2RAUMWOHNUNG - Es wird Morgen
Mehr über 2Raumwohnung
- Genre:
- Elektropop
- Label:
- BMG
- Release:
- 30.08.2004
- Wolken ziehen vorbei
- Spiel mit mir
- Wir sind die anderen (Frühling 2007)
- Jemand fährt
- Machs einfach
- Oben
- Sasha (Sex Secret)
- Cookies Cream (Hier ist der Sommer)
- Ich denk an...
- Es wird Morgen
- An einem Sonntag
- Zentralmassiv
Tausend grelle Lichter, Betonwände, die den Wolken in die Fahrbahn greifen, Abgründe, die im Nirgendwo enden, Glitzer und Dreck direkt nebenan, und überall dieser unfassbare Lärm. Das ist es, was eine Großstadt ausmacht. Metropolis. Moloch der Neuzeit.
Kaum zu fassen, dass das Leben in dieser Welt der düsteren Extreme auch noch Spaß macht, wenn man mit jedem Atemzug den Dreck einer ganzen Stange Zigaretten einatmet, sich mit tausend anderen Existenzen durch die Blutbahn dieses in die Landschaft gestanzten Superlativs karren lässt oder einfach durch Kopfhörer abgeschottet durch die endlosen Straßen geht.
Vereinsamung, Reizüberflutung, Kurzlebigkeit einer ganzen Daseinsperiode, einer ganzen Charakterentwicklung. Vielfalt, Überangebot, Möglichkeiten ohne Ende, der Kosmos komprimiert auf wenige Quadratkilometer.
Diese Welt aus Gegensätzen, Erfolgsgeschichten und der viel größeren Bandbreite an menschlichen Niederlagen bekommt jetzt ihr eigenes Hörbuch.
Das Zwiegespräch mit Inga Humpe beginnt recht ruhig. Man macht es sich bequem, während Gitarren die Hintergrundkulisse aufbauen und die Sängerin der Berliner Combo 2RAUMWOHUNG dich schon mal auf die folgende Stunde einstimmt.
"Ich will stehen, doch das ist unmöglich… der Himmel über mir… magnetisiert mich… du willst liegen, doch du bist zu leicht, du kannst fliegen… vielleicht."
Schnell wird klar, was die Dame eigentlich vorhat: die Aufhebung jeglicher standartisierter Gedankengände und Reaktionen. So fühlst du dich nach etwa einer Minute ausgeliefert, das leise Geplänkel im Hintergrund, das inzwischen von Tommi Eckart zusammengeschraubt wurde, lässt dich ebenso wenig los wie die weiche Stimme der Sängerin bzw. Sprecherin. Das neue Album "Es wird Morgen" gestaltet sich ja nicht so fesselnd, dass man seinen Finger nicht mehr auf den Stop-Knopf des Plattenspielers legen könnte. Die Wirkung manifestiert sich vollkommen anders: Man WILL es nicht mehr.
So sieht man sich auf freiwillige Art und Weise der sehr subtilen, aber durch steten Rhythmus immer mitreißenden Mischung aus Elektroeffekten und simplen Instrumentalparts in der Musik von 2RAUMWOHNUNG ausgeliefert, und darf sich von der weichen und faszinierend eindringlichen Stimme von Inga Humpe die Welt erklären lassen.
"Ich schneide Grimassen, und mir wird heiß, du wirst vor Freude im Gesicht ganz weiß… dann wirst du rot, und möchtest lieber gehen… doch ich hab das kleine Zeichen… in deinen Augen gesehen." Entschuldigung, störe ich? Die Dramatik dieser Platte entwickelt sich zwischen Musik und dem Text auf ganz natürlich Art und Weise. Arrangements? Gibt es nicht, wozu auch? Das verstörende Wechselspiel zwischen Rhythmus, tiefem Ambiente und Gesang ist so intensiv, dass man peinlich berührt nach unten schaut, wenn sich die Blicke zufälligerweise treffen.
Dann dieser Song, der ungemein frei macht… 'Wir sind die anderen (Frühling 2007)', wie war das?
"Wir sagen nicht mehr 'ich', denn 'ich' ist gar nicht wahr… wir sagen nur noch 'wir', unsere Grenzen sind klar."
Der pumpende Beat treibt den Text vor sich her, bevor man ihn wirklich fassen kann, und man sieht der Erkenntnis hinterher, dass dieses Album ein verdammt hartes Stück nicht geleisteter Denkarbeit verlangt, um anschließend nicht verrückt zu werden.
Die weitere Reise durch die Zweiraumwohnung beschränkt sich nicht auf die vier Wände und die kleine Tür, den Tisch, an dem du Platz genommen hast, und jene blonden Frau, die die ganze Zeit mit dir spricht, aber nicht wirklich den Mund aufzumachen scheint.
"Langsam geh ich durch die Räume, ich geh durch meine dunklen Träume,… ich bin bereit… und trinke tropfenweise Zeit."
Tatsache, das Album ist verstörender und kälter als ein Kubrick, und gleichzeitig so anschmiegsam und warm wie ein Mickey-Mouse-Comic. Das Prinzip ist so einfach wie kompliziert zugleich. Simpelste Soundstrukturen weben ein Netz aus Klang, auf welchem der Gesang umhertanzt, dass man sich die Ohren beim Zuschauen verdreht. Dabei verschafft kein einziger Song irgendwelche Entspannung; obwohl es so ruhig zugeht und man sich in diesem dunklen Raum durch die Welt bewegt, bekommt man tags darauf den Muskelkater eines Marathonlaufs.
"Du siehst so gut aus, zu schön für den Verstand… und ich weiß gar nicht, bist du Frau oder Mann."
Genug des Subtilen, jetzt wird es knallhart. "Es wird Morgen" nähert sich einem Terrain, welches sich unumwunden und direkt mit der Oberfläche der von Medien durchtränkten Metropolis beschäftigt, und fragt zu Recht am Ende "Welches Secret?".
Mit 'Ich denk an …' wird ein Liebeslied serviert, bei dem man erst ausdiskutieren muss, ob es jetzt traurig oder glücklich ist und das sehr gewunden das immer wiederkehrende Klischee der Verliebtheit aufrollt. Die sehr melodisch geratene Musik unterstützt diese rosarote Stimmung, ohne zu übersehen, dass hier gnadenlos überzeichnet wird.
"Ich bin bei dir, du bist mir nah… ich wünsch mir nur, du wärest da."
Der Titeltrack 'Es wird Morgen…' gehört wohl zu der Kategorie Songs, die Frauen Anfang der 20er als Lebenslied feiern würden, da es so schön verspielt um das Abschließen eines Lebenskapitels, sprich: eines Manns, geht und die Zeit danach.
"Sie weiß nicht mehr, wo er gerade ist, heute meldet ihn ihr Herz noch als vermisst… morgen gründet sie einen Verein, der heißt: nie mehr allein… oder so ähnlich..."
Schön zu hören, dass das hier gehörig auf die Schippe genommen wird, ist der erste Gedanke, der zweite: Recht hat die Frau. Was passiert hier bloß?
"Das ist die Reise durch's Zentralmassiv, immer viel zu hoch, immer viel zu tief… auf deiner Reise durch's Zentralmassiv… was du wirklich kennst, ist dir plötzlich fremd."
Das 'Zentralmassiv' stellt das Ende der Seance dar. Dieser Bastard aus New York, Rio De Janeiro, Tokyo, Berlin und Oldenburg am Arsch der Welt schrumpft langsam wieder auf vier Wände zurück, und irgendwo sieht man einen eigenen Gedanken empört an den Deckel der Kiste hämmern, um freigelassen zu werden. Andererseits lässt sich dieser Track als Mikroversion des ganzen Albums einstufen: verstörend, betörend, eiskalt und warm zugleich.
Mit den letzten Tönen verschwindet das Bild der blonden Frau nicht, sie starrt dich weiterhin auf diese unangenehme, aber sympathische Art und Weise an. Irgendwann wird es einem zu bunt, man schnappt sich den Koffer mit den sechs Millionen vom letzten Überfall auf eine Pommesbude und stürmt aus dem Raum, um sich erst einmal eine beruhigende Dosis Hauptbahnhof zu verpassen.
Das beste Album des Jahres.
Anspieltipps: Da man die Scheibe nach dem ersten Hören eh nicht wieder aus dem Player bekommt, kann man sich gleich alles reinziehen. Ihr werdet es nicht bereuen.
- Redakteur:
- Michael Kulueke