Zillo-Festival - St. Goarshausen
23.07.2004 | 06:4616.07.2004, Loreley Freilichtbühne
Wenn das die Loreley wüsste! Über ihrem Haupte lässt es die deutsche Waver-und-Goten-Szene in diesem Jahre krachen. Loreley? Was'n das? So heißt ein 132 Meter hoher Schieferfelsen am Rhein südlich von Koblenz. Dort soll auch eine Sagengestalt wohnen, die schöne Loreley eben, die ständig ihre langen blonden Haare kämmt, dabei trällert und die Schiffer von ihrem Weg abbringt. Bis auf ihren goldenen Kopfbewuchs hätte die Jungfrau wohl auch aufs Zillo-Festival gepasst - die Fans der schwarzen Szene fahren sich mindestens genauso oft durchs Haar, leichten Gesängen und ästhetischen Formen sind sie ebenso zugeneigt. Doch egal wie, das Zillo feiert seinen zehnten Geburtstag und findet zum ersten Mal rund um die Freilichtbühne auf dem berühmten Felsgestein statt. Letztes Jahr ist das dunkle Open-Air ausgefallen, die Veranstalter vom Zillo-Magazin fanden kein passendes Gelände. Nun haben sie einen Mietvertrag für drei Jahre - noch zwei Jahre muss die Loreley also die schwarzen Jünger und Jüngerinnen ertragen. Dürfte ihr aber nicht so schwer fallen, oder?!
(Henri Kramer)
Die paar Tonnen Grufties sollte das massive Gestein auf jeden Fall aushalten können. Es sind ja auch nur drei Tage, an denen der steil aufragende Felsen über der beschaulichen Gemeinde St. Goarshausen dem schwarzen Ansturm erliegt. Außerdem wissen sich gereifte Parkplatz-Wärterinnen zu wehren: "Wolle 'se zum Konzert? Da gehts doart links nunter. Hier is nix mehr frey!!!", krächzt sie. Solch süßlich rheinischer Dialekt kann einen Sachsen in den Wahnsinn treiben! Da ist es doch umso schöner, wenn man auf dem Festival-Gelände erst einmal die heimischen Freunde vom Wave-Gotik-Treffen-Met-Stand trifft. Mit 2,50 Euro bietet der mundige Honigwein neben Wärme und alberner Heiterkeit außerdem das beste Preis-Leistungs-Verhältnis. Denn 0,3 Liter Krombacher Bier kosten genauso viel! Also, zehn Euro rüberwachsen lassen und den ganzen Abend soviel Met trinken wie man will... Als dann auch noch das erste Gewitter mit Donnerschlägen hereinbricht, wie sie nur von Thors Hammer herrühren können, ist man heilfroh über das heiße Gesöff. Da ist die Verlockung groß, mal wieder alle Schluckgrenzen zu sprengen. Blöd nur, wenn dann der männliche Teil der Redaktion am nächsten morgen die Parkplatzwiese am seichten Hang voll kotzt. Immer und immer wieder... So schlimm ist das Zillo doch gar nicht. Oder wie denkt ein gestandener Metaller darüber? War es denn wirklich zum Kotzen?
(Wiebke Rost)
Die musikalischen Sprengkräfte einer Metal-Atombombe der Marke NAPALM DEATH werden auf dem Zillo sicher nicht freigesetzt. Dafür spielen zum Beispiel LONDON AFTER MIDNIGHT am Samstag kurz nach dem Ankommen. Trotz ihres Namens zeigen die Briten recht eindrucksvoll, dass sie noch lange nicht hinterm Mitternachtsmond leben. Sänger Sean Brennan ist schon einmal der Hingucker überhaupt: Der Typ ist dünner als ich, trägt eine enge Lederhose, rot-schwarz gefärbte Haare, ein Netzhemd und auch gegen 19 Uhr noch die notorische Sonnenbrille. Außerdem hat der gute Mensch heute Geburtstag. "Where is my birthday present?" fragt Brennan und hält eine Wasserflasche in der Hand. Okay, wenn schon niemand ein richtiges Geschenk hat, dann macht Sean den Fans wenigstens ein Präsent: Sie bekommen etwas akustischen Seelenschmerz in Form des neuen Songs "The Pain Looks Good On You". Und dann kommt auch schon der Führer...
(Henri Kramer)
"Sieg Heil" dröhnt es aus den exzellent getunten Boxen. Eine historische Stimme, zu der man sich ein braun-weißes Bildchen ausmalen könnte, faselt irgendwas von einem "Volk", einer "Nation" und einem "Führer". Schwerer Stoff, mit dem LONDON AFTER MIDNIGHT hier hantieren. Für den Gitarristen ein Grund, sich fast in die Hose zu machen, so ver-x-t wie seine Beine minutenlang in Kniebeuge verharren, während er leidenschaftlich in die Saiten haut. Dagegen steht Seans Coolness und seine ebenfalls wohl prall gefüllte Blase, die dem dürren Sänger ein Bäuchlein verleiht, das sich über die tief sitzende Lederhose hinaus wölbt. Seine unverkennbare Stimme sorgt gemeinsam mit den melancholischen Melodien und gemäßigtem Spieltempo für eine wunderschöne Atmosphäre am noch hellichten Tage. Die Konzertmitte ist den Stücken vom neuen Album gewidmet. Sean nuschelt den Titel ins Mikro: "All The Children Are Dead" oder so ähnlich soll es heißen. Die Zillo-Kinder beweisen aber, dass sie noch nicht tot sind. Die frischen Songs klingen ein ganzes Stück aggressiver und straighter als die letzten LAM-Veröffentlichungen. "Wanna see you moving, you motherfuckers! Come on!" Mit ihrem Hit 'Kiss' bringen LONDON AFTER MIDNIGHT sogar ein auf Form und Frisur bedachtes Gotenpublikum zum Tanzen. Aber, dass sie tanzen können, durfte ja heute schon eine andere gefeierte Band am frühen Tage zufrieden feststellen...
(Wiebke Rost)
Fürwahr, DAS ICH scheinen nicht nur für sich da zu sein. Deren Keyboarder klingt nach dem Gig sichtlich zufrieden: "Wir hatten das größte Publikum hier und alle sind abgegangen." Selbst das von ihm geschilderte Problem eines abgebrochenen Keyboard-Fußes löste sich fix: "Wir haben das Ding zehn Minuten vor der Show wieder angeschweißt. Der Zillo-Veranstalter ist ein kleiner Bastler."
Fast wünscht man den Musikern von BLUTENGEL auch ein bisschen Fingerfertigkeit und Geschick. Doch nichts gibt?s - außer einem tonnenschweren Bottich Schmalz. Die "Marianne und Michael"-Gedächtnistruppe der Gothic-Szene kommt auf die Bühne, ein paar Batcave-Grufts zeigen schon mit Fingern auf die Band und lachen. Ein Hirn-Lichtlein geht in dieser schwarzen Umgebung an: Auch bei den Goten gibt es einen Unterschied zwischen "true" und "poserig". Chris Pohl und seine Freundin gehören mit BLUTENGEL eindeutig zu den Laffos der Szene, sind also die KORN oder RHAPSODY der Grufties. Will heißen: Musikalisch dünn, dafür dicke gehypt und super ausgestattet. Chris Pohl trägt einen schnieken schwarzen Anzug, die Sonnenbrille ist eh obligatorisch. Seine Freundin Constance Rudert trägt ebenfalls edlen Fummel.
(Henri Kramer)
Ihr weißes Hochzeitskleid weht im immer heftiger werdenden Wind. Dunkle Wolken brauen sich binnen Minuten über der Freilichtbühne zusammen, wilde Blitze und lautes Donnern verkünden das nahende Unheil. Erste Tropfen platschen auf kunstvoll hergerichtete Frisuren und drohen die Schminke wegzuspülen.
(Wiebke Rost)
Nun zeigen sich die echten Die-Hard-BLUTENGEL-Lunatics. Es sind nur noch wenige Fans und Faninnen da, die sich im Regen ihre ansehnlichen Körper verbiegen. Ein metgeschwängerter Redakteur rennt todesmutig nach vorn...
(Henri Kramer)
...hängt sich über die Absperrung und mosht! Das hat?s wohl noch nie gegeben: ein Metaller mit Matte und Kutte, der zu BLUTENGEL mosht. Aber was bleibt denn auch anderes übrig? Der Platzregen hat sich in seiner Nässe sowieso schon bis auf die Knochen vorgearbeitet. Begossen wie der sprichwörtliche Pudel muss man sich diesen Mist angucken, weil es jetzt eh keinen Sinn mehr macht, die Autositze einzuweichen - dann doch lieber die Birne. Außerdem ist es ein Genuss zuzusehen, wie Dutzende wehender Gewänder, darunter weit ausladende Gardinenröcke in Weiß und unübersichtlich übereinander geschichtete Spitzendeckchen in Schwarz Wind und Wasser zum Opfer fallen, kunstvolle Gesichtsgemälde dahinfließen und die schwarz geschminkten Seelen wirklich traurig aussehen. Haarscharf erkennt Chris Pohl: "Ihr werdet ja ganz nass!" Gott, wirf Hirn! Unbeirrt ziehen die menstruierenden Flugobjekte ihre Show durch: Zwei halbnackte Tänzerinnen besudeln sich mit Blut und machen Bandscheiben-Gymnastik. Constance reizt ihren singenden Freund mit nackten Füschen und rot lackierten Zehennägeln, die in schnuckeligen Pandulettchen stecken. Zum Reinbeißen und wieder... (Hintergrundinfo: Chris ist Fußfetischist - Anm. von H.K.) Na, das Thema Rückfrühstücken ist ja schon gegessen. Statt Platz- gibt es nun Glitzer-Regen. Nach einer geplanten Zugabe beenden BLUTENGEL 21:05 Uhr ihren Auftritt. Und auch der Himmel fühlt sich erlöst; hinter den Rhein-Bergen wandert eine glühende Sonne in den Untergang.
(Wiebke Rost)
Untergang? Ja, das passt. Am schlimmsten fäkalt die akustische Umweltverschmutzung während der Zugabe: "I want to diiiiieeee with yoooouuuu!" Leider erbarmt sich kein Blitz... Wie grenzenlos das Verständnis für offensichtlichen Müll in dieser Szene gehen kann, zeigt ein namenloser Gothic und seine Einschätzung: "Naja, ich kenne BLUTENGEL nicht so gut." Einmal heißen Met, bitte...!
Inzwischen sind ALIEN SEX FIEND startklar. Die Batcave-Stars haben überall auf der Bühne Spinnennetze aufgehängt, um schon einmal die Augen aller Zuschauer einzufangen. Es gelingt, der Platz füllt sich schnell. Die Musik klingt nach einer Art minimalistischem Wave, die Massen vor der Bühne tanzen. In den vorderen Reihen beweisen ein paar Fans ihren Humor und schwenken eine riesige aufblasbare Chiquita-Banane. Die Jungs auf der Bühne lassen sich nicht aus der Ruhe bringen. Bei ihrem Aussehen ist das kein Wunder: Dicke Schminke, wild toupierte Haare, zerrupfte Sachen, die dennoch irgendwo ästhetisch wirken. ALIEN SEX FIEND prägten die englische Gothic-Szene in die 80ern wesentlich mit, ihre exzentrische Art haben sie bis heute gerettet. Das beweist vor allem Sänger Nik Wade, der anfangs einen Zylinder trägt und während der Show öfters einmal auf der Bühne Purzelbäume schlägt. Rotes Licht lässt das Szenario unwirklich werden, zusammen mit der fast schon psychedelischen Musik entsteht eine ganz seltsame Stimmung...
(Henri Kramer)
Far away from outer space müssen die kommen! Nik sieht schon lange nicht mehr wie ein Mensch aus. Das kreideweiße Männchen mit dem kahlen ovalen Kopf und schwarzen Augenhöhlen wirkt wie ein Hybrid aus Edward Munchs "Der Schrei" und E.T.. Mrs. Fiend trägt die Jason-Horror-Maske aus "Freitag der 13te" und ein dreckiges Lumpenkleid. Bizarr ist gar kein Ausdruck für das eigenwillige Paar "Fiend". Sie zaubern eine Atmosphäre wie in Tim Burtons "Nightmare Before Christmas". Überall auf der Bühne liegen kaputte Puppen herum, die öfters mal herumgeschmissen und getreten werden. Die kranke Welt der Fiends findet sich wieder in verzerrten Melodien, manischen Keyboard-Orgien und aggressiven Gitarren. Zu ihrem ersten Livegig seit fünf Jahren wollen ALIEN SEX FIEND nicht "noodeln". Daher hat heute Slice an der Gitarre seinen Einstand und gibt alten wie neuen Songs vom aktuellen Album "Information Overload" ordentlich Pfeffer. 'I Walk The Line' über die Loreley dröhnen zu hören und dazu zu tanzen ist einfach großartig! Welcher Song beschreibt besser das Lebensgefühl der Leute hier beim Zillo? Vielleicht 'Now I'm Feeling Zombified'!? Es gibt nur wenige Künstler, die dermaßen kranke und zugleich geniale Texte zwischen Whiskey-Rausch, Arbeitsalltag, Haschisch-Kasper und Metaphysik kreieren.
Was das brüchige Überlebensgefühl in der heutigen Welt und in endlosen individuellen Realitäten angeht, findet auch die nächste Band seit Beginn der 80er Jahre immer wieder neue Ausdrucksformen. Sie sind nicht nur die Urväter des Industrial, sondern nach wie vor Vorreiter auf dem Gebiet der elektronischen Musik der Zukunft. 'I'mmortal' heißt ihr erster Song an diesem Abend...
(Wiebke Rost)
SKINNY PUPPY betreten die Bühne. Warmer Nachtwind bläst sanft. Umso brachialer starten die Kanadier, ihr Gitarrist hat sogar eine doppelläufige Klampfe am Start. Das Publikum tanzt zunächst verhalten zu industrialisierten Gassenhauern wie 'Pro-Test' vom aktuellen Album "The Greater Wrong Of The Right". Auf der Bühne toben die Musiker, der morbid anzusehende Sänger geißelt sich während der Show selber. Im Hintergrund laufen auf einer Leinwand Mikroben auf und ab, nicht im Takt, dafür umso neurotischer. Selbst im Metrausch erkennt das wippende Knie: Die lange Fahrt von Leipzig hat sich genau für diesen Augenblick gelohnt. Dancing - über die Asche einer kranken Welt: Dieses Lebensgefühl transportieren SKINNY PUPPY perfekt. Da sich Trent Reznor mit NINE INCH NAILS zur Zeit noch nicht mit einem neuen Album oder einer Tour zuckt, ist das reformierte Duo die wohl zur Zeit filigranste elektronische Baustelle der Welt. Oder?
(Henri Kramer)
Auf jeden Fall sitzt hier jeder Beat, jedes Riff und jeder Effekt am rechten Fleck. Die Show ist perfekt. Dave Ogilvie strahlt und lächelt wie ein kleines naives Kind. Es tut fast weh, ihn so zerbrechlich von oben bis unten mit Blut übergossen zu sehen, den Körper eingewickelt in unzählige Stoffbinden, die an den Armen wie die Enden einer Zwangsjacke herabhängen. Auf dem Kopf trägt er eine Tiermaske, ein riesiger Schnabel verdeckt zunächst das Gesicht, bis er ihn abwirft. Er ist ein Narr, ein Clown, ein Schautier im Käfig, so wie er über die Bühne springt und tanzt und über den Boden rollt. Seine akrobatischen Bewegungen werden gefilmt. Bewegt er sich vorwärts, laufen die Aufnahmen von ihm auf der Leindwand rückwärts - als würde er gegen sich selbst und die Zeit rennen. Das Zillo-Publikum ist so gefesselt von dem Anblick und den Klängen, dass es sich gar nicht mehr getraut richtig abzugehen. Wie angewurzelt verharren einige in der nassen Kälte. Doch es gibt auch welche, die den Schmerz einfach genießen und den musikalischen Strom beim hemmungslosen Ausdruckstanz durch ihre Glieder fahren lassen. Henri schießt natürlich wieder den Vogel ab (nicht Dave Ogilvie) und packt seine Luftgitarre aus. Head-Bangen zu SKINNY PUPPY - so etwas ist dem Zillo wohl noch nicht passiert. Vom Anfang bis zum Schluss hält er das Moshen durch bis die Zugabe, "ein kleines Stückchen Vancouver", gespielt ist.
(Wiebke Rost)
Nach der fantastischen Darbietung von SKINNY PUPPY ist der Körper erst einmal im Rauschzustand zwischen Tanzkoller und Vollsuff. (Zu später Stund im Partyzelt, wo Bruno Krahm von DAS ICH auflegt, geht die Realität entgültig verloren. ? Anm. von W.R.). Erst beim nächsten Früh folgt das böse Erwachen: Zum Frühstück gibt es Honig dreimal anders herum...
(Henri Kramer)
- Redakteur:
- Wiebke Rost