BILLY BRAGG & WILCO - Mermaid Avenue Vol. II
Mehr über Billy Bragg & Wilco
- Genre:
- Folk / Rock / Alternative
- ∅-Note:
- 9.50
- Label:
- Elektra
- Release:
- 30.05.2000
- Airline To Heaven
- My Flying Saucer
- Feed Of Man
- Hot Rod Hotel
- I Was Born
- Secret Of The Sea
- Stetson Kennedy
- Remember The Mountain Bed
- Blood Of The Lamb
- Aginst Th´Law
- All You Fascists
- Joe Dimaggio Done It Again
- Meanest Man
- Black Wind Blowing
- Someday Some Morning Sometime
Low pay daddy's high price blues!<br />
Als erster Alternative-Musiker wird WOODY GUTHRIE von Herrn Bragg im Booklet zu "Mermaid Avenue Vol. II" bezeichnet. Quasi als reisender musikalischer Reporter hatte der Songwriter als lebendes Folkmusikarchiv und sammelnder Durchlauferhitzer der vielfältigen Kulturtraditionen im Vielvölkergemisch städtischer Schmelztiegel und ländlicher Nackenrotbrennfelder seine weitläufige Heimat der USA durchquert. In der engeren Heimat Coney Islands, genauer gesagt in der Mermaid Avenue, brachte er dann die Songs zu Papier.
Sein Leben zuvor war bewegt gewesen: Aus schwierigen Verhältnissen kommend war Guthrie im frühen Erwachsenenalter als singender Hobo und Gelegenheitsarbeiter unterwegs, machte Promotion für Präsident Roosevelts Staudammprojekte im Rahmen des New Deals, ging mit Mitte zwanzig an der Westküste täglich im Radio auf Sendung, kam Ende der Dreißiger nach New York, nahm Anfang der Vierziger diverse Folk-, Arbeiter- und Antinazi-Songs auf, arbeitete unter anderem mit dem Musikforscher Alan Lomax, dem Grassroots-Musiker PETE SEEGER und der Blueslegende LEAD BELLY zusammen, schrieb neben zahlreichen alltäglichen Folksongs auch politische Protestsongs, die der Arbeiterbewegung nahestanden, und scheute sich nicht, auch Artikel in kommunistischen Blättern zu veröffentlichen. Sich selbst sah er als sozialistischen Patrioten, in einer Zeit, in der Sozialismus vielen Leuten anderes und jedenfalls mehr bedeutete als staatlich verordnete Mangelwirtschaft, Unfreiheit, Schießbefehle und ein wohlfeiles Feindbild zur Bestätigung der eigenen Gesellschaftsordnung: Eine Utopie, die zu gelebter Solidarität anregen konnte.
Im Weltkrieg diente er der damals der Kriegsmarine als militärische Hilfsflotte beigeordneten Handelsmarine, wurde jedoch 1945 von der Armee eingezogen, da er als - obschon stets parteiloser - Linker mit Verbindungen zu Kommunisten als für den Marinedienst politisch untragbar galt. Ende der Vierziger, Anfang der Fünfziger begann Guthrie an der von seiner Mutter geerbten Krankheit Chorea Huntington zu leiden, bis zu seiner Hospitalisierung schrieb er unzählige Songs und Gedichte, von denen eine kleine Auswahl auf den von Grant Showbiz und den beteiligten Musikern co-produzierten Alben "Mermaid Avenue" (1998) und "Mermaid Avenue Vol. II" (2000) in Zusammenarbeit des britischen Liedermachers BILLY BRAGG mit der amerikanischen Alternative Rockband WILCO vertont wurde.
Bragg vereint in seinem Songwriting Einflüsse aus Punk, Folk und Rock, die thematische Bandbreite reicht von Lovesongs bis hin zu politischen Protestsongs. Die US-Band WILCO entwickelte ihren eigenen Stil aus Country, Rock und anderen, folkigen bis experimentellen Tönen. Die Initiative für das gemeinsame Projekt geht auf Woodys Tochter Nora Guthrie zurück, die Bragg bereits 1995 darauf ansprach, ob er nicht einige unvertont gebliebene Texte ihres Vaters der jüngeren Generation nahe bringen wolle. Um die fremden Werke vom eigenen Repertoire abzuheben, suchte Bragg sich für das Projekt die Unterstützung einer anderen als seiner Stammband und wurde in WILCO fündig. Mit seinem behutsam modernisierten Retro-Sound ist ihr gemeinsames Baby "Mermaid Avenue Vol. II" nicht nur eine gelungene Hommage an WOODY GUTHRIE, sondern auch eines der schönsten Rootsrockalben der jungen '00er-Jahre geworden.
Da gibt es bluesig-folkigen Schrammelrock im Rhythmus vorbeiratternder Eisenbahnwagen ('Airline To Heaven') sowie ein recht ähnlich gelagertes, aber etwas melodielastigeres Stück ('My Flying Saucer'), und auch einen folkig gerockten Blues mit träge schnaufendem Dampflok-Rhythmus, der schön schnoddrig daherkommt und noch etwas abgeranzter als BOB DYLAN damals, als auch er sich auf die Spuren seines Idols WOODY GUTHRIE begab, von Jay Bennett schön mit einer windschief klingenden B3-Orgel vesehen ('Feed Of Man'). In 'Hotrod Hotel' unterlegt er den Walking Rhythm des Stücks mit dezenten Mandolinenzupfern, während Billy Bragg seine warme und leicht belegt klingende Stimme müde, beladen und sehnsüchtig mit dem Schnarren der Gitarren und einem sanften, konstanten, staubigen Wind mitschweben lässt.
Ganz anders, viel reduzierter, und doch ähnlich warm ertönt 'I Was Born' mit der Stimme von NATALIE MERCHANT zu Braggs Akustikgitarre. 'Secret Of The Sea' klingt noch etwas luftiger und vor allem entspannter, aber nicht ganz unähnlich zu SOUL ASYLUMs Balladenhit 'Runaway Train'. Neben seltenem Eskapismus ('My Flying Saucer') und Zwischenmenschlichem (die traumhafte romantische Folkballade 'Remember The Mountain Bed'!) handeln die Texte vom gar nicht einfachen Leben sogenannter einfacher Leute ('Hotrod Hotel') oder der modernen Religion der Gier ('Feed Of Man'), denen Guthrie sein egalitäres Verständnis des Christentums gegenüberstellt (im von WILCO und BILLY BRAGG zurückhaltend groovig mit dezenten mittelamerikanischen Folkanleihen vertonten 'Blood Of The Lamb'), seltener wird er direkt politisch wie im Wahlkampfsong 'Stetson Kennedy' oder im feurigen 'All You Fascists' (in perfekter Vertonung mit zwei E- plus einer Slidegitarre sowie einer die Leitung übernehmenden, demokratisch volksnahen, gehörig Dampf machenden Mundharmonika).
Doch stets bleibt Woody ganz bei seinen eigenen Befindlichkeiten (etwa in seiner Vision von bewussterer Mitmenschlichkeit in 'Secrets Of The Sea') oder denen der "einfachen" Leute, über deren Lebensumstände er singt oder für die er sich sonst einsetzte und mit denen er auch tatsächlich einen Gutteil seiner Lebenszeit zubrachte, wie überliefert wird; jedenfalls sind seine Songs immer der Alltagssprache und -perspektive verhaftet. Denn ein Ideologe war Guthrie nicht, wenn man seinen Texten nach urteilt, in denen er sich eher als ein freiheitsliebender Mensch (man lausche 'Against Th´Law') mit sozialem Gewissen ausweist, der in 'Meanest Man' darüber nachdenkt, was für ein Schurke wohl aus ihm geworden wäre, wenn er nicht so gute Menschen zu seinen Freunden zählen würde. Bei einem Arbeitersänger seiner Zeit gehörte ganz selbstverständlich auch der sportliche Aspekt zu dem, was die Arbeiter in, um und neben der Arbeiterbewegung bewegte. Fiedel, Percussion und Banjo gehören musikalisch dazu, wenn ein Homerun von einem der beliebtesten Baseballspieler der Vierziger besungen wird: 'Joe Dimaggio Done It Again'.
Nach dem ganzen vielfältigen aber bis zur Staubigkeit bodenständigen Gitarrengeschrammel wird es gegen Ende von "Mermaid Avenue Vol. II" noch einmal richtig folkig. 'Black Wind Blowing' klingt sehr traditionell, ist sparsam instrumentiert und stellt wieder Billy Braggs natürliche und auf schlichte Weise schöne Stimme in den Vordergrund. Aber eine traurige Dust Bowl Ballade ist das geworden, über Baumwolle, die so spärlich dünn wächst, dass man nicht mal mehr einen Dollar dafür bekommt. Doch nicht nur Guthrie, auch BILLY BRAGG & WILCO haben Mitleid und lassen das Album mit dem etwas optimistischeren 'Someday Some Morning Sometime' ausklingen. Wer seine Musik lieber gefühlvoll und handgemacht als effektvoll und elektrisch überladen hört, sollte "Mermaid Avenue Vol. II" unbedingt sein Ohr leihen.
Anspieltipps: Feed Of Man, Remember The Mountain Bed, Aginst Th´Law, All You Fascists, Meanest Man, Black Wind Blowing.
- Note:
- 9.50
- Redakteur:
- Eike Schmitz