brise von den schneebedeckten Bergen einzubilden, was zumindest einen psychischen Kühlungseffekt hat. Als Finale kredenzt die Folk-Black-Metal-Band aus Österreich als Sahnehäubchen noch einen neuen Song als Weltpremiere.
Frohen Sinnes kann ich den Felsenkeller verlassen und, nachdem ich mir meine Metalohren so schön angewärmt habe, suche ich erneut das Heidnische Dorf auf. Dort darf ich mangels Warteschlange direkt eintreten, um THYRFING anzutesten. Der Platz vor der Bühne ist schon recht angefüllt, denn das Konzert ist bereits in vollem Gange. Die Musiker der schwedischen Viking-Metal-Band sind voll bei der Sache. Mich holen sie nicht ganz ab, was aber rein an meinen musikalischen Vorlieben liegt. Den meisten Anwesenden gefällt es offenbar durchaus, spenden sie doch nach jedem Song viel Beifall. SKÁLMÖLD ist im Anschluss musikalisch schon eher nach meinem Geschmack. Ebenfalls als Viking-Metal-Band bezeichnet, klingt sie dennoch komplett anders als THYRFING, da dem Zuhörer nicht die ganze Zeit "auf die Zwölf geschlagen" wird. Die Isländer sind viel entspannter bei der Sache und man kann die abwechslungsreichen Tracks richtig genießen. Außerdem haben sie sichtlich Spaß auf der Bühne und legen einen unterhaltsamen Auftritt hin, was sich zum Beispiel in sehr sympathischen Grimassen äußert. Für mich persönlich eine schöne Neuentdeckung. Doch schon wird es langsam Zeit, mich im Schauspielhaus einzufinden, da ich befürchte, später keinen Einlass und Platz mehr zu bekommen. Die Befürchtung bestätigt sich wider Erwarten nicht, auch dieses Mal kann ich ohne anzustehen hineingehen. Mir die letzten Nummern von PAHL anzusehen, spar ich mir, als ich sehe, dass Leute in mehreren Gruppen den Saal verlassen, und ich von einem Freund regelrecht vorgewarnt werde. Die Enttäuschung der mir Entgegenkommenden wird durch deren entnervte Schilderungen offenkund. Es fallen Worte wie "reine Selbstdarstellung" und "zu aufgesetzt".
So nutze ich die Zeit zum Gedankenaustausch mit Freunden und habe eine sehr nette Begegnung an der Bar mit der besseren Hälfte von Matt Howden, dem Mann hinter SIEBEN. Lange können wir jedoch leider nicht miteinander plauschen, denn ich bemerke, wie sich der Saal zu füllen beginnt. Also such ich mir einen glücklicherweise noch vakanten Einzelplatz in der ersten Reihe. Während des Soundchecks entdecke ich auf Anhieb mehrere bekannte Gesichter in der Menge, auf allen spiegelt sich Vorfreude wider. Kurzzeitig wird es ruhig, doch dann betritt Matt Howden die passend ausgeleuchtete Bühne und unterhält, bewaffnet mit seiner anthropomorphisierten, sprich personifizierten Kevlar-Violine, einem Blecheimer, den Loop Pedals, seinem unverwechselbaren Humor und ein paar der schönsten Songs aus seiner Diskografie, die Festivalbesucher. Dabei springt das Huppedietl lebhaft von hinten nach vorn, von rechts nach links und umgekehrt, so dass ich eine feine Fotostrecke zwar teils unscharfer, doch teils auch belustigender Fotos mein Eigen nennen darf. Klassiker wie 'Loki' und 'Sleep, Clara Bow' verzaubern die Zuhörerschaft, flottere Titel wie 'Peterson's Seat' kommen ebenfalls zum Tragen und stoßen das Bein zum Mitwippen an. Dafür gibt es zum Lohne frenetischen Applaus, von Einigen im Stehen dargebracht.
ROSA CRUX betritt danach gut gelaunt die Bühne, was ich aus der kurzen Ansprache des Gitarristen Olivier Tarabo schließe, in welcher er unter anderem darlegt, dass er Alpträume in seiner Musik verarbeitet. Mit im Gepäck hat das französische, sich einer Genrezuordnung entziehende Projekt natürlich auch seine in der Szene allseits berühmten, einzigartigen Herausstellungsmerkmale - das gigantische von Claude Feeny gespielte Carillon, ein Kirchturmglockenspiel, sowie der ebenso viel Platz einnehmende BAM, ein mechanischer Schlagzeuger, wobei es wirkt, als würden die Drums von den dahinter stehenden Skeletten bespielt. Ich frage mich jedes Mal, wie die beiden Gründungsmitglieder diese beeindruckenden Bandbestandteile von Ort zu Ort transportieren, ohne dass sich irgendetwas verstellt oder beschädigt wird. Doch auch die Dudelsackspielerin Camille Cauvin kommt bei einigen Tracks zum Einsatz und die riesige ROSA CRUX-Flagge wird geschwenkt, wobei sie dankenswerterweise einen erfrischenden Luftzug erzeugt, der dem in den vorderen Reihen sitzenden Publikum zu Gute kommt. Im Verlauf des Konzertes bekomme ich den Eindruck, der Sänger stelle sich bei seinem Auftritt dem Wahnsinn, der die Seele befallen kann, weil er mit voller Inbrunst die lateinischen Liturgien und Formeln ausstößt. Ich freue mich enorm über die vielen dargebotenen Stücke vom "Proficere"-Album. Der Sound und die Lichteinstellungen im Schauspielhaus sind wie immer superb, so dass die dargebrachte Musik ihre krasse, düstere Aura voll entfalten kann. Mit dem berüchtigten "Danse De La Terre", bei dem sich zwei besandete Frauen mantraartig in immer gleicher Abfolge zum Lied 'Eli-Elo' bewegen und dabei mit dem Sand beziehungsweise sandiger Erde einen feinen nach Ton oder Rost riechenden Staub aufwirbeln, entlässt uns die außergewöhnliche Band aus ihrem Ritual und in die Nacht und erntet tosenden Beifall. Ein weiterer Höhepunkt des diesjährigen WGT-Wochenendes!
Dieses Mal verzichte ich auf einen Tanz als Nachtisch, da es mit steigendem Alter erfahrungsgemäß am letzten Tag mitunter schwer wird, ausreichend Energie und Motivation zu finden. So breche ich am Montag auch recht spät zum Volkspalast nach Leipzig auf, und erwische gerade noch den Schlussapplaus des als ruhigen Einstieg gewählten Konzertes von ANTLERS MULM. Demzufolge ist APOPTOSE mein erstes Konzert des Tages. Zu Beginn bietet mir das seit der Jahrtausendwende existierende, deutsche Dark-Ambient-Projekt, nicht zu verwechseln mit der Schweizer Metalband gleichen Namens, den ruhigen, angenehmen Start, den ich mir für den Abend wünsche, doch spätestens als der vorangekündigte Fanfarenzug die Bühne der Kuppelhalle entert, ist es mit dem Seelenbalsam in auditiver und visueller Form vorbei. Da ich mittlerweile auch innerlich wieder "angekommen" bin, reagiere ich darauf genauso begeistert wie die anderen Konzertbesucher. Urplötzlich wird durch die Zusammenwirkung von Band und dem Fanfarenzug, die netterweise mehr als einen Song währt, die Stimmung in der Halle auf ein höheres Level gehoben. Zugleich ist damit die perfekte Überleitung zu der britischen Industrial-Ausnahmeformation TEST DEPT. geschaffen, die 1981 gegründet wurde und sich mit walisischen Minenarbeitern solidarisierte. Ihre treibenden Percussions erzeugen die Gründungsmitglieder Graham Cunnington und Paul Jamrozy charakteristisch für das Projekt durch Einsatz von Gegenständen, die sie auf Schrottplätzen oder anderswo finden. Die Energie, die sie damit erzeugen, überträgt sich prompt auf die voll gefüllte Halle. Ein sehens- und hörenswertes Ereignis, das ich erfreut als dritten Höhepunkt des Festivals zur Kenntnis nehme.
Wie ich es schon ahne, hat THE MISSION den eigenen Auftritt schon beendet, als ich am Agra-Gelände eintreffe, ich gebe jedoch zu, es war auch ein sportlicher Plan, es noch zu den letzten Songs der Band zu schaffen, hat die Band ihr Konzert doch schon ein halbe Stunde nach TEST DEPT. begonnen. Dafür werfe ich noch einen Blick auf die Agra-Abschlussparty, doch kann ich mich nach TEST DEPT. nicht auf die dortige zwar elektronische, jedoch plastischer klingende Playlist einlassen. So beschließe ich, dass die Briten bereits einen würdigen Schlusspunkt bilden. Auf der Heimfahrt und noch mindestens die halbe Nacht lasse ich das Festival in meinem Kopf Revue passieren, während ich meiner eigenen zusammengestellten, passenden Playlist lausche. Zuallererst bin ich dankbar, dass das Wetter so super mitgespielt hat. Das ganze Wochenende ist es trocken geblieben und die Temperaturen sind weder zu hoch gestiegen, noch zu stark abgefallen. Im Überblick haben die Veranstalter wieder eine Vielfalt des schwarzen Spektrums präsentiert und zum 30-jährigen Jubiläum gleich mehrere Szenegrößen wie die zuvor erwähnten Bands QNTAL, TEST DEPT. und THE MISSION als auch FRONT 242, FRONTLINE ASSEMBLY, FAUN, DEINE LAKAIEN, GOETHES ERBEN, LEÆTHER STRIP, CAT RAPES DOG, THE MARCH VIOLETS sowie im Metalbereich ROTTING CHRIST, welche ich erst im August letzten Jahres beim "Midgardsblot" erleben durfte, und LORD OF THE LOST geladen. Manches davon hätte mir ebenfalls gut in den Kram gepasst, aufgrund von Überschneidungen und dem nicht zu unterschätzenden Zeitaufwand für den Wechsel von Locations, muss man insofern aber nun mal jedes Jahr ein paar Abstriche machen. Somit gratuliere ich den Veranstaltern einfach zum gelungenen Jubiläum.
Erlaubt mir noch eine kurze Anmerkung zu meiner Herangehensweise: Nachdem ich mich 1992/93 außer Landes aufhielt, konnte ich den Anfängen des WGT nicht beiwohnen, doch seit 1994 bin ich mit am Start, abgesehen von einer Unterbrechung aus familiären Gründen. Aufgrund dessen wage ich es auch, mich als WGT-Urgestein zu bezeichnen. Somit liegt mein Fokus denn auch weniger auf den Beauty-/Fetisch- und Konsumelementen des Festivals, weshalb diese Bereiche weder in Wort, noch in Bild Aufmerksamkeit erfahren. Stattdessen konzentriere ich mich auf den Kern des Festivals in Form von Musik und den Austausch mit Gleichgesinnten. In der Tat verhalte und bewege ich mich heutzutage noch genauso durch das WGT-Universum wie anno dazumal. Bevor ich in einen Festivaltag starte, habe ich einen fein säuberlich ausgearbeiteten individuellen Plan von allen "Must see"-Veranstaltungen mit Alternativmöglichkeiten, falls ich doch einmal keinen Einlass finden sollte. Dabei sollte man natürlich auch Pausen zur Erfüllung menschlicher Bedürfnisse berücksichtigen. Gespräche mit Freunden und für neue Bekanntschaften ergeben sich allerorten von ganz alleine. Im Übrigen heißt es aufgeschlossenen Geistes das Ambiente zu genießen, Auswahl für jeden Geschmack gibt es jedenfalls zur Genüge. Bleibt zu hoffen, dass sich Leipzig auch weiterhin alljährlich in traditioneller Manier zu Pfingsten schwarz einfärben wird, damit es auch ein 40. und 50. Jubiläum geben kann. Die Daumen sind gedrückt!
- Redakteur:
- Susanne Schaarschmidt